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Arno Schmidts "Seelandschaft mit Pocahontas" erwies sich für Klaus Theweleit als Text, an dem sich der deutsche Nachkrieg, sein Verhältnis zu "Amerika", zur Sexualität und zum Umgang mit der so genannten "Vergangenheit" vorzüglich darstellen ließ.

Produktbeschreibung
Arno Schmidts "Seelandschaft mit Pocahontas" erwies sich für Klaus Theweleit als Text, an dem sich der deutsche Nachkrieg, sein Verhältnis zu "Amerika", zur Sexualität und zum Umgang mit der so genannten "Vergangenheit" vorzüglich darstellen ließ.
Autorenporträt
Klaus Theweleit, 1942 in Ostpreußen geboren, studierte Germanistik und Anglistik in Kiel und Freiburg. Von 1969-1972 war er als freier Mitarbeiter des Südwestfunks tätig, 1977 promovierte er über "Freikorpsliteratur und den Körper des soldatischen Mannes". Heute lebt er als freier Schriftsteller mit Lehraufträgen in Deutschland, den USA, der Schweiz und Österreich. Seit 1998 ist Theweleit Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. 2003 erhielt er den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999

Alte Fregatte im Anmarsch
Klaus Theweleit glaubt an Pocahontas / Von Andreas Platthaus

Tausend Seiten Theweleit. Das ist gar nicht mal so viel. Denn es sind zahlreiche Bilder einmontiert - per Hand, wie der Autor betont. Einige sind vom Bildschirm abfotografiert. Dementsprechend sehen sie aus. Es ist der diskrete Charme der siebziger Jahre, der uns aus den grauverschleiertern Abbildungen entgegentritt, die Aura von hektografierten Samisdat-Schriften, von AStA-Publikationen und Flugblättern. Und von "Männerphantasien", jenem zweibändigen Opus magnum des Klaus Theweleit, das 1978 erschien und eine Kulturkritik einleitete, die sich auf Quellen stützte, über die die Leitwölfe aus der Frankfurter Schule nur die Nase gerümpft hatten: Popmusik, Kino, Comics, Fernsehen. Viele Bildchen gab es damals schon.

Und auch viele Seiten: Deren 1200 zählten vordem die "Männerphantasien". Wieder 1200 dann der erste Band eines Zyklus, den Theweleit mit "Buch der Könige" betitelte und 1988 begann. Dessen zweite Lieferung, vor fünf Jahren erschienen, musste schon wieder in zwei Bände geteilt werden, um jetzt 1800 Seiten unterzubringen. Auf die angekündigte dritte Folge, zu Sigmund Freud, werden wir nun ein Weilchen warten müssen. Denn die neuen tausend Seiten widmen sich einem ganz anderen Thema: der Geschichte von Pocahontas. Aber der Autor betont in seinem mit heißer Nadel gestrickten und bis aufs Vorsatzpapier ausgedehnten Vorwort (wo Sloterdijk als Kopist entlarvt wird), dass damit das "Könige-Projekt" nur unterbrochen werde, um einen "Komplex" zu untersuchen, der dessen Thematik eng verwandt sei. Das muss man ihm glauben, denn bei Theweleit hängt alles mit allem zusammen. Und tatsächlich fand sich bereits in einer Anmerkung im ersten "Buch der Könige" die Prophezeiung: "Diesen Versuch (an der Neufassung der Bedingungen der Zweierbeziehung durch den Staat mitzuwirken) und sein Misslingen genau zu beschreiben ist für ein anderes Mal . . . für die Pocahontas/Cleopatra/Eurydike-Geschichte, einen zukünftigen Seitentrieb dieses Bandes." Tausend Seiten für einen Seitentrieb von Theweleits Opus magnissimum? Dann ist das ja noch wenig.

Doch gemach: Bisher liegen ja erst zwei von vier angekündigten Teilen (jaja: auch des "Pocahontas-Komplexes") vor, und somit dürfen wir uns wohl noch auf manche zusätzliche Seite freuen. Erschienen sind jetzt erst einmal die Bände 1 und 4, Anfang und Abschluss des neuen Zyklus, oder, in der eigenwilligen Einteilung Theweleits, die Folgen "PO" und "TAS" von "Pocahontas". Sie bilden einen Schraubstock, der hoffentlich den Inhalt der zwei noch ausstehenden Teilen kräftig zusammenquetschen wird, denn im Band 4 wiederholt sich so manches, was Band 1 schon in verschwenderischer Fülle ausgebreitet hat.

Der erste Teil gibt uns das historische Rüstzeug an die Hand, mit dem wir uns auf den Theweleitschen Eroberungszug in die Mythenwelt der Kolonialisierung machen sollen. Pocahontas war die Tochter des Indianerfürsten Powhatan, in dessen Einflussbereich die Briten ihre erste ständige Ansiedlung auf dem nordamerikanischen Kontinent errichteten: Jamestown in Virginia, 1607 gegründet. In den Berichten, die Captain John Smith, einer der Führer der englischen Kolonie, über das Siedlungsunternehmen verfasst hat, erscheint die damals zwölfjährige Pocahontas als guter Geist der neuen Bewohner. Sie hilft im ersten harten Winter mit Nahrungsgeschenken und erfreut die Weißen durch akrobatische Vorführungen. Soweit John Smith und sein Mitsiedler William Strachey in ihren ersten Berichten kurz nach Beginn der Mission. Doch 1624 setzt Smith sich noch einmal an den Schreibtisch, und aus Pocahontas wird seine Lebensretterin. Denn Smith erinnert sich plötzlich an eine Gefangennahme durch Powhatan im Winter 1607/08 und vor allem daran, dass er hingerichtet worden wäre, wenn die Häuptlingstochter sich nicht für sein Leben eingesetzt hätte.

Aus dieser Rettungstat wird der erste wirkungsmächtige Mythos der Kolonialisierung oder, um mit Theweleit zu reden: "das mythologische Ei, aus dem das nicht-columbianische Amerika geschlüpft ist, die USA". Denn ohne Pocahontas hätte Jamestown den Winter nicht überstanden, die Engländer wären verschwunden wie ihre Landsleute 1587 beim ersten Versuch, eine dauerhafte Ansiedlung in Amerika zu begründen. "Die Besiedelung des Kontinents durch Europäer", spekuliert Theweleit, "wäre zwar nicht aufzuhalten gewesen, aber es hätten nicht unbedingt Engländer sein müssen, an dieser Stelle nicht und nicht anderswo." In Amerika würde heute vielleicht Russisch gesprochen oder Französisch. Der Dank der anglophonen Nation gebührt Pocahontas.

Ausdruck fand dieser Dank in vielfältigen Darstellungen der Rettungsszene an John Smith bis hin zu einem Sandsteinrelief in der Rotunde des Capitols. Doch zur Mutterfigur des zivilisierten Amerika wurde Pocahontas erst durch ihre Taufe 1614, ihre Heirat mit dem Tabakfarmer John Rolfe und ihre Reise nach London, wo sie als erste Indianerin freiwillig erschien und prompt verstarb, 1617. Die Taufe ist ebenfalls in der Rotunde des Capitols zu bewundern: Als überformatiges Gemälde, 1840 von John Gadsby Chapman geschaffen, löscht es das kleine Sandsteinrelief von 1825 mit der Lebensrettung ikonographisch aus. Der Taufname von Pocahontas war Rebecca, und in einem der instruktivsten Kapitel seines Buches weist Theweleit nach, wie die biblische Gestalt, die Frau des Isaak, mit ihrer Zwillingsgeburt ("Zwei Völker sind in deinem Leibe", teilt Gott ihr mit) zum typologischen Vorbild wurde, in dem Pocahontas schon von ihrer eigenen Zeit wiedererkannt wurde: Die Aussöhnung zweier Völker findet in ihrem Körper statt.

Den Akt der Taufe erklärt Theweleit somit zum Modell einer "mixed population", die für kurze Zeit Ziel der englischen Kolonialpolitik gewesen sein soll, ausgehend vom Zivilisationsmodell Francis Bacons, der just zur Zeit von Pocahontas seinen Aufstieg bis zum Lordkanzler begann. Mit Bacon bindet Theweleit seinen "Pocahontas-Komplex" eng an das "Buch der Könige", dessen zentraler Moment im ersten Band die Uraufführung von Monteverdis "Orpheus" in Mantua ist - ausgerechnet im Februar 1607, kurz vor der Ankunft der englischen Siedler in Jamestown. Die Figur des Orpheus ist die mythologische Klammer im "Buch der Könige". John Smith erscheint nun bei Theweleit als moderner Orpheus. Allerdings erst in der literarischen Aneignung durch Arno Schmidt, den deutschen Namensvetter Johns, der 1955 seinen Kurzroman "Seelandschaft mit Pocahontas" veröffentlichte. Um dieses Buch, den schönsten Roman Schmidts, gab es seinerzeit einiges Geschrei wegen pornographischer und blasphemischer Szenen. Theweleit liest den Text nun als Wiederbelebung des orphischen Mythos in der Person des Erzählers Joachim, der Pocahontas (der Kosename für eine Urlaubsbekanntschaft) aus dem Totenreich rettet - durch seine Liebe. Das ist eine Liebe in aller Freizügigkeit, eine Liebe, die in den fünfziger Jahren auf Empörung stoßen musste, weil, so Theweleit, damals alles Sexuelle tabuisiert war - was allein dem Zweck gedient habe, dass die Jugend sich für ein anderes Tabu, die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Eltern, nicht mehr interessieren sollte. Schmidt hat somit in Theweleits Augen mehr als eine private Liebesgeschichte erzählen wollen; "er weiß, dass ein Text in D'land über ,die Liebe' nur als radikal sexueller Text geht, als Text radikaler sexueller Öffnung und Offenheit, als grotesk sexueller, sonst wird es ein Nazitext".

In Pocahontas haben somit zwei Gesellschaften ihren Gründungsmythos gefunden: die amerikanische, aber die hat ihn später wieder verraten und die Pocahontas-Episode aus den Geschichts- in die Sagenbücher, die Popsongs, die Filme verbannt. Und die deutsche Gesellschaft, der Arno Schmidt mit "Pocahontas" einen Neubeginn nach dem Nationalsozialismus ermöglichen wollte. Auch das ist, glaubt man Theweleit, gescheitert. So bezeichnet die Rede vom "Pocahontas-Komplex" nicht nur ein abgeschlossenes kulturelles Feld rund um die Erzählung einer hilfreichen Indianerin, sondern auch einen Komplex im psychoanalytischen Sinne - durchaus auch auf Seiten des Autors selbst. Zufälle gibt es nicht für ihn, alles ist teleologisch miteinander verknüpft. Vielleicht ist Theweleit der letzte Metaphysiker.

Tausend Seiten. Billiger macht er's wohl nicht. Im vierten Band klingt er immer mehr selbst wie Arno Schmidt. Das muss misslingen. Es hilft auch nichts auf dem langen Weg durch den Materialreichtum: Wenn die erste Überraschung sich verloren hat, reiht sich Redundanz an Redundanz. Es ist eine große Komprimierungsarbeit, die in diesen tausend Seiten steckt, doch es ist eine, die die Stofffülle nicht reduziert hat, sondern sie lediglich zwischen vier Buchdeckel zwängt. Mit etwa zehn anderen Büchern auf dem Schreibtisch ließe sich der Kosmos, den das "Pocahontas"-Projekt umreißt, genauso gut ausmessen. Über den Einfluss der virginischen Expedition auf Shakespeares "Sturm" ist zum Beispiel in der Kommentierung des entsprechenden Bands des "Arden Shakespeare" kaum weniger zu erfahren als im 150 Seiten starken Kapitel "Shakespeare on Tour" von Theweleit. Was bleibt, ist eine originelle These zur Ausbildung des amerikanischen Selbstverständnisses und eine provokante Deutung der Prüderie im Nachkriegsdeutschland. Es steckt viel drin in diesen tausend Seiten Theweleit, doch es kommt zu wenig dabei raus.

Klaus Theweleit: "Pocahontas". Band I: Pocahontas in Wonderland. Shakespeare on Tour. Indian Song. 728 S., Abb., br., 68,- DM. Band IV: "You Give Me Fever": Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas. Die Sexualität schreiben nach WW II. 328 S., Abb., br., 48,- DM. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main, Basel 1999.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"In seiner Rezension beschwert sich Andreas Platthaus, dass Theweleit offensichtlich kein Buch unter tausend Seiten hervorzubringen vermag. Auch Band I und IV des „Pocahontas“-Projekts, die hier zusammen besprochen werden, bringen es zusammen auf 1100 Seiten und sind, so Platthaus, nur eine Einschaltung in dem weitaus größeren „Buch der Könige“. Pocahontas war die Tochter eines Indianerfürsten, die die ersten britischen Siedler in Nordamerika begrüßte, einmal auch rettete und sich taufen ließ. Sie steht, so Platthaus nach Theweleit, am Ursprung aller US-amerikanischen Mythen. Zugleich erzählt Platthaus, wie Theweleit auch Arno Schmidts „Pocahontas“-Roman („Seelandschaft mit Pocahontas“) zu einem Gründungsbuch der westdeutschen Nachkriegszeit machen will. Platthaus findet einige der theweleitschen Ideen offensichtlich anregend, aber er leidet doch sehr an seiner Redundanz: „Es steckt viel drin in diesen tausend Seiten, doch es kommt zu wenig dabei heraus.“

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