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Sein Roman "Flughunde" hat den Erzähler und Lyriker Marcel Beyer auch international bekannt gemacht. An die Stimmengeschichte um einen Tontechniker im Propagandadienst von Joseph Goebbels knüpft "Spione" an: literarische Spurensuche in der deutschen Geschichte, die bis in die Zeit vor dem "Totalen Krieg" zurückreicht. Zu Spionen in ihren Familien werden die Jugendlichen Carl, Paulina und Nora, Cousin und Cousinen des Ich-Erzählers. Wo andere in den Fotoalben blättern, deren Aufnahmen die Eltern und Großeltern erinnern und Generationsgeschichte erzählen, stoßen sie auf Geheimnisse, auf…mehr

Produktbeschreibung
Sein Roman "Flughunde" hat den Erzähler und Lyriker Marcel Beyer auch international bekannt gemacht. An die Stimmengeschichte um einen Tontechniker im Propagandadienst von Joseph Goebbels knüpft "Spione" an: literarische Spurensuche in der deutschen Geschichte, die bis in die Zeit vor dem "Totalen Krieg" zurückreicht.
Zu Spionen in ihren Familien werden die Jugendlichen Carl, Paulina und Nora, Cousin und Cousinen des Ich-Erzählers. Wo andere in den Fotoalben blättern, deren Aufnahmen die Eltern und Großeltern erinnern und Generationsgeschichte erzählen, stoßen sie auf Geheimnisse, auf Verschwiegenes und Verborgenes. Was war das für eine Liebesgeschichte um den Großvater, der im November 1936 aus dem Blick seiner Verlobten verschwand, um sich der "Legion Condor", dem Geheimeinsatz der Deutschen Luftwaffe während des Spanischen Bürgerkriegs, anzuschließen? Lebt er noch? Wer war die scheinbar früh verstorbene Großmutter, die Opernsängerin mit den "Italiener augen"? Hat die zweite Frau des Großvaters die Familienalben gesäubert und "Erinnerungsverbote" verhängt? Warum können die vier ihr nie leibhaftig begegnen?
Aus Fragen werden Verdächtigungen, aus Heimlichkeiten und Gerüchten entstehen Wahn und Überwachung. Die Gestorbenen entziehen den Lebenden die Aufmerksamkeit. Wie ein Spion bewegt sich der Erzähler zwischen den Generationen, zwischen den Lebenden und den Toten, der Vergangenheit und Gegenwart. Im Ineinander von Tatsachenrecherche und Fiktion, im Wechselspiel von Verschweigen und Erzählen fragt Marcel Beyer: Kann man mit Worten töten? Er erzählt suggestiv von den Verstrickungen in einer deutschen Familie - von den 30er Jahren über den Deutschen Herbst der 70er Jahre bis in die Gegenwart.
Autorenporträt
Marcel Beyer, geboren 1965, lebt in Köln und Dresden. Er schreibt Gedichte und Romane. 2006 erhielt Marcel Beyer den "Erich Fried-Preis" und 2008 den "Joseph-Breitbach-Preis". Im Jahr 2012 wurde er zum 39. Stadtschreiber von Bergen-Enkheim ernannt. 2014 wurde er mit dem "Kleist-Preis" und dem "Oskar Pastior Preis" ausgezeichnet, und 2016 mit dem "Düsseldorfer Literaturpreis" und dem "Büchner-Preis".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2000

Allein vor weitem Flur
Marcel Beyer spioniert in fremden Alben · Von Thomas Wirtz

Es ist alles eins: Nach seinem wichtigen Roman "Flughunde" (1995) ist Marcel Beyer erneut in die braune Mördergrube hinabgestiegen, um die langen Schatten des Nationalsozialismus zu beschwören. Die Schallplatten, in die Hermann Karnau damals die Stimmen der Goebbels-Kinder preßte, sind durch ein Fotoalbum ersetzt, in dem Untote fortleben. Die letzten Tage der Unmenschheit im Führerbunker nehmen jetzt die Flugübungen der Legion Condor vorweg, die 1936 mit Bomben in den Spanischen Bürgerkrieg eingriff. Und wieder gibt es einen Ich-Erzähler, der ganz nah an der jüngsten Gegenwart steht, doch Auge und Ohr solange nicht von seinen Vergangenheitsfunden abwenden kann, bis die Zeiten ineinandertrudeln. So scheint zwischen den Werken alles eins, Marcel Beyer ein Wiedergänger auf selbstgetretenen Pfaden, sein neuer Roman "Spione" ein nachgeborener Zwillingsbruder, das literarische Wagnis von einst jetzt eine Nachahmungstat. Und doch ist es ganz anders: Marcel Beyer hat das Erinnern nur deshalb erneut zu seinem Thema gemacht, weil es ihm gänzlich unsicher geworden ist. "Spione" mag ein Zwillingsbruder sein - aber einer, der den erstgeborenen Roman erschlagen will. Alles in ihm ist unsicher. Alles könnte auch ganz anders sein. Nicht einmal sicher ist, ob überhaupt etwas geschehen ist.

Der Roman beginnt, so können wir vielleicht noch mit einigem Recht mutmaßen, kurz vor dem deutschen Herbst des Jahres 1977. Noch kriechen keine Terroristen durchs Unterholz, sondern nur vier kaum mehr kindliche Detektive, denen die Welt suspekt zu werden beginnt. Nora, Paulina, Carl und ihr namenloser, etwa zwölfjähriger Cousin, das meist erzählende Ich, streifen durch die Feriengegend, entdecken eine Schaumzuckerfabrik, die Mohrenköpfe im Akkord herstellt, den Ehestreit ihrer Eltern und schließlich ein altes Fotoalbum. Aufregend sind die eingeklebten Bilder, die nichts ahnende Ausgelassenheit der frühen dreißiger Jahre, der Großvater als früher Uniformträger, schließlich die Wohnhausreste nach einem Bombenangriff. Unbekannte Gesichter gilben in diesem Album langsam hinweg, die "Italieneraugen" der Großmutter stechen kaum mehr kohlschwarz aus der Verschwommenheit herbor, unheimliche Augen, die alle Enkel angeblich mit ihr teilen. Diese Augen ziehen die vier Betrachter an und fordern sie auf, eine irgendwann verlorengegangene Lebensgeschichte herauszulesen.

Das eigentliche Ereignis aber sind nicht die eingeklebten Aufnahmen, sondern die ebenso sichtbaren Lücken: verlassene Fotoecken, leergeräumte Bildseiten, Mahnmale eines Verlusts. Diese Lücken sind der Anfang des Erzählens, ein Vakuum, das alle freischwebende Phantasie mit plötzlich konzentrierter Wucht in sich hineinzieht: "Was ich nicht sehen kann, muß ich erfinden." Aus solchem Antrieb, den Tatsachenriß mit Mutmaßlichem zu kitten, kann großes Erzählen entstehen. Wenige Anhaltspunkte reichen, um daraus ein Netz von Bezügen zu knüpfen. Momentaufnahmen wachsen zu Familienromanen aus, das eine Blitzlicht strahlt auf eine ganze Biographie zurück. Die Künder üben diesen Möglichkeitssinn, der vom Sammeln zum Anschauen, vom Vermissen zum Erzählen, vom Finden zum Erfinden sich ausdehnt. Das Album macht aus ihnen Detektive, und dann, auf einmal, steht die ganze Wirklichkeit unter Verdacht.

So wartet die Lücke an beiden Anfängen: an dem der Literatur, wo die Phantasie sich kopfüber in den Tatsachenspalt hineinzwängt und zwischen allen Leerstellen groß und stark werden will - und am Beginn der Paranoia, die Tatsachen nur als Belegstellen eines unwiderlegbaren Mißtrauens hinnehmen kann, als Perlen einer Beweiskette, die tief ins Labyrinth hineinführt. Solche Verwirrung widerfährt dem Erzähler, der sich vom Fotoalbum verzaubern läßt. Die fehlenden Bilder erzählen ihm viele schreckliche Geschichten, die Klebeecken wirken auf ihn wie verlorene Indizien an einem Tatort, der seine Leiche verloren hat. Wo ist die Großmutter mit den Italieneraugen nach dem Krieg geblieben? Wie konnte der Großvater nur wenige Monate nach ihrem angeblichen Tod erneut heiraten, "eine Alte", die mit der Axt ihre Stiefkinder aus dem Haus gejagt haben mag und jedes Andenken an ihre Vorgängerin zerstörte? Und warum brach er den Kontakt zu seinen Kindern ab, mied die Enkel, zog sich vielleicht vor den Fernseher zurück? Der Schlaf der Vernunft gebiert solche Fragen und erzeugt den hellwachen Verdachtszustand, der sich als Aufklärung mißversteht. Der Erzähler jagt den losen Fäden hinterher, schnappt hier ein Geschichtsende auf, knüpft dort eine Anekdote an. Er vertraut sich einer Erinnerung an, die nicht einmal seine eigene ist: Die Wahrheit dieser verschwundenen Großmutter muß er erfinden, weil er sein eigenes Leben von ihrem abhängig gemacht hat.

Es zeigt Marcel Beyers große Kunst, diese Vier-Freunde-suchen-ihre-Großmutter-Geschichte ganz unauffällig in ein abgedichtetes, gummizellenartiges Krankheitsbild hinübergleiten zu lassen. Wie aufmerksam ist das Interesse der Kinder für die Vergangenheit, wie verdienstvoll ihre Entrüstung über großväterliche Bombenangriffe auf Guernica - und wie selbstzerstörerisch die Jagd nach den möglichen Motiven einer nur möglichen Tat? Marcel Beyer zieht die erzählerischen Rückblenden immer näher an die Gegenwart heran, bis der Leser plötzlich vor der unmittelbar dastehenden Nähe des Wahns erschrickt. Aus der sentimentalischen Jugenderinnerung ist eine Obsession geworden, die den Erzähler nicht mehr aus den Klauen läßt. Seine Verwandten sind irgendwann aus der Verfolgung ausgestiegen, haben mit den Eltern gebrochen, sind davongelaufen. Auch ihre Stimmen hört man von diesem Trennungsschmerz erzählen, Familienaussteiger, für die das eigene Leben erst mit dem Vergessen beginnen konnte. Nur das namenlose Ich hängt mit dem Kopf in der Lücke: "Du hast dich dieser Geschichte ausgeliefert, bist selbst eine Figur darin geworden." Und der hartnäckige Detektiv wird zu einem unverläßlichen Zeugen, der Wahrheitsfanatiker zum Obskuranten, ohne daß Marcel Beyer klärende Etiketten bereitstellte. Figuren sprechen, die der Leser eben noch für tot halten und jetzt wie Hirngespinste hinnehmen muß. Aufklärungswille gerät zum Haß, der Leben unbarmherzig gegeneinander abwägt. Aus diesem Müll zu weit getriebener Erinnerungsakkordarbeit steigt Bedrohung auf.

Wie die Figur den Wahn dicht knüpft, so tut es der Roman mit seinen Leitmotiven. Marcel Beyer hat den Spion, Inbegriff des unsichtbaren Kundschafters, unübersehbar nach vorne geschoben: Flure werden im Türspion observiert, Spionageromane in Büromappen verschleppt, das Opernpublikum wird durch Sehschlitze im Vorhang geprüft. Das Sehen will den Verdacht ausräumen und steht selbst darunter. Und wer Bedeutung um jeden Preis finden will, stößt auf Allegorien. Der Roman ist zugedeckt davon: die Wohnsiedlung auf schlammigem Müllgrund, der die Fundamente mit Feuchtigkeit durchtränkt; die Schaumzuckerfabrik, die Bruch produziert; eine Belästigung der Atemwege durch Schimmelsporen - immer kommt das Böse an den Tag.

Der Erzähler bewältigt diese Vergangenheit nicht mehr, er wird von ihr überwältigt. Und der Roman will ihm nicht helfen, im Gegenteil: Er verliert selbst an Wirklichkeit, je näher seine Hauptfiguren ihr kommen wollen. Das macht die Spiegelstellung der "Spione" zum früheren Roman "Flughunde" aus: Dieser häufte Zeitkolorit, bis das Verbrechen hervortrat; die Vergangenheit schien greifbar, weil die Dinge sich noch gegen ihre Deutung wehrten. Anders die "Spione": Strenger und blasser sind ihre Indizien, immer unter dem Vorbehalt, eine Lüge zu sein. Marcel Beyers Roman ist eine Exerzitie, in ihrer Gedächtnisarbeit weit weg vom reinen Vergnügen. Das Erinnern muß man aushalten können. Aber auch das Vergessen will gelernt sein.

Marcel Beyer: "Spione". Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2000. 306 S., geb., 39,80 DM.

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