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Mehrere Hunderttausend sowjetische Besatzungsangehörige waren von 1945 bis 1955 in Österreich stationiert. Barbara Stelzl-Marx untersucht erstmals systematisch ihre Mikrogeschichte. Ausgehend von der Besatzungsorganisation lässt sie die individuellen Erlebnisse von Armeeangehörigen und Offiziersfamilien, das Alltagsleben in den Kasernen, ihre Freizeitaktivitäten, ideologischen Schulungen sowie Strafen für Vergehen bis hin zum Umgang mit "Russenkindern" und verbotenen Liebesbeziehungen lebendig werden.
Auf der Basis von Archivdokumenten, Armeezeitungen, Interviews, Fotografien,
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Produktbeschreibung
Mehrere Hunderttausend sowjetische Besatzungsangehörige waren von 1945 bis 1955 in Österreich stationiert. Barbara Stelzl-Marx untersucht erstmals systematisch ihre Mikrogeschichte. Ausgehend von der Besatzungsorganisation lässt sie die individuellen Erlebnisse von Armeeangehörigen und Offiziersfamilien, das Alltagsleben in den Kasernen, ihre Freizeitaktivitäten, ideologischen Schulungen sowie Strafen für Vergehen bis hin zum Umgang mit "Russenkindern" und verbotenen Liebesbeziehungen lebendig werden.

Auf der Basis von Archivdokumenten, Armeezeitungen, Interviews, Fotografien, Dokumentarfilmen und Memoiren entwirft sie ein detailliertes Bild der Wahrnehmung von Kriegsende und Besatzungszeit sowie der institutionalisierten und privaten Erinnerung in der (post-)sowjetischen Gesellschaft.

Barbara Stelzl-Marx, geboren 1971, Zeithistorikerin, ist stellvertretende Institutsleiterin am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt, Lektorin an der Karl Franzens-Universität Graz und Vizepräsidentin der Österreichischen UNESCO-Kommission. Ihr Buch "Stalins Soldaten in Österreich" erhielt im März 2012 den Josef-Krainer-Würdigungspreis für Zeitgeschichte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2012

Russenkinder und Walzerkönig
Die sowjetische Besatzungszeit in Österreich in den Jahren 1945 bis 1955: "Befreier vom faschistischen Joch"

Als die Wehrmachtsspitze im sowjetischen Hauptquartier Berlin-Karlshorst am 8. Mai 1945 kapitulierte, war die "Ostmark" ein Heerlager alliierter Siegertruppen: 700000 Soldaten standen auf österreichischem Boden. In ihrer Besatzungszone stellten die 400000 Rotarmisten das größte Kontingent. Familienangehörige von Offizieren, Geheimdienstler, Dolmetscher sowie "Spezialisten" gehörten auch zum Besatzungsapparat. Der sah sich alsbald vor enorme Probleme gestellt. Eindringlich mahnte die Militärführung, "den Versuchungen des Lebens zu widerstehen" und sich "in gebührender Weise" zu benehmen. Marschall Iwan Konjew, Oberbefehlshaber der Zentralen Gruppe der Streitkräfte, erteilte im September 1945 eine Weisung zur Einhaltung der Disziplin, zum "Unterbinden des Marodierens" und der illegalen Beschlagnahme österreichischen Eigentums, zur Ahndung von Schwarzmarktgeschäften sowie zum Verbot des Besuchs von Volksfesten, Nachtlokalen, Cafés und - insbesondere für Unteroffiziere und Mannschaften - von Gaststätten mit Alkoholausschank.

Anlass dazu bestand mehr als genug: Plünderungen und Vergewaltigungen erschwerten den "Kampf um Einfluss auf die Masse der Bevölkerung". Nicht nur das Ansehen der Roten Armee, sondern das der Sowjetunion stand auf dem Spiel. Politische Schulung, interne Kontrolle und die Bestrafung "moralisch zersetzter" Militärangehöriger sollten das negative "Russenbild" korrigieren. Schwer wogen Fälle von Desertion und einhergehender Folgeverbrechen. Es kam nicht von ungefähr, dass "Spionage, Preisgabe einer geheimen militärischen oder staatlichen Information, Überlaufen auf die Seite des Feindes, Flucht oder Absetzen ins Ausland" unter den Begriff des "Vaterlandsverrats" fielen. Gegen Deserteure verhängte das Militärtribunal in Baden bei Wien die Todesstrafe. Wie bei allen "unerfreulichen Vorfällen" wurden auch die jeweiligen Vorgesetzten zur Rechenschaft gezogen und die Schuld in "fehlender politisch-ideologischer Schulung" gesehen.

Mit Beginn der Besatzung spannte Moskau ein geheimdienstliches Netz nicht allein über seine Zone, sondern über das gesamte österreichische Terrain. Die Grenztruppen des Volkskommissariats beziehungsweise des Ministeriums für Innere Angelegenheiten (NKWD/MWD) waren nicht nur für "Säuberungen" im Besatzungsgebiet zuständig, sondern bespitzelten auch die eigenen Militärangehörigen. In großangelegten Razzien nahmen sie "feindliche Elemente" unter der Bevölkerung und den Rotarmisten fest. Die Kommandeure waren verpflichtet, der Gegenspionage-Organisation "Smer" (wörtlich: Tod den Spionen) "verbrecherische Elemente" zu übergeben. Zwischen 1950 und Stalins Tod 1953 verschwanden mehr als tausend "Spione" aus Österreich im Moskauer Butyrka-Gefängnis, wo man sie erschoss und ihre Leichname verbrannte.

Der Roten Armee machte in Österreich vor allem die "Trunksucht" zu schaffen. In internen Berichten war von "zunehmenden Alkoholexzessen" die Rede, und die Führung gestand ein: "Die Grundlage beinahe sämtlicher Verbrechen bilden Saufereien und Verbindungen zu einheimischen Frauen, mit allen damit einhergehenden Folgen". Zwar stießen "Russenliebchen" in Österreich auf Ächtung, auch sah die Militärführung "gefährliche Werkzeuge westlicher Geheimdienste" in ihnen, ließ etliche wegen Spionage in Moskau erschießen und verbot generell die Verehelichung mit einer Ausländerin. Gleichwohl kam es in hoher Zahl zu sexuellen Kontakten sowie zu ungefähr 20000 "Russenkindern" - nicht nur, aber vornehmlich infolge Vergewaltigung. Barbara Stelzl-Marx geht jetzt davon aus, dass 270000 Frauen von Rotarmisten vergewaltigt worden sein dürften: 240000 in Wien und Niederösterreich, 20000 im Burgenland, 10000 in der Steiermark. Zu welcher Rücksichtslosigkeit Requirieren und Beutemachen - die Konfiskation hunderter Betriebe und die Demontage von Anlagen ließ 31000 Waggonladungen gen Moskau rollen - bisweilen führte, machen Geheimdienstberichte deutlich. Sie legen offen, dass die "Befreier vom faschistischen Joch" nicht einmal vor dem Eigentum "befreiter" einheimischer Kommunisten haltmachten.

Frau Stelzl-Marx entwirft anhand von Dokumenten und Materialien aus russischen Archiven sowie durch Befragungen noch lebender Veteranen ein detailreiches Bild der sowjetischen Besatzung in Österreich. Die Autorin widmet sich auch der sowjetrussischen Erinnerungskultur, stellt Fotos von Soldaten, die das ihnen Fremde ablichteten, den professionellen Propaganda-Dokumentarfilmen und der Berichterstattung in Soldatenzeitungen gegenüber, welche für das von Moskau erwünschte Besatzungsbild sorgen sollten. Sie kommt zu dem Schluss, dass das Österreich-Bild der Rotarmisten summa summarum positiv ausfiel und von der "Assoziationskette Sieg - Frühling - Jugend - Wienerwald - Musik, vor allem des Walzerkönigs Johann Strauß" geprägt war.

Die von den Besatzern vorgefundenen Lebensbedingungen unterschieden sich drastisch von jenen in der Sowjetunion. Daher fielen sie oft einer Art Kulturschock anheim. Typisch dafür ist der Fall des jungen Offiziers Michail Schilzow. Der meinte zu Seinesgleichen, in Österreich gebe es "in jedem Haus Strom, während die Dörfer in meiner Heimat vermutlich nie elektrifiziert werden". In Städten fänden sich "Lüster, luxuriöse Häuser, Kleidung, während meine Familie Hunger leidet und nichts anzuziehen hat". Daher werde die Sowjetunion "Europa niemals ein- und überholen können". Derartige "Lobpreisungen der kapitalistischen Ordnung" konnten nicht ungestraft bleiben. Der 27 Jahre alte Leutnant wurde seines Ranges enthoben, unehrenhaft aus der Armee entfernt und aus der KPdSU ausgeschlossen. Wie er mussten nicht wenige Sieger die Diskrepanz zwischen fremdländischem und heimatlichem Lebensstandard als Niederlage empfinden - mitunter als persönliche.

REINHARD OLT

Barbara Stelzl-Marx: Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955. Verlage Böhlau und Oldenbourg, Wien/München 2012. 865 S., 49,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit Interesse liest Reinhard Olt über das Österreich-Bild der Rotarmisten. Was Barbara Stelzl-Marx in ihrer Studie an Material aus russischen Archiven und aus der Befragung von Veteranen verarbeitet, zeigt ihm neben der Walzerseligkeit der Russen aber auch die Rücksichtslosigkeit der Besatzer, die laut Autorin während der Besatzungszeit rund 270.000 österreichische Frauen vergewaltigt haben. Zu den Dokumenten der detailreichen Studie gehören laut Olt auch Propaganda und Teile privater Erinnerungskultur, die die Autorin einander gegenüberstellt.

© Perlentaucher Medien GmbH