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  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • 4. Aufl.
  • Seitenzahl: 555
  • Deutsch
  • Abmessung: 37mm x 130mm x 205mm
  • Gewicht: 625g
  • ISBN-13: 9783518579985
  • ISBN-10: 3518579983
  • Artikelnr.: 03797631
Autorenporträt
Norbert Elias, geboren am 22. Juni 1897 in Breslau als Sohn von Hermann Elias (gest. 1940 in Breslau) und Sophie Elias (gest. 1941 in Auschwitz), verbrachte bis 1915 seine Kindheit in Breslau. Von 1915 - 1917 folgte die Einberufung zum Militär, Einsatz als Funker an der Westfront. 1918 Beginn des Doppelstudiums der Medizin und Philosophie in Breslau, je ein Semester in Freiburg und Heidelberg. Ab 1922 Tätigkeit in einer Breslauer Eisenwarenfabrik. 1923 Abschlussprüfungen in den Hauptfächern Philosophie und Psychologie sowie den Nebenfächern Chemie und Kunstgeschichte.
Seit 1924 Doktor der Philosophie (bei Richard Hönigswald).
1925 - 1930 Umzug nach Heidelberg;
1928 "Gesellenstück"; Teilnahme am Deutschen Soziologentag in Zürich
1930 - 1933
Wechsel zur Soziologie und "inoffizieller Assistent" von Karl Mannheim in Frankfurt. Habilitation: "Die höfische Gesellschaft" wird erst 36 Jahre später veröffentlicht.
1933 Flucht aus Deutschland, nach vergeblichen Bemühungen um eine Universitätsstelle in der Schweiz vorläufiges Exil in Paris. Beginn der Arbeit an "Über den Prozeß der Zivilisation" 1935.
Nach einem nochmaligen Besuch seiner Eltern Übersiedlung nach London

Das "magnum opus" blieb drei Jahrzehnte nahezu unbekannt.
1940/41 Interniert auf der Ilse of Man.
194
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2005

Barbarische Dispositionen
Lauter Zivilisationsbrüche? Über Norbert Elias' Deutschstunde

Als die "Studien über die Deutschen" 1989 erschienen, fanden sie eine Resonanz, wie sie soziologischen Werken selten zuteil wird. Sechzehn Jahre später werden sie nun im Rahmen der Gesamtausgabe der Schriften von Norbert Elias erneut vorgelegt - in der textlichen Substanz weitgehend identisch mit der Erstausgabe, erweitert lediglich um eine Bibliographie, ein Register und ein editorisches Nachwort, das noch einmal bestätigt, was man schon vorher wußte: daß es sich nur bedingt um ein Werk von Norbert Elias handelt. Wie weit genau der Anteil des Bearbeiters, Michael Schröter, geht, bleibt freilich auch jetzt offen; hier wird man wohl bis zu einer dritten, philologischen Ausgabe warten müssen, die über den genauen Status von Elias' Manuskripten Auskunft wird geben müssen.

Über ein so komplexes und facettenreiches Buch, dessen Themenspektrum vom Staatsbildungsprozeß in Deutschland über den Nationalsozialismus bis zur Roten Armee Fraktion reicht, kann man nicht urteilen wie ein römischer Imperator über seine Gladiatoren. Gewiß, es ist kein Werk aus einem Guß, sondern ein Ensemble teilweise recht disparater Texte. Dafür aber bietet die lockere Form Gelegenheit zu zahlreichen Exkursen und Beobachtungen, die bei strengerer Komposition unter den Tisch gefallen wären. Gewiß auch enthält es viele Wiederholungen und Redundanzen. Doch kann man dafür dem Autor bei der Arbeit zusehen und verfolgen, wie nach der dritten oder vierten Variante endlich eine Verdichtung gelingt, die für manche Redseligkeit entschädigt. Viele Einzelheiten werden, wie immer man zum Ganzen steht, ihren Wert behalten: etwa die Einsicht in den Zusammenhang zwischen der objektiven Schwäche Deutschlands im Verhältnis zu seinen Rivalen und der extremen Roheit der Mittel, mit denen man diese Schwäche zu kompensieren versuchte; die Kritik an der unwirklichen Qualität der deutschen "Realpolitik"; die Formel von dem in der NS-Bewegung obwaltenden "schwarzen Idealismus" mit seiner starken Betonung der destruktiven und barbarischen Momente; die Analyse des bundesrepublikanischen Generationenkonflikts und seiner Auswirkungen auf die Studentenbewegung von 1968 und den an sie anschließenden Linksterrorismus.

Wenn sich gleichwohl im Laufe der Lektüre Unbehagen einstellt, so entzündet sich dies fast immer an den von Elias aufgerissenen langfristigen Entwicklungstendenzen, die als Erklärungen für Ereignisse der Weltkriegsepoche in Anspruch genommen werden. Daß etwa das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nach seinem Höhepunkt unter den Saliern und Staufern einen säkularen Niedergang erlebte, ist zweifellos eine geschichtliche Tatsache. Aber kann man wirklich annehmen, daß dies für die große Masse der in seinen Grenzen lebenden Menschen von Belang war? Setzt dies nicht eine Identifizierung mit einer deutschen Nation voraus, die für die Zeit vor dem späten achtzehnten Jahrhundert gänzlich anachronistisch ist? War es wirklich ein Gefühl des Niedergangs, das die Deutschen bewog, sich in den Ersten Weltkrieg zu stürzen, oder nicht viel eher eine verhängnisvolle Überschätzung der eigenen Stärke? Muß man unbedingt Jahrhunderte zurückgehen, bis in die Zeit des Absolutismus, um den zu den Funktionsbedingungen des NS-Systems zählenden extremen Idealismus zu erklären, der die "Generation des Unbedingten" (Michael Wildt) beseelte? Bietet die Untersuchung der Sozialisationsbedingungen während des Ersten Weltkriegs dafür nicht Stoff genug? Ist das Vorhandensein einer "besonders bösartigen Variante" von Glaubens- und Verhaltenslehren, die auch andernorts vorkommen, tatsächlich das Produkt einer longue durée oder nicht doch eher kurzfristig-situativ bedingt?

Die lange Hand der Krieger

Je länger man in diesem Buch liest, desto erstaunter ist man über die Monomanie, mit der hier nicht nur eine einzelne Epoche, sondern die deutsche Geschichte insgesamt als Gewaltgeschichte gedeutet wird, als Geschichte eines mindestens bis 1945 gescheiterten Zivilisationsprozesses, durch die Deutschland zum Unglück Europas und der Welt geworden sei. Zwar habe sich auch hier, wie in England, Holland, Frankreich, ein Bürgertum gebildet, das an friedlicher Erwerbsarbeit, rechtlicher und moralischer Regulierung der Sozialbeziehungen, ja an einer Ordnung der Welt im Sinne humanistischer Ideale interessiert gewesen sei, doch sei es mit diesen Bestrebungen letztlich nicht durchgedrungen. Der deutsche Nationalstaat sei nicht von ihm, sondern von dem nach wie vor mächtigen Adel gegründet worden, der die aufstrebenden bürgerlichen Schichten mit seinem Kriegerethos und seinem "Kanon der Ehre" imprägniert und von ihrem eigenen Wesen entfremdet habe. Belegt wird diese Behauptung mit eingehenden Schilderungen der Mensurpraktiken in den schlagenden Verbindungen, mit der Rolle des Duells auch und gerade unter Mitgliedern des Bürgertums sowie mit der nicht zu leugnenden Hemmungslosigkeit in der Gewaltausübung, die für die militärische Führung nicht weniger als für viele einfache Soldaten schon während des Krieges von 1870/71 charakteristisch gewesen sei.

Einen "Zivilisationsbruch" im Sinne eines zeitlich limitierten, einmaligen Aktes, wie er gerade in diesen Tagen von allen Seiten beschworen wird, hat es deshalb nach Elias strenggenommen nicht gegeben. Die neuere deutsche Geschichte ist vielmehr die Antizivilisation in Permanenz, vielleicht in an- und abschwellenden Graden, aber doch im Sinne eines Kontinuums "barbarischer" Dispositionen.

Man könnte Elias zugute halten, daß diese Sichtweise dem Schockerlebnis des Zweiten Weltkriegs und der Schoa geschuldet ist. Tatsächlich folgt sie jedoch zwingend aus den Prämissen seiner Zivilisationstheorie, die schon in den dreißiger Jahren entwickelt wurde. Diese Theorie ist von ihren Grundbegriffen her so angelegt, daß Zivilisation und Gewalt - genauer: nicht-monopolisierte, nicht vom Staat kontrollierte Gewalt - einander ausschließen, so daß jedes Auftreten gesellschaftlicher Gewalt als Anzeichen einer unvollkommenen Zivilisation gilt und entweder als Fortbestehen oder als Wiederkehr von "Barbarei" gilt - tertium non datur.

Wenn diese Dichotomie dann auch noch soziologisiert und mit bestimmten Trägerschichten korreliert wird, ist der Schematismus perfekt. Man hat dann auf der einen Seite Wildheit und Barbarei als Wesensmerkmale von Krieger- und Adelsgesellschaften, Zivilisation als Charakteristikum der bürgerlichen Gesellschaft und zwischen Schwarz und Weiß noch einige Grautöne, die aber nichts an der Reinheit und Ausschließlichkeit der Extrempole ändern. Eine bürgerliche Ordnung, in der Gewalt aus den Bauprinzipien dieser Gesellschaft, etwa den Folgen des Marktgeschehens und der Konkurrenz, entspränge, ist von hier aus begrifflich ausgeschlossen, wie auch ein Bürgertum, das nicht weltbürgerlich, moralorientiert und humanistisch wäre. Trifft die empirisch-historische Analyse gleichwohl auf das Gegenteil, nämlich gewalttätige Bürger, verbucht der Zivilisationstheoretiker dies sogleich als Versagen des Bürgers vor seinem Beruf, als Unterwerfung unter und Identifizierung mit vorbürgerlichen Modellen. So ist für Elias das Zurechnungssubjekt für die deutsche Katastrophe nur der Bürger im empirischen, nicht aber im strukturellen Sinne, insofern das deutsche Bürgertum eben nicht als Bürgertum, sondern als Geschöpf des Adels agiert.

Der Bürger im Kasernenhof

Ein derart einseitiges Verständnis des deutschen Bürgertums zieht eine entsprechend verzerrte Sicht der vorbürgerlichen Geschichte nach sich. Für den Zivilisationstheoretiker haben die Stände und Klassen Aufgaben, nach denen sie benotet werden. Aufgabe des Adels ist es, dafür zu sorgen, daß aus der Vielherrschaft eine Einherrschaft wird, um auf diese Weise die Monopolisierung der physischen Gewaltsamkeit im Staat vorzubereiten, die conditio sine qua non der Zivilisation. Der französische und englische Adel bewältigt diese Aufgabe und erhält deshalb gute Noten. Der deutsche dagegen erreicht das Klassenziel nicht. Er bringt zwar einen gewissen Konzentrationsprozeß zustande, bleibt aber in der Vielstaaterei stecken. Erst als sich in einem dieser Staaten, Preußen, ein neuartiger Militäradel bildet, gelingt es, den Prozeß weiter voranzutreiben. Sozial kann nun der Adel tonangebend bleiben, doch ist der Ton, der die Musik macht, derjenige des Kasernenhofs und nicht des höfischen Salons. Unter diesen Bedingungen kann sich eine Verschmelzung des adligen Kanons mit dem bürgerlichen nur nach der Seite des ersteren vollziehen, nicht, wie im Westen, nach der des letzteren.

Zugegeben: Das ist etwas vergröbert. Hin und wieder fällt sich Elias selbst in die Parade und macht darauf aufmerksam, daß sich das deutsche Bürgertum den adligen Kanon nicht unverändert aneignet, ihn vielmehr seinen Voraussetzungen anpaßt. Aber erstens ändert diese Kautel nichts an der Zuweisung des Adels zur Antizivilisation, und zweitens reduziert Elias die bürgerliche Zutat auf eine Leistung der Reflexion: Was vorher aus "Tradition" getan worden sei, werde nun mit Bewußtsein getan - womit zugleich gesagt ist, daß sich die Handlung als solche gleichbleibt. Ein Nachdenken über spezifisch bürgerliche Formen der Gewaltsamkeit wird damit abgeschnitten; wie auch kein Gedanke daran verschwendet wird, welche Änderungen eigentlich für den Adel mit dem Eintritt in eine bürgerliche Gesellschafts-, Rechts- und Wirtschaftsordnung verbunden sind.

Das Szenario muß nicht weiter ausgeführt werden. Die Konturen sind deutlich genug. Elias operiert mit Idealtypen, die zwar sinnadäquat, aber nicht kausaladäquat sind. Er bemüht sich zwar, Werturteile zurückzudrängen, doch ist seine Darstellung des Zivilisationsprozesses einerseits, der Entzivilisierungs- und Barbarisierungsschübe andererseits so voller impliziter Werturteile, daß eine differenzierte Analyse blockiert wird. Der Nationalsozialismus, sagt Elias an einer Stelle, folge gewiß nicht notwendig aus der deutschen Geschichte, sondern stelle nur eine ihrer Möglichkeiten dar. Aus der Perspektive der Zivilisationstheorie sind jedoch andere Möglichkeiten nicht erkennbar. Wenn im öffentlichen Bewußtsein der Gegenwart die deutsche Vergangenheit mehr und mehr auf die miserable Personnage zusammenschrumpft, die die Bildwelten eines George Grosz und eines Otto Dix bevölkert, dann hat daran auch die Zivilisationstheorie ihren Anteil.

STEFAN BREUER

Norbert Elias: "Studien über die Deutschen". Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Michael Schröter. Gesammelte Schriften, Band 11. Bearbeitet von Nico Wilterdink. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 665 S., geb., 38,- [Euro].

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