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Deutschland als De-facto-Einwanderungsland muß neu bestimmen, was und wer ein Staats-Bürger ist. Dieses Buch zeigt, warum wir uns damit schwertun, und es beschreibt ein anderes Modell: Frankreich.

Produktbeschreibung
Deutschland als De-facto-Einwanderungsland muß neu bestimmen, was und wer ein Staats-Bürger ist. Dieses Buch zeigt, warum wir uns damit schwertun, und es beschreibt ein anderes Modell: Frankreich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995

Wer ist das Volk?
Rogers Brubakers Vergleich französischer und deutscher Staatsangehörigkeit / Von Ernst-Wolfgang Böckenförde

Dies ist ein wichtiges, zur Nachdenklichkeit anregendes Buch. Mit der Unbefangenheit, die einem Amerikaner eigen ist, wenn er den Blick auf Europa, seine Traditionen und seine Probleme richtet, greift Rogers Brubaker ein Thema auf, das Anlaß nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zu weiterführender Diskussion gibt: die unterschiedliche Abgrenzung der Staatsangehörigkeit in zwei Nationalstaaten im Herzen Europas, nämlich Frankreich und Deutschland; sie ist in ihren Auswirkungen durchaus weittragend und wird jeweils von einem eigenen Konzept der Nationalität getragen. Die unterschiedlichen Auswirkungen werden deutlich im Verhältnis zu den ansässig gewordenen, das heißt auf Dauer, eventuell in mehreren Generationen im Land lebenden Einwanderern. Das französische Staatsvolk definiert sich - vermöge des ius soli - ihnen gegenüber expansiv, als territoriale Gemeinschaft, die sie einbezieht; das deutsche Staatsvolk - vermöge des ius sanguinis - restriktiv, als Abstammungsgemeinschaft, die sie, abgesehen von individueller Einbürgerung, nicht einbezieht.

Brubaker bleibt nicht dabei stehen, dies zu konstatieren, um dann etwa in der einen oder anderen Richtung zu polemisieren. Er nimmt das Thema als Soziologe, zugleich aber historisch und politologisch in Blick. Er sucht sowohl die Ursprünge, die ideenpolitischen Grundlagen, wie auch die Funktion und Wirkungsweise der nationalen Staatsbürgerschaft und ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung darzustellen. Damit wird die geläufige isoliert juristische Betrachtung der Staatsangehörigkeit verlassen. Brubaker erforscht und erklärt den historisch-politischen Bezugsrahmen und Kontext, in dem die rechtlichen Regelungen der Staatsangehörigkeit jeweils stehen und ihre Grundlage haben. Er erhellt anhand aufschlußreichen Fallmaterials die Funktion der Staatsangehörigkeit, dieser "spezifisch modernen Institution, durch welche sich jeder Staat als Verband von Bürgern konstituiert und beständig rekonstituiert".

Was bedeutet und bewirkt die Staatsangehörigkeit? Brubaker sieht in ihr, an Max Weber anknüpfend, ein Instrument der "Schließung", und zwar in doppelter Hinsicht: der Abschließung und Abgrenzung nach außen, gegenüber anderen Staaten und (deren) Staatsangehörigen, und der Einschließung nach innen, das heißt der Festlegung der für den einzelnen nicht frei disponiblen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat und der Personengruppe seiner Angehörigen. Und sie erscheint nicht nur als Instrument dieser Schließung, durch die Festlegung der Kriterien der Zugehörigkeit bestimmt sie auch den Gegenstand der Ein- und Ausschließung: das Staatsvolk und die Außenstehenden, Fremden.

Anhand einer von viel Detail- und Literaturkenntnis und gutem historischen Blick getragenen Aufhellung des Ursprungs der Staatsangehörigkeitsregelungen in Frankreich und Preußen macht Brubaker deutlich, wie sehr diese Staatsangehörigkeit eine "junge", erst mit der Konstituierung und Ausformung moderner Staatlichkeit am Ende des 18. und 19. Jahrhunderts hervortretende Erscheinung ist. Einerseits steht sie in engem Zusammenhang mit der Vereinheitlichung und Intensivierung staatlicher Herrschaft nach innen, die die weithin autonomen Zwischengewalten zu entmachten und die Relevanz der ständischen und kooperativ-lokalen Angehörigkeitsbeziehungen zugunsten einer einheitlichen und gleichen Angehörigkeit aller im Land ansässigen Untertanen oder Staatsbürger einzuebnen sucht, andererseits mit der Territorialisierung dieser Herrschaft, die sie von bislang maßgeblichen personenrechtlichen Rechtstiteln unabhängig stellt.

Soweit dies in Frage steht, läuft die Entwicklung der Staatsangehörigkeit in Frankreich und Preußen weithin parallel, unabhängig von demokratischer oder autokratischer Staatsform. Sie folgt in ihren verschiedenen Stufen spezifisch staatlichen Gesichtspunkten, auch wenn die konkreten Anlässe zur ausdrücklichen Regelung verschieden waren.

Andererseits steht die Staatsangehörigkeit in engem Zusammenhang mit der Ausformung des Staates als Personenverband. Im Zuge des Ausbaus und der Intensivierung staatlicher Herrschaft wird die Mitgliedschaft im Staat den ständischen und korporativen Mitgliedschaften gegenübergestellt, die relativiert und eingeebnet werden, bis schließlich die Beziehung zum Staat als der einzige Status politisch-relevanter Zugehörigkeit verbleibt. Staatsangehörigkeit bedeutet so die Übernahme und Wiederherstellung der Mitgliedschaft als organisatorisches Prinzip auf staatlicher Ebene, und zwar in Abwendung von lediglich territorialem Pertinenzdenken. Vollends mit dem Übergang zu demokratischen Organisationsformen wird die Konstituierung des Staates als Personenverband unverzichtbar. Das Volk, die Nation als eine Personengesamtheit, wird Träger und Subjekt der Staatsgewalt, der Staat erscheint als politische Organisation der Nation. Diese Nation bedarf notwendig einer mitgliedschaftlichen Bestimmung und Begrenzung; unmöglich kann sie, auch wenn sie sich zumeist auf ein bestimmtes Territorium bezieht, als bloßer Annex des Territoriums definiert werden.

Damit liegt es aber nahe, ja erscheint als sachlogische Konsequenz, daß die Kriterien für die einschließende und zugleich ausschließende Staatsangehörigkeit vom Selbstverständnis der Nation, wenn nicht bestimmt, so jedenfalls mehr oder minder stark beeinflußt werden. Hier zeigt sich dann die unterschiedliche Auswirkung des französischen und deutschen Nationbegriffs. Brubaker analysiert nachgerade spannend, wie in der Französischen Revolution sich mehreres zusammen und auf einmal vollzog: die Zentralisierung und Konsolidierung staatlicher Herrschaft, die Einebnung der verschiedenen Privilegien und Angehörigkeitsstatus zugunsten einer einheitlich-gleichheitlichen Staatsangehörigkeit, die Konstituierung einer nationalen Demokratie, welche die Kriterien der Zugehörigkeit braucht, nicht zuletzt im Blick auf die politische Teilhabe und damit verbundene Rechte und Pflichten.

Diese Zugehörigkeit zur Nation bestimmte sich in Frankreich nach der willentlichen Zugehörigkeit zum neu von der Nation her konstituierten Staat, dem Willen und Bekenntnis, in und unter dieser Ordnung leben zu wollen. Ganz anders in Deutschland: Der Nationbegriff ist hier nicht politisch-bekenntnismäßig, sondern, wie Brubaker zutreffend konstatiert, ethnisch-kulturell orientiert. Gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte, mithin die - gewordene und bewußtgewordene - ethnische Zugehörigkeit und Eigenart, bestimmen die Nation. Brubaker sucht den Grund für diesen Nationbegriff in der politischen und ethnisch-kulturellen Geographie des 19. Jahrhunderts, insbesondere der ethnischen Verschiedenheit zwischen Deutschen und Slawen und den vielfachen Mischsiedlungen in Ostmitteleuropa und im Osten Deutschlands; erst im Bismarckreich, in der Auseinandersetzung insbesondere mit der Polen-Frage, habe er sich verfestigt.

Diese Sicht ist durch seine Forschungsperspektive, die Vorgeschichte und Entstehung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913, bedingt, greift aber in der Sache erheblich zu kurz; sie geht nicht an den Ursprung zurück. Der Ursprung des deutschen Nationbegriffs liegt am Beginn des 19. Jahrhunderts, in der Ära der napoleonischen Herrschaft und der Befreiungskriege. Die einsetzende politische Bewußtwerdung der Deutschen kam gerade in der Auseinandersetzung mit der napoleonisch-französischen Herrschaft zustande. Ihr gegenüber waren die Deutschen auf sich selbst zurückgeworfen, herausgefordert zur Besinnung auf das eigene Wesen und dessen Erweckung, um daraus Kraft zur Erneuerung und zum Widerstand gegen das Fremde zu finden, das mit dem Frankreich Napoleons identifiziert wurde. Dieses Eigene konnte sich nun aber nicht aus der Beziehung auf den eigenen Staat ergeben, denn ein solcher war nicht vorhanden. So knüpften die Erwecker der Nation, vorab Dichter, Philosophen, Literaten, an die Kriterien an, die im 18. Jahrhundert als für die Kulturnation der Deutschen bestimmend angesehen wurden, nämlich an Sprache, Kultur und Geschichte.

Diese Merkmale wurden aber nun ins Politische gewendet, wurden zu identitätsbestimmenden Merkmalen einer politischen Nation, die auf nationale politische Einheit drängte. Dieses Ziel, der nationale Staat, verband die nationale Bewegung. Nachdem der erste Versuch 1848/49 scheiterte, wurde er erst im Bismarckreich erreicht, so daß sich der Nationbegriff auch hier erst voll - im Blick auf Staatsangehörigkeit, Polen-Politik und ähnliches - auswirken konnte. Richtig weist Brubaker darauf hin, daß die preußische Staatsangehörigkeitsregelung, die bis zur Reichsgründung auch für andere deutsche Staaten prägend war, in keiner Weise von einem spezifischen Nationalitätskonzept, erst recht nicht einem ethnischen Nationbegriff getragen oder beeinflußt war. Sie folgte - in vordemokratischer und vorkonstitutioneller Zeit entstanden - einem staatsbezogen-territorialen Ordnungskonzept.

Zu Preußen gehörten Rheinländer, Westfalen, Ostfriesen, Märker, Pommern, Ostpreußen und nicht zuletzt Polen. Die Staatsangehörigkeit ergab sich im Ausgangspunkt territorial aus der Ansässigkeit, im weiteren dann kraft Abstammung oder Einbürgerung; mehr als zehnjährige Ansässigkeit im Ausland führte grundsätzlich zu ihrem Verlust (Brubaker sieht darin ein "staatsnationales" Regelungskonzept, richtiger wäre die Bezeichnung "transnational"; auf Nationalität kam es gar nicht an).

Erst im Bismarckreich kommt es zu der jetzt auch von Preußen mitgetragenen, von Brubaker näher analysierten "Nationalisierung" der Staatsangehörigkeit auf der Grundlage des ethnisch-kulturellen Nationbegriffs. Dieser wirkt auf die vereinheitlichende Regelung des Staatsangehörigkeitserwerbs und -verlusts ein, ebenso aber, völkisch-emphatisch gesteigert, auf die Einbürgerungs- und Ausweisungspolitik. Brubakers These ist, daß sich seine prägende Kraft bis in die Staatsangehörigkeitsregelungen nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgen läßt, einerseits in der bereitwilligen Aufnahme "volksdeutscher" Einwanderer als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes, andererseits in der Ablehnung jeder Auflockerung des ius sanguinis, auch im Blick auf eine tatsächlich im Land lebende, hier Rechtens ansässig gewordene Einwanderergeneration.

L äßt sich aber das unterschiedliche Regelungskonzept der Staatsangehörigkeit in Deutschland und Frankreich - hier konsequentes Abstammungsprinzip, ius sanguinis, dort ius sanguinis mit ius soli vermischt - überhaupt aus den unterschiedlichen Nationbegriffen herleiten? Ist das Prinzip des ius sanguinis wirklich Ausfluß völkisch-nationalen Denkens, das Prinzip des ius soli hingegen Ausfluß des französischen Nationbegriffs? Muß nicht auch dieser Nationbegriff als ein willentlich-politischer eher auf das Abstammungsprinzip statt auf das Bodenprinzip rekurrieren, das doch gar keinen personalen Konnex aufweist?

Brubakers gründliche Reflexion gibt hier Anlaß zu einer differenzierten Betrachtung; sie ist dazu angetan, vorschnelle Schlüsse und Positionsnahmen in beiderlei Richtung, wie sie in der gegenwärtigen Diskussion um eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts hervortreten, zu relativieren. Er weist darauf hin, daß von einem staatsnationalen Standpunkt aus, wie er im revolutionären und nachrevolutionären Frankreich vorherrschte, das ius sanguinis dem ius soli eher vorzuziehen sei, weil die Abstammung eine substantiellere Gemeinschaft herstelle als die Zufallstatsache des Geburtsorts. In Frankreich wurde auch niemals das ius soli als solches vertreten und festgelegt, sondern immer nur ein bedingtes ius soli in Ergänzung zum geltenden ius sanguinis. Es sollten auch diejenigen als Staatsbürger einbezogen werden, die kraft längerer Ansässigkeit im Staat territorial verwurzelt und davon auch personal geprägt sind.

Dies allerdings entspricht dem französischen Verständnis der Nation, zu dem der Glaube an die Assimilationskraft des territorialen Staates und seiner Institutionen, nicht zuletzt der staatlichen Schule und der Armee, gehört. Die Ausdehnung des ius soli auf die zweite Generation in der Reform von 1889, wonach schon die in Frankreich geborenen Kinder dort nur ansässiger, aber nicht bereits geborener Ausländer Franzosen wurden, war begleitet von der Festlegung der allgemeinen Schulpflicht in staatlich gelenkten Schulen. Es kann mithin keine Rede davon sein, ius sanguinis und Abstammungsprinzip seien als solche einem ethnisch-völkischen Nationbegriff zugeordnet oder gar Ausfluß eines Blut- und Bodendenkens und folglich auf dem Weg der "verspäteten" Nation zu ihrer "Verwestlichung" möglichst abzuschaffen.

In der heutigen Welt folgen mindestens 44 Staaten dem reinen ius sanguinis, darunter Schweden, die Schweiz, Österreich, Polen, Spanien, und weitere 30 Staaten einem kaum eingeschränkten ius sanguinis. Ohnehin ist für die große Masse der im Staatsgebiet lebenden Menschen die Zuschreibung der Staatsangehörigkeit nach ius soli oder ius sanguinis unerheblich; die Kinder der Staatsangehörigen im Staatsgebiet erwerben nach jedem Prinzip die gleiche Staatsangehörigkeit. Die Abweichung vom ius sanguinis gewinnt nur und gerade für die Nicht-Staatsangehörigen im Inland und für die eigenen Staatsbürger im Ausland Bedeutung.

Aktuell werden Staatsangehörigkeitsfragen und ihre Regelungsbedürftigkeit deshalb vor allem dann, wenn Migrationsvorgänge in einen Staat hinein oder aus ihm heraus stattfinden, Probleme hervorrufen und gegebenenfalls Reformdruck erzeugen, sei es durch wirtschaftliche Anziehungskraft für Arbeitssuchende, durch Anwerbung von Gastarbeitern, die ansässig werden, durch Liberalisierung von Einreise und Aufenthalt, sei es durch Auswanderung, Gebietsabtretung oder Gebietsverlust. Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert bieten dafür gute Beispiele, von denen Brubaker einige wichtige für seine Analysen aufgreift. Hier werden in der Tat die unterschiedlichen Nationbegriffe und darauf sich gründenden Nationalitätskonzepte bedeutsam. Sie ziehen bestimmte Problemlösungen vor und schließen andere aus, und zwar in der Richtung, daß jedes Nationalitätskonzept von seinen Prämissen aus die ihm entsprechende Homogenitätsbasis zu sichern sucht.

Daß hier Homogenitätsfragen mit im Spiel sind, bei beiden Nationalitätskonzepten, wird heute gern verdrängt - Carl Schmitt hat ja von Homogenität im Zusammenhang mit Demokratie gesprochen, und deshalb darf es nicht wahr sein. Brubaker bringt die Sache epigrammatisch auf den Punkt: "Die Franzosen verstehen ihre Nation als das Produkt des Staates, die Deutschen sehen ihre Nation als Basis ihres Staates an." Frankreich ist deshalb ein klassisches Land des Zutrauens in die Assimilation durch Ansässigkeit und Aufwachsen (Schulerziehung) im Staat, in Deutschland herrscht Skepsis gegenüber einer Assimilation, weil die Assimilationserwartung auf ethnische Veränderung gerichtet ist.

Verwerfungen entstehen immer dann, wenn im Blick auf die Regelungsgrundlagen, die Einbrüche in das eigene Nationalitätskonzept vermeiden sollen, politisch inkonsistent gehandelt wird. Das war bei der Behandlung der Algerier in Frankreich nach der Unabhängigkeit Algeriens der Fall. Zwar konnten die Algerier sich zwischen der französischen und der algerischen Staatsangehörigkeit entscheiden. Aber die in Frankreich geborenen Kinder der zahlreichen algerischen Einwanderer während des Unabhängigkeitskrieges und in den Jahren danach wurden, weil man keine Sonderregelung schuf, nicht als Ausländer der zweiten Generation behandelt, die erst mit Volljährigkeit Franzosen werden, dies jedoch im Jahr davor ablehnen können; sie erhielten, weil ihre Eltern vor der algerischen Unabhängigkeit "in Frankreich" geboren waren, als Ausländer der dritten Generation definitiv und bedingungslos von Geburt an die französische Staatsbürgerschaft.

Das waren in 25 Jahren (1962-1987) etwa 400000 Franzosen, meist ohne Wissen und Willen. Dies löste, zusammen mit einer großzügigen Einbürgerungspraxis, eine Kritik am französischen Staatsbürgerschaftsrecht aus. Es produziere "français de papier", ohne daß sie "français de coeur" seien. So ergab sich eine heftige Reformdiskussion seit Mitte der achtziger Jahre, in der sich am Ende - der Tradition des staatlich-willentlichen Nationalitätskonzepts entsprechend - freilich das alte Recht bis auf die Einführung einer voluntaristischen Komponente für die Ausländer der zweiten Generation behauptete. Brubakers Darstellung hierzu ist höchst eindrucksvoll.

Die Verwerfung in Deutschland kam dadurch zustande, daß die dauernde Ansiedlung der als Gastarbeiter ins Land geholten Ausländer zugelassen wurde und damit deren tatsächliche Einwanderung und Ansässigkeit. (Die Industrie lehnte das Rotationsprinzip wegen zu häufiger hoher Ausbildungskosten ab.) Das hätte im Sinn des ethnischen Nationalitätskonzepts, handelt man konsistent, nicht geschehen dürfen. So kam es zu mehreren Millionen fest ansässiger Ausländer, die - ungeachtet ethnischer Verschiedenheit - in einer demokratisch-freiheitlichen Ordnung nicht auf Dauer als "Untertanen" oder bloße Schutzverwandte behandelt werden können.

Die gelegentlich erhobene Forderung, deshalb den eigenen, ethnisch orientierten Nationbegriff kurzerhand aufzugeben, ist bestenfalls gut gemeint. Lang verwurzelte Traditionen, die die eigene Identität mit konstituieren, lassen sich nicht über Nacht beiseite setzen, ohne Extremreaktionen zu riskieren; sie können sich allenfalls mit der Zeit umbilden (und dies kann man befördern). Was aber getan werden könnte und müßte, ist, die Folgenverantwortung früherer politischer Entscheidungen zu übernehmen. Das bedeutet konkret, jedenfalls für die dritte Generation der hier durch unsere eigene Politik ansässig gewordenen Ausländer, womöglich auch für die zweite Generation, wenn sie kontinuierlich hier aufgewachsen ist, einen Einbürgerungsanspruch vorzusehen, und zwar ohne Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit. Gerade von unserem Nationalitätskonzept aus muß anerkannt werden, daß der Zwang zur Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit die Zumutung einer Lossagung und Treulosigkeit gegenüber der Herkunftsnation sowie das Zerreißen einer starken emotional-mentalen Bindung bedeutet.

Der Einwand gegen die Doppelstaatsangehörigkeit schlägt demgegenüber nicht durch. Sie zeitigt heute weniger Probleme, als meist angenommen wird. Der existentielle Konflikt aus doppelter Loyalitäts-und Treuebindung verliert überall dort an Relevanz, wo der Ernstfall, eine kriegerische Auseinandersetzung, praktisch nicht mehr vorstellbar ist. Das ist bei allen EU-Staaten, aber auch zwischen Nato-Partnern der Fall. Unterhalb dessen lassen sich mögliche Loyalitätskonflikte weitgehend ausräumen, wenn man - durch internationale Vereinbarungen gestützt - zwischen der aktuellen Staatsangehörigkeit im Wohnsitzland, an die politische Rechte und Pflichten anknüpfend, und einer ruhenden Staatsangehörigkeit im Herkunftsland unterscheidet, was sich bei Wohnsitzwechsel dann umkehrt. Auch über andere rechtliche Fragen kann man zu Vereinbarungen kommen. Es bedarf mithin keiner übermäßigen Phantasie, um annehmbare, beiderseits verträgliche Lösungen zu finden. Aber man muß sie wollen. Brubakers an Kenntnissen, Analysen und Reflexionen reiches Buch, das niemals aus nüchterner wissenschaftlicher Betrachtung ausbricht, ist geeignet, dazu Hilfe zu leisten.

Rogers Brubaker: "Staats-Bürger". Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich. Mit einer Einführung von Ulrich Bielefeld. Aus dem Amerikanischen von Wiebke Schmaltz. Junius Verlag, Hamburg 1994. 303 S., geb., 58,- DM.

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