Produktdetails
  • Verlag: Reclam
  • Deutsch
  • ISBN-13: 9783150094143
  • ISBN-10: 3150094143
  • Artikelnr.: 05989326
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.1996

Gedichte sind Pantoffeltiere
Zur Einführung: Nur die Literaturtheorie hat noch eine Avantgarde

Niemand erwartet heute noch Revolutionäres von Dramen, Gedichten oder Romanen - weder für die Gesellschaft noch für die Kunst. Die literarische Avantgarde, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts langsam die Gesellschaft ändern wollte, ist verschwunden - auch radikale Kunstmanifeste werden kaum noch verfaßt. Schriftsteller und Dichter erledigen statt dessen wieder jene Aufgaben, die ihnen im Laufe der Geschichte zugewachsen sind - von der Unterhaltung über die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses bis hin zur Pflege des gesellschaftskritischen Bewußtseins.

Als mit den politisch-literarischen Ambitionen nach der achtundsechziger Revolte das letzte Strohfeuer literarischer Avantgarde verlöschte, übernahm die Literaturtheorie die Fackel, um in Zukunft unbekannte Terrains zu erkunden. So begann von den Sechzigern bis in die frühen neunziger Jahre eine Renaissance der Literaturtheorie, wie sie zuvor nur die Romantik erlebt hatte. Der von dem Freiburger Literaturprofessor Rolf Günter Renner zusammen mit den Germanisten Dorothee Kimmich und Bernd Stiegler herausgegebene Reclam-Band "Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart" versammelt jetzt zentrale Beiträge zu den wichtigsten literaturtheoretischen Strömungen der letzten dreißig Jahre und versieht sie mit auf die Interessen von Studenten und Lesern, die sich rasch informieren wollen, zugeschliffenen Einleitungen, die kenntnisreich Wissenschaftsgeschichte wie theoretische Ansätze erläutern.

Es ist ein großer, unruhiger Reigen, der dort versammelt ist. Er wird noch brav angeführt von der Hermeneutik, deren wichtigstes Werk in diesem Jahrhundert Hans-Georg Gadamers "Wahrheit und Methode" ist, das 1960 veröffentlicht wurde und den theoretischen Schlußstein zur werkimmanenten Interpretation setzte, die den akademischen Diskurs der fünfziger Jahre beherrschte. Sein meistzitierter Satz ist die schöne, wenn auch dunkle Phrase: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." Das Wort steht für den Interpreten hier im Mittelpunkt des Interesses - auf einem Podest thronend wird es von allen Seiten ehrfürchtig betrachtet und, wenn nötig, abgestaubt.

An seine Seite gesellt sich der zweite, inzwischen ebenso greise Vorläufer gegenwärtiger Literaturtheorien, die marxistische Betrachtungsweise von Georg Lukács, für den Literatur eine feste Aufgabe im dialektischen Hakenschlagen der Geschichte hatte, nämlich "in der Darstellung des Typus . . . das Konkrete und das Gesetzmäßige, das Bleibend-Menschliche und das geschichtlich Bestimmte, das Individuelle und das Gesellschaftlich-Allgemeine" zu vereinen. Beide Ansätze sind heute Museumsstücke. Doch mit diesen beiden ersten Kapiteln haben die Herausgeber ein Bühnenbild aufgezogen, vor dessen Hintergrund sich das wilde Treiben von den Sechzigern bis zu den neunziger Jahren um so besser abhebt.

Die neue Philologengeneration änderte in einer Art kopernikanischen Wende radikal die Perspektive auf den Text. Für Gadamer, Lukács oder auch Adorno noch war das literarische Werk eine letzte Instanz, die aus der Welt herausragte - sei es als klingende Sprache, Spiegel der Gesellschaft oder begrifflich uneinholbares Residuum von Freiheit und Individualität. Dagegen kehren sich die neuen Geisteswissenschaftler um 180 Grad. Sie rauben dem sprachlichen Kunstwerk seine Autonomie und entdecken es als Spielball tiefer liegender säkularer Kräfte. So passiert es, daß sich heute manches Gedicht auf einer Höhe mit Verkehrszeichen, elektrischen Schaltkreisen, schlechten Träumen und Pantoffeltierchen wiederfindet.

Wie macht man das? Literatur wird zu einem Fall unter vielen Fällen global angelegter Theorien. Für die Semiotik, zu deren Hauptvertretern auch Umberto Eco gehört, ist sie eines von vielen Zeichensystemen, die sich in unserer Gesellschaft finden lassen. Der Psychoanalyse ist sie eine Chiffre unartikulierter Wünsche und Erlebnisse, wie es auch ein Monolog auf der Couch sein kann. Die Diskursanalyse Michel Foucaults entdeckt in ihr Muster, die das Denken ganzer Epochen charakterisieren. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns sieht Literatur als bloßen Teil eines sich selbst regulierenden Kunstbetriebs, der prinzipiell nach denselben Gesetzen funktioniert wie Wirtschaft, Politik oder Einzeller. Die sogenannten "Gender Studies" schließlich sehen in der Literatur nur einen weiteren Schauplatz, an dem sich das Geschlechterrollenverhältnis in der Gesellschaft studieren läßt.

So kam es, daß sich das Verständnis von Literatur in den letzten dreißig Jahren drastisch verändert hat, obwohl sich in der Literatur selbst nur wenig Dramatisches ereignete. Das sprachliche Kunstwerk ist auf dem universitären Markt zur beliebten Ware für unterschiedlichste theoretische Positionen geworden - und so nicht zuletzt auch zum Spielball der Politik, wie in den Vereinigten Staaten zu sehen ist. Dort ist der klassische Literaturkanon stark umkämpft - denn ethnische Minderheiten, gesellschaftliche Randgruppen und Frauen sollten darin stärker berücksichtigt werden, wie viele politisch motivierte Philologen fordern.

Diese Umschlagplätze haben die klassische literarische Avantgarde beerbt - die wilden Theorien schreiben die Welt im Wort ständig um, sie verschieben Grenzen, erfinden Neues. In der Dekonstruktion Jacques Derridas findet dieses Treiben sein symbolisches Sinnbild: Da die Bedeutung eines literarischen Werkes nach Derrida nie greifbar ist, können Interpretationen einen wie immer gearteten ursprünglichen Sinn nie einholen - sie müssen ihn im Gegenteil ständig neu schaffen. So kommt es, daß Theoretiker sich immer mehr den Künstlern verwandt sehen wollen.

Nicht ganz zu Unrecht. Viele der wissenschaftlichen Zeitschriften, in denen Diskussionen über die Literatur hinweg geführt werden (wie zum Beispiel der amerikanische "Critical Inquiry"), sind am Randbereich des Universitätsbetriebes angesiedelt - sie setzen sich auch mit aktuellen Ereignissen auseinander, sie sind voll von Polemiken und Illustrationen, bisweilen schamlos selbstverliebt, ironisch, stets verspielt und experimentell - und sie liegen im Buchhandel neben populären Zeitschriften aus. Solche Grenzgänge spiegeln das Erbe der Impulse der klassischen Avantgarde.

Doch gerade diese Abenteuerlust geht völlig verloren in diesem ansonsten sehr brauchbaren und sauber edierten Band. Sein Zielpublikum, zu dem vor allem Studenten gehören, liest nur von grauer Theorie. Die Einführungen zu den unterschiedlichen Denkschulen sind zu brav, um das Risiko zu vermitteln, das mit den theoretischen Ansätzen auch immer verbunden ist. So droht auch die moderne Literaturtheorie hier dem Schicksal aller Avantgarde zu erliegen: Sie landet beim Museumspräparator, wird ausgestopft, in Vitrinen ausgestellt - und Schulklassen kommen sie besichtigen. HUBERTUS BREUER Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner und Bernd Stiegler (Hrsg.): "Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart". Verlag Philipp Reclam, Stuttgart 1996. 485 S., br., 20,- DM.

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Der Reclam-Band "Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart" versammelt Beiträge zu den wichtigsten literaturtheoretischen Strömungen der letzten dreißig Jahre und versieht sie mit auf die Interessen von Studenten und Lesern, die sich rasch informieren wollen, zugeschliffenen Einleitungen, die kenntnisreich Wissenschaftsgeschichte wie theoretische Ansätze erläutern. Frankfurter Allgemeine Zeitung