Der neunzehnjährige Giacomo Leopardi lebt in der Abgeschiedenheit des gräflichen Elternhauses in den Marken. Als im Dezember 1817 die schöne, sieben Jahre ältere Cousine Gertrude Cassi-Lazzari zu Besuch kommt, entbrennt Leopardi in Liebe für die schöne Frau, die jedoch allzu bald wieder abreist. Erneut allein, beschließt der Jüngling, sein Herz zu erleichtern, indem er das Gedicht Die erste Liebe verfasst und seinen Gemütszustand in einem nicht zur Veröffentlichung gedachten Tagebuch genauestens dokumentiert. Der melancholische Jüngling versenkt sich in seine ständig aufwallenden und abebbenden Gefühle, beobachtet seinen schwindenden Appetit, seinen Ekel vor den Affekten der anderen, der ihn von der sonst so geliebten Lektüre fernhält. Er schwankt zwischen hilflosem Staunen über die neuen Empfindungen und abgeklärter Bewusstheit. Dabei verzichtet Leopardi auf die herkömmlichen Bilder, die das Verliebtsein beschreiben, und widmet sich allein seinen eigenen Erfahrungen.
Indem Leopardi weniger seine Geliebte beschreibt als das Verliebtsein, erinnert er mit seinem Tagebuch der ersten Liebe nicht nur sich selbst, sondern auch seine Leser an dieses große Aufflammen der Gefühle. Nach den lieblichen 'Schmetterlingen im Bauch' sucht man allerdings vergeblich - es sind die »Eingeweide der Liebe«, die Giacomo vor uns ausbreitet.
Indem Leopardi weniger seine Geliebte beschreibt als das Verliebtsein, erinnert er mit seinem Tagebuch der ersten Liebe nicht nur sich selbst, sondern auch seine Leser an dieses große Aufflammen der Gefühle. Nach den lieblichen 'Schmetterlingen im Bauch' sucht man allerdings vergeblich - es sind die »Eingeweide der Liebe«, die Giacomo vor uns ausbreitet.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Thomas Steinfeld liest Giacomo Leopardis dichterische Verarbeitung der ersten Liebe zusammen mit den Tagebucheinträgen des Dichters von 1817 mit Gewinn. Die Übersetzung von Marianne Schneider und das Nachwort von Frank Witzel bieten ihm eine gelungene Hilfestellung für das Verständnis der Texte. Wie Leopardi Ereignis und Gefühl in Worte fasst, ist Steinfeld aber durchaus auch ganz unmittelbar zugänglich. Staunenswert scheint Steinfeld die Modernität des Autors, der sich so kunstvoll von herkömmlichen Formen für die Darstellung von Empfindungen verabschiedet.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.05.2023Erste Liebe
Gedichte von Giacomo Leopardi
Neunzehn Jahre alt ist Giacomo Leopardi, der Sohn eines Grafen aus einer Kleinstadt in den Marken, als er zum ersten Mal der Liebe begegnet. Oder genauer: einer sich allmählich verstärkenden und dann, unter bemerkenswerten Umständen wie Schlaflosigkeit und Appetitverlust, abklingenden Empfindung, der Leopardi den Namen „Liebe“ gibt: „Seit mehr als einem Jahr“ hatte er sich gewünscht, „mit wohlgestalteten Frauen zu reden und zu plaudern, wie es jedermann tut, und schon allein wenn mir eine zulächelte, was höchst selten geschah, erschien es mir als etwas unglaublich Seltsames, über alle Maßen süß und schmeichelhaft“.
Süß ist allerdings auch, was der junge Leopardi in drei langen Tagebucheintragungen aus dem Dezember 1817 und einem Gedicht mit dem Titel „Il primo amore“ – „Die erste Liebe“ – betreibt: Er beschreibt, wie er sich verliebt und in wen er sich verliebt, er notiert sorgfältig jedes Ereignis und jede Regung des Gefühls. Das Gedicht „Il primo amore“ ist das früheste der „Canti“ Leopardis, wurde aber in die erste, im Jahr 1824 erschienene Ausgabe der „Gesänge“ nicht aufgenommen. Es ist auch nie so berühmt geworden wie die wenig später entstandenen vaterländischen Gesänge, doch bilden die 34 dreizeiligen, Petrarca nachempfundenen Strophen ein bedeutendes Werk. Die Übersetzerin hat klugerweise auf die Reime und ihr Schema verzichtet: „Da ich die Blicke stets zu Boden wandte / und sie doch ansah, die zu meinem Herzen / den Weg als Erste sich unwissend bahnte…“. Eine diffuse Leidenschaft ergreift den jungen Mann. Er weiß nicht, was sie bedeutet. Sie hat noch nicht zum Begehren gefunden, ist nicht eindeutig angenehm und bleibt irgendwo in der Atmosphäre hängen, sodass es beinahe eine Erleichterung ist, als die bewunderte Frau nach drei Tagen abreist und nur die Erinnerung an eine seltsame Intensität des Empfindens zurückbleibt.
In der Tagebuchfassung liest sich das Ereignis so: „Die Gefühle meines Herzens betrachtend, legte ich mich ins Bett, es waren im Wesentlichen: eine unbestimmte Unruhe, Unzufriedenheit, Melancholie, ein wenig Süße und ein Verlangen, ich wusste und weiß nicht, wonach, und unter den möglichen Dingen erkenne ich nichts, das es stillen konnte.“ Eine ältere Cousine hatte die Familie in ihrem bescheidenen Palast in Recanati besucht, der junge Mann hatte die feinen Züge, die schwarzen Augen und eine wache Intelligenz bemerkt, doch geschehen war nichts.
Von solchen Erlebnissen berichten Tagebuch und Gedicht, und bemerkenswert daran ist nicht nur die Unschuld des Verehrers, sondern auch die Abwesenheit eines jeden festen Vokabulars. In welchem Maße alles, was mit Liebe zu tun hat, seit mindestens zweihundert Jahren in vorgeprägte Bilder und Verlaufsformen, in formelhafte Wendungen und gegebene Empfindungen gefasst ist: Das erfasst man erst, wenn diese Routinen ausfallen und sich eine scharfe, aber offenbar zur Melancholie neigende Intelligenz über das eigene Herz beugt.
Es kann nicht leicht gewesen sein, für dieses Ineinander von Gefühl und Verstand eine deutsche Übersetzung zu finden. Marianne Schneider ist es gelungen. Und es war ein glücklicher Einfall des Verlags, das ein wenig vernachlässigte Gedicht und die dazugehörigen Texte hervorzuholen und als selbständige Veröffentlichung zu präsentieren: Es lässt sich mehr daraus lernen, als die Literaturgeschichte kennt. Glücklich auch die Idee, den Schriftsteller Frank Witzel mit dem Nachwort zu betrauen: Er reicht nicht nur das positive Wissen nach, sondern entwickelt auch die Figur eines ebenso lauteren wie empfindsamen Aufklärers, der genau weiß, was man verlangen und aus welchem Grund man sich wogegen auflehnen muss, der am Ende aber immer schon zu viel weiß – was auch für die Liebe gilt. Es ist, als hätten sich in diesen kreisenden Bewegungen zwei verwandte Seelen getroffen.
THOMAS STEINFELD
Giacomo Leopardi:
Tagebuch der ersten Liebe. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Mit einem Nachwort von
Frank Witzel. Friedenauer Presse, Berlin 2023.
82 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gedichte von Giacomo Leopardi
Neunzehn Jahre alt ist Giacomo Leopardi, der Sohn eines Grafen aus einer Kleinstadt in den Marken, als er zum ersten Mal der Liebe begegnet. Oder genauer: einer sich allmählich verstärkenden und dann, unter bemerkenswerten Umständen wie Schlaflosigkeit und Appetitverlust, abklingenden Empfindung, der Leopardi den Namen „Liebe“ gibt: „Seit mehr als einem Jahr“ hatte er sich gewünscht, „mit wohlgestalteten Frauen zu reden und zu plaudern, wie es jedermann tut, und schon allein wenn mir eine zulächelte, was höchst selten geschah, erschien es mir als etwas unglaublich Seltsames, über alle Maßen süß und schmeichelhaft“.
Süß ist allerdings auch, was der junge Leopardi in drei langen Tagebucheintragungen aus dem Dezember 1817 und einem Gedicht mit dem Titel „Il primo amore“ – „Die erste Liebe“ – betreibt: Er beschreibt, wie er sich verliebt und in wen er sich verliebt, er notiert sorgfältig jedes Ereignis und jede Regung des Gefühls. Das Gedicht „Il primo amore“ ist das früheste der „Canti“ Leopardis, wurde aber in die erste, im Jahr 1824 erschienene Ausgabe der „Gesänge“ nicht aufgenommen. Es ist auch nie so berühmt geworden wie die wenig später entstandenen vaterländischen Gesänge, doch bilden die 34 dreizeiligen, Petrarca nachempfundenen Strophen ein bedeutendes Werk. Die Übersetzerin hat klugerweise auf die Reime und ihr Schema verzichtet: „Da ich die Blicke stets zu Boden wandte / und sie doch ansah, die zu meinem Herzen / den Weg als Erste sich unwissend bahnte…“. Eine diffuse Leidenschaft ergreift den jungen Mann. Er weiß nicht, was sie bedeutet. Sie hat noch nicht zum Begehren gefunden, ist nicht eindeutig angenehm und bleibt irgendwo in der Atmosphäre hängen, sodass es beinahe eine Erleichterung ist, als die bewunderte Frau nach drei Tagen abreist und nur die Erinnerung an eine seltsame Intensität des Empfindens zurückbleibt.
In der Tagebuchfassung liest sich das Ereignis so: „Die Gefühle meines Herzens betrachtend, legte ich mich ins Bett, es waren im Wesentlichen: eine unbestimmte Unruhe, Unzufriedenheit, Melancholie, ein wenig Süße und ein Verlangen, ich wusste und weiß nicht, wonach, und unter den möglichen Dingen erkenne ich nichts, das es stillen konnte.“ Eine ältere Cousine hatte die Familie in ihrem bescheidenen Palast in Recanati besucht, der junge Mann hatte die feinen Züge, die schwarzen Augen und eine wache Intelligenz bemerkt, doch geschehen war nichts.
Von solchen Erlebnissen berichten Tagebuch und Gedicht, und bemerkenswert daran ist nicht nur die Unschuld des Verehrers, sondern auch die Abwesenheit eines jeden festen Vokabulars. In welchem Maße alles, was mit Liebe zu tun hat, seit mindestens zweihundert Jahren in vorgeprägte Bilder und Verlaufsformen, in formelhafte Wendungen und gegebene Empfindungen gefasst ist: Das erfasst man erst, wenn diese Routinen ausfallen und sich eine scharfe, aber offenbar zur Melancholie neigende Intelligenz über das eigene Herz beugt.
Es kann nicht leicht gewesen sein, für dieses Ineinander von Gefühl und Verstand eine deutsche Übersetzung zu finden. Marianne Schneider ist es gelungen. Und es war ein glücklicher Einfall des Verlags, das ein wenig vernachlässigte Gedicht und die dazugehörigen Texte hervorzuholen und als selbständige Veröffentlichung zu präsentieren: Es lässt sich mehr daraus lernen, als die Literaturgeschichte kennt. Glücklich auch die Idee, den Schriftsteller Frank Witzel mit dem Nachwort zu betrauen: Er reicht nicht nur das positive Wissen nach, sondern entwickelt auch die Figur eines ebenso lauteren wie empfindsamen Aufklärers, der genau weiß, was man verlangen und aus welchem Grund man sich wogegen auflehnen muss, der am Ende aber immer schon zu viel weiß – was auch für die Liebe gilt. Es ist, als hätten sich in diesen kreisenden Bewegungen zwei verwandte Seelen getroffen.
THOMAS STEINFELD
Giacomo Leopardi:
Tagebuch der ersten Liebe. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Mit einem Nachwort von
Frank Witzel. Friedenauer Presse, Berlin 2023.
82 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de