Produktdetails
  • Ullstein Taschenbuch
  • Verlag: Ullstein TB
  • Abmessung: 17mm x 117mm x 178mm
  • Gewicht: 182g
  • ISBN-13: 9783548223704
  • Artikelnr.: 04030001
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.1999

Fremd im Hermelin
Der rätselhafte Süßkind von Trimberg · Von Hans-Herbert Räkel

Wenn seine zwölf mittelhochdeutschen Gedichte irgendeinem Reinmar oder Ulrich zugeschrieben wären, brauchte man nicht länger darüber zu reden. Aber sie stehen seit Jahrhunderten unter dem Namen "Süßkind der Jude von Trimberg" samt einem ganzseitigen Bild, das ihn mit dem spitzen Judenhut vor einem Bischof zeigt, in der Großen Heidelberger Liederhandschrift, wo er eben nicht als Spruchdichter, um so mehr als Jude aus dem Rahmen fällt. Er ist, wenn es ihn gegeben hat, der erste jüdische Autor der deutschen Literaturgeschichte.

Das Bild zeigt ihn, lebhaft gestikulierend, in einem blauen Mantel, der dem violetten des Bischofs in nichts nachsteht, die Schultern mit einem weißen Hermelinkragen bedeckt. Mit einigen anderen Dichtern gehört er zu den Nachgetragenen der monumentalen Handschrift, eine "Figur", für deren jüdische Identität der Maler dieses Bildes und der Schreiber, der im frühen vierzehnten Jahrhundert seinen Namen schrieb, die einzigen Gewährsleute sind.

Der 1911 geborene Slawist Dietrich Gerhardt hat im Geiste der Auflehnung gegen "die Geringschätzung", "mit der (sein Lehrer Georg Baesecke) den ,jüdischen Minnesänger' behandelte", ein Buch geschrieben: "Berichtigungen zu einer Erinnerung". Es ist Literaturgeschichte, die sich über Raum und Zeit hinaus auf die Erinnerung ihrer selbst einläßt.

Die Germanistik hat eine Diskussion darüber geführt, ob Süßkind ein alter oder ein junger, ein treuer oder ein zum Christentum konvertierter Jude war, ein alter oder ein junger Christ, der sich wirklich oder metaphorisch mit dem Gedanken einer Bekehrung zum Judentum getragen hätte. Gustav Roethe, der nach Auskunft des Brockhaus "wegen seiner völkischen Gesinnung ungewollt zu einem Wegbereiter der nationalsozialistischen Wissenschaftsauffassung" wurde, griff in diesem Wirrsal von Hypothesen zu jener eleganten Lösung, die nur Gelehrten ab einer gewissen Größe offensteht: Aus der Tatsache, daß der Dichter "wie ein alter Jude" leben will, wie es in einem Gedicht Süßkinds heißt, und also kein Jude ist, schließt er, daß diese Strophe dem Süßkind von Trimberg abzusprechen sei, da der ja ein Jude ist! Dieser seit 1902 in Berlin lehrende Gründungsvater der Germanistik fand unter dem Judenhut des Bildes der Manessischen Handschrift auch "eine ausgeprägte jüdische Physiognomie". Wie leicht fällt es unsereinem heute, so etwas sarkastisch bloßzustellen.

Es zählt zu den schmerzhaftesten Berichtigungen, die Dietrich Gerhardt mitzuteilen hat, daß jenes "Roethesche Timbre" zur Atmosphäre des Zeitalters gehört haben muß, daß auch Georg Baeseckes Geringschätzung des "jüdischen Minnesängers" zwar "sozusagen der erste Schmerz" gewesen sei, den er seinem unterwürfigen Studenten tat, daß dieser selbstverständliche Judenhaß aber offensichtlich nicht jene Empörung produzierte, die uns beim bloßen Bericht über dergleichen Bemerkungen erfaßt, ja daß gerade jüdische Kollegen wie Meier Spanier (1864 bis 1942, er beging mit seiner Frau Selbstmord vor der Deportation in ein Vernichtungslager) dem Gelehrten Roe-the mit Noblesse begegnet sind und seine wissenschaftliche Kompetenz anerkannt haben: "Es war das Tragische an diesem deutschen Gelehrten, daß er im Grunde wohl nicht anders dachte als Roethe, ja, er konnte sämtliche Empfindungen des Nationalstolzes mit jenem teilen, denn er fühlte sich als Teil einer Kultur, die doch, insgeheim oder öffentlich, nur das Wort vom ,Assimilationsjuden' für ihn übrig hatte, das gleiche Wort, mit dem die ,Nationaljuden' ihn ihrerseits abtaten."

Anhänge, Beigaben und Addenda sowie eine Fundgrube von Bibliographie - der Beistand Christoph Gerhardts wird dankend erwähnt - bewahren vor allem viele entlegenere Dokumente vor dem Vergessen, unter anderem einen Auszug aus der Geschichte der Israelitischen Gemeinde in Schlüchtern und die ausgezeichnete, auf hebräisch 1942/43 veröffentlichte Studie von Raphael Fritz Aronstein sowie einige Briefe, unter anderem von Gerhard Scholem, an den Vater Ulrich Gerhardt. Dadurch wird dieses Buch, dessen Autor Gründungsmitglied des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg ist, auch zu einem Vermächtnis und einem über die Generationen hinweggreifenden Zeugnis für die Bemühung um jüdisches Leben in Deutschland.

Sieht man von dem überlieferten Namen "Süßkind" ab, der tatsächlich von Juden im zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert getragen worden ist, spricht nichts wirklich dafür, daß der Dichter Süßkind ein Jude war. "Es war wohl doch eine Fiktion", lautet die Schlußfolgerung dieser Revision, mit der sich der Autor zögernd von einem gläubigen Paulus in einen zweifelnden Saulus verwandelt. Süßkind von Trimberg ist ja auch nicht der einzige Dichter, dessen Figur von einem Wust tendenziösen biographischen Pseudowissens entschlackt werden mußte. Der Entdeckungshunger brachte in diesem Falle den jüdischen Germanisten Richard Moritz Meyer auf den Spuren des ebenfalls jüdischen Schriftstellers und hochverdienten Büchner-Herausgebers Karl Emil Franzos dazu, in Trimberg einen alten Schuster namens Zoll ausfindig zu machen, der sich an die Geschichte des dichtenden Juden noch dunkel erinnerte. Als der Urheber dieser in der Zeitschrift für deutsches Altertum von 1894 bekanntgemachten "Erbsage" sich zwei Jahre später davon distanzierte, hatte das Gerücht seinen Weg gemacht.

Daß antisemitische Germanisten auch an diesem Juden nur Entartung entdeckten, wird niemanden wundern, auch nicht die scheintolerante Hochschätzung, mit der andere seinen Anschluß an die heimische Kultur betrieben. Was uns heute am meisten bestürzt, ist jene rührende Mühe, mit der jüdische Gelehrte ihn als Beispiel für eine von ihnen selber mit soviel Engagement betriebene Kultursymbiose zwischen Juden und Deutschen reklamierten. Der kritische Raphael Straus hat dazu 1947 erkannt, daß der jüdische Minnesänger Ergebnis eines "ästhetischen Bedürfnisses" seiner Biographen sei. Fügen wir hinzu, daß er bis heute wohl auch das Ergebnis eines moralischen Bedürfnisses ist, das vielleicht mitspielt, wenn Germanisten wie zum Beispiel der von Dietrich Gerhardt hier mehrfach angerempelte Peter Wapnewski dem Spruchdichter mit dem Judenhut doch eine historische Realität zumuten möchten.

Bei einer Reihe von Autoren, die Gerhardt "die Dichter" nennt, sind derartige Bedürfnisse überdeutlich, ja sie sind der Grund dafür, daß er so viele Wohltäter gefunden hat, ihn aus dem Schatten der Geschichte ins Licht der Fiktion zu stellen: Livius Fürst 1865, Josef Kastein 1934 ("Süßkind von Trimberg, oder die Tragödie der Heimatlosigkeit"), Max Geilinger 1939, Ruth Wolf 1971, Friedrich Torberg 1972 und schließlich Carl Heinz Kurz 1982 ("Der Sänger mit dem hohen Hut - Memoiren eines alten Toren"), dessen Anbiederung bei Gerhardt Abwehr erzeugt.

Der offen antisemitische Gustav Roe-the war zu dem Schluß gekommen: "Wüßten wir's nicht, würden wir den Juden aus seinen Sprüchen nicht herauswittern." Heute stellt die scheinbar so sachliche Frage "Jude oder nicht?" den Frager samt dem Dichter, und diesen trotz der Gnade seiner frühen Geburt, in den Schlagschatten der Nürnberger Gesetze. Nicht die Antwort (wenn sie gegeben werden könnte), sondern die Frage erweist sich als pervers, indem sie offensichtlich nichts mehr über ihren Gegenstand, sondern nur etwas über den Frager herausbringt. So sind diese "Berichtigungen zu einer Erinnerung" für eine neue Generation von Forschern vor allem eine Erinnerung daran, daß der Literaturhistoriker selber die erste und problematischste Tatsache der Literaturgeschichte ist.

Das konnten den Autor weder Gustav Roethe noch Georg Baesecke lehren - er hat es erfahren müssen: "Die eine . . . Handschrift hat uns die wenigen Texte und den Namen als schlecht zu vereinbarende Fakten hingeworfen, daß dieser Tatbestand aber so oft und gierig aufgegriffen wurde, ist wohl wirklich vor allem deswegen geschehen, weil die tragische Figur des resignierenden edlen Sängers, weil der Zwiespalt, den sie verkörpert, so schön auszumalen ist, weil sich mit ihrer Stimme viel sagen läßt, Ehrliches und Unehrliches, Echtes und Unechtes, Antisemitisches und Unchristliches, weil sich damit ebenso ein Beispiel alter Gleichberechtigung wie angemaßten Anspruches aufstellen und schließlich sogar noch einige Wiedergutmachungslyrik anstimmen läßt."

So mag der Dichter Süßkind denn, wie seine zahlreichen Kollegen, irgendwann (im zweiten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts) gedichtet und gesungen haben, aber "die Juden in Deutschland hatten im dreizehnten Jahrhundert keinen Dichter in deutscher Sprache" - und, möchte man hinzufügen, auch die Deutschen hatten keinen jüdischen Dichter in deutscher Sprache. Aber im vierzehnten Jahrhundert hatten sie wenigstens einen Miniaturmaler, der sich einen solchen, noch dazu mit hermelinbesetztem Mantel, im Ehrensaal des deutschen Minnesangs vorstellen konnte.

Dietrich Gerhardt: "Süßkind von Trimberg". Berichtigungen zu einer Erinnerung. Peter Lang Verlag, Bern/Frankfurt/New York 1997. 394 S., geb., 160,- DM.

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