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Die Erfahrung der Stadt ist eines der großen Themen im Werk Irina Liebmanns. In den achtziger Jahren hat die Autorin für ein großes Romanprojekt die Vergangenheit eines der spannendsten Bezirke der Hauptstadt recherchiert: des Scheunenviertels rund um die Große Hamburger Straße und den Hackeschen Markt. Dabei hat sie auch fotografiert - und was zunächst als Gedächtnisstütze gedacht war, geriet zu einer ganz eigenwilligen, poetischen Bilderserie. Sie wird hier erstmals publiziert. Es ist die sehr subjektive, aber darum umso wahrhaftigere Bestandsaufnahme eines Quartiers, das heute zu den…mehr

Produktbeschreibung
Die Erfahrung der Stadt ist eines der großen Themen im Werk Irina Liebmanns. In den achtziger Jahren hat die Autorin für ein großes Romanprojekt die Vergangenheit eines der spannendsten Bezirke der Hauptstadt recherchiert: des Scheunenviertels rund um die Große Hamburger Straße und den Hackeschen Markt. Dabei hat sie auch fotografiert - und was zunächst als Gedächtnisstütze gedacht war, geriet zu einer ganz eigenwilligen, poetischen Bilderserie. Sie wird hier erstmals publiziert. Es ist die sehr subjektive, aber darum umso wahrhaftigere Bestandsaufnahme eines Quartiers, das heute zu den meistbesuchten Gegenden der Stadt zählt. Den Fotografien sind höchst aufschlussreiche Tagebuchaufzeichnungen Irina Liebmanns aus jener Zeit an die Seite gestellt, in einem literarischen Essay reflektiert die Autorin ihr heutiges Bild von Berlins Mitte.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.05.2010

Eine Rumpelkammer mit Weltstadt-Möbeln
Irina Liebmann hält das Bild der stillen Mitte Ost-Berlins in den Achtzigern fest – eine „Idylle des Ausgeschaltetseins“
„Wäre es schön? Es wäre schön“ erschien vor zwei Jahren. Es war das Buch, das viele so lange schon von Irina Liebmann erhofft hatten, der Bericht über ihren Vater Rudolf Herrnstadt, Mitglied des ZK der SED und führender Journalist der DDR, der nach dem 17. Juni 1953 entmachtet und ins Archiv nach Merseburg abgeschoben worden war. „Wäre es schön? Es wäre schön“ war beim Publikum wie in der Kritik ein großer Erfolg, ein Bild aus der Frühzeit der DDR und ihren enttäuschten Hoffnungen. Nun hat sich Irina Liebmann in einem hübschen, schmalen Band der Spätzeit des sozialistischen Deutschlands zugewandt.
Anfang der achtziger Jahre begann sie sich für die Reste des alten Berlins zu interessieren, für das Viertel zwischen Friedrichstraße und Alexanderplatz nördlich des Hackeschen Marktes, der noch Marx-Engels-Platz hieß. Seinerzeit war das kein gesuchtes Wohn- und Geschäftsviertel, von Touristen wurde es links liegengelassen, alles ganz unschick, „eher eine Rumpelkammer mit Möbelstücken der Weltstadt Berlin. Ein ganzes großes Wohnzimmer verwitterte da und verstaubte“.
Aber diese überlebte Welt passte in die Lebenslage der Autorin. Überlebt war das Zusammenleben mit ihrem Freund, von dem sie sich trennen wollte. Und überlebt war die DDR. „Weg aus der DDR! Jeder wollte es damals, in meiner Umgebung jedenfalls jeder, der irgendwann begriffen hatte, dass es in unserer Lebenszeit für den Einzelnen nicht mehr Freiheit geben würde.“ Wer sich aber dennoch nicht entscheiden konnte zu gehen, der suchte sich eine schöne Aufgabe. Liebmann verließ die DDR erst 1987, ihre Aufgabe hieß Stille Mitte von Berlin“.
Die Recherche begann in historischen Adressbüchern. Mit den dort gesammelten Informationen besuchte sie alte Leute, vor allem Frauen und ließ sich aus der Märchenwelt der Vergangenheit berichten. „Zeijense mal her“: „Jordan . . ., wennse bei dem reinkamen, dachtense, Sie sind bei de Neger, allet voller Waffen.“ „Langner, die Frau hat so um ihren gefallenen Mann getrauert, det war ja schon Angabe.“ Und dann die Erzählung von den Prostituierten: Immer wieder „Uuuh!“
Nach dem Krieg hätten die Anwohner die Mulackstraße, Zentrum des Straßenstrichs, am liebsten nach dem Widerstandskämpfer Franz Mett umbenannt. Doch nicht aus Achtung vor dem Widerstand, sondern aus dem Wunsch, den schlechten Ruf der Straße loszuwerden. Die Erben aber weigerten sich. Dass die Eigentümer am bürgerlichen Ruf so wenig interessiert waren!
Solche Splitter der Vergangenheit haben immer ihren Reiz. Aber für Irina Liebmann stellen sie sich noch anders dar. „Wir waren Kinder der DDR. Geschichte war uns eine Selbstverständlichkeit, ,das Historische’ an allem, was uns umgab.“ Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft waren die Leitbegriffe, „im Zentrum von allem“ die DDR. Man lachte darüber, so Liebmann, aber es machte das Historische auch handlich.
„Historisch“ – das signalisierte: Nichts von dem, was jetzt zur Sprache komme, müsse man auf sich beziehen. „Historisch, das war mir damals ein Wort für Gefühllosigkeit geworden. Ein Wort für Taubheit und Kälte.“ Mit ihren Nachforschungen zum Alltag, zum Erleben der Nachbarn wachte die Geschichte wieder auf, rückte näher und wurde unhandlich. Und besonders natürlich die Geschichte der Juden, die dort gelebt hatten und später aus dem Sammellager im jüdischen Altersheim deportiert wurden. Ganz unterschiedlich erinnern sich die alten Frauen: offen, vorsichtig, langsam, manchmal auch erst bereitwillig, dann abweisend.
Man lernt über die Jahre des Nationalsozialismus bei Liebmann nicht unbedingt Neues. Aber man erfährt, wie schwierig es ist, sich zur Geschichte zu verhalten und wie widersprüchlich die Eindrücke sind, bis in die Gegenwart. Eine Schulleiterin erklärt Liebmann Anfang der 1980er Jahre, die Jugendlichen seien alle zu angepasst, sie selber sei es auch, „Das verdanke ich nur meiner Bravheit, dass ich jetzt als Direktor vor Ihnen sitze“. Aber dass jemand seine Anpassung zur Sprache bringt, dass zeugt doch wieder von Unangepasstheit. „Es gab viel Offenheit unter den DDR-Bürgern“.
Die Jahre der untergehenden DDR zeigen sich Liebmann als eine „Idylle des Ausgeschaltetseins“, als „Pause, die die Geschichte sich leistete“. Die Autorin sehnt sich nicht danach zurück. Aber es gibt eine Milde der verstreichenden Zeit. Die 48 Photos, die Liebmann vor nun fast dreißig Jahren gemacht hat, zeigen ein ruhiges, leises Viertel. Keine Zeichen lebhafter Geschäfts- oder Berufstätigkeit, wenige Menschen auf den Straßen, ein Schulmädchen im gestreiften Kleid und Matrosenkragen ist das stärkste Lebenszeichen. Selbst die Farben sind milde geworden im Verbleichen – oder waren sie nie kräftiger? „Stille Mitte von Berlin“ ist nicht ein Hauptwerk Irina Liebmanns, aber ein schöner Seitenzweig.
STEPHAN SPEICHER
IRINA LIEBMANN: Stille Mitte von Berlin. Eine fotografische Spurensuche rund um den Hackeschen Markt. Berlin Verlag, Berlin 2009. 114 Seiten, 18,00 Euro.
Rund um den Hackeschen Markt fotografierte Irina Liebmann in den achtziger Jahren, auch dieses Schulmädchen mit Matrosenkragen. Abb. aus dem bespr. Band
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