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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2014

Wiederholung muss sein!
Barbara Stollberg-Rilinger kennt alte wie neue Rituale

Im Lukasevangelium rät Jesus, bei Einladungen den untersten Platz einzunehmen. Dann könne die eigene Erniedrigung zur ehrenvollen Erhöhung durch den Gastgeber führen. Wer sich dagegen nach vorn drängt, muss mit öffentlicher Demütigung rechnen. Solche biblischen Gegenwelten verhindern nicht, dass für Zeremonien ausgefeilte Sitzordnungen mit klaren Regeln entwickelt werden: Rechts ist besser als links, oben besser als unten; die Nähe zum Zentrum bleibt sichtbarer Ausdruck von Vorrang. Der eigene Platz im Gefüge ist bei Zeremonien entscheidend, weil sich in rituellen Akten die Ordnung einer Gesellschaft abbildet. Und beständige Wiederaufführung bringt dauerhafte Ordnung sichtbar hervor.

Doch warum brauchen Menschen Rituale? Und was machen die Rituale mit den Menschen? Solchen Fragen gingen zuletzt mehrere kulturwissenschaftliche Forschungsverbünde nach. Dabei wurde die akademische Welt allerdings nicht von gravierenden Kontroversen erschüttert. Selbst auf eine Definition von Ritual konnte man sich ungefähr einigen: eine besonders gerahmte menschliche Handlungsabfolge, die in öffentlichen Aufführungen symbolisch auf religiöse, politische oder soziale Sinnschichten verweist.

Das Forschungsinteresse wuchs, weil die ältere Verfassungs- und Strukturgeschichte die Bedeutung von scheinbaren Formalitäten oder Äußerlichkeiten dezidiert vernachlässigt hatte. Wer früher ,richtige Geschichte' schrieb, drang zu harten Fakten oder zum Kern der Dinge vor und hielt sich nicht beim Gepränge auf. Lange blieben Krönungen, Salbungen oder Begräbnisse einer pittoresken Kulturgeschichte überlassen, weil die Moderne Rituale zum starren Schein degradiert hatte. Kreativität und Individualität triumphierten. Wer wollte auch seine Hochzeiten oder Taufen noch als bloße Kopien aufführen?

Das Buch von Barbara Stollberg-Rilinger geht von solchen Spannungen aus und stellt die Ergebnisse der historischen Ritualforschung in aktuelle Bezüge. Dabei wird deutlich, dass der Transfer des Sakralen auf Staat oder Nation die Rituale nicht überflüssig machte, wohl aber ihre Formen und Funktionen veränderte. Aber haben Rituale überhaupt Funktionen? Macht nicht Bedeutungslosigkeit und Unverfügbarkeit ihr Wesen aus? Existieren Rituale nicht gerade dank Unbestimmtheiten, die sich dem sezierenden Zugriff der Wissenschaft entziehen?

Die Autorin, durch Studien zur symbolischen Kommunikation in der Frühen Neuzeit bekannt geworden, bietet in dieser historischen Einführung weit mehr als einen bloßen Forschungsüberblick. Die zentralen Themenfelder der historischen Ritualforschung sowie ihre Kontroversen werden von ihr kompetent, umfassend und durchaus wertend vorgestellt. Am Ende steht der Aufruf an die Kulturwissenschaften, sich von Bedeutungszuschreibungen immer neuer "turns" zu lösen. Vielmehr solle die Ritualforschung zum selbstverständlichen Teil historischer Forschung werden.

Das demonstrative Selbstbewusstsein der historischen Ritualforschung könnte aus ihrer verspäteten Blüte resultieren, die zum kritischen Aufbegehren gegen die etablierte Struktur-, Institutionen- und Politikgeschichte führte. Wieder einmal hatten Ethnologie und Religionssoziologie der Geschichtswissenschaft die entscheidenden Wege gewiesen. Doch erst die Erfahrung von Andersartigkeiten im Gefolge der Globalisierung lenkte den ethnographischen Blick auf die eigene Welt und ihre Vergangenheit. Wenn aber das ferne Rituelle plötzlich gar nicht mehr rückständig oder primitiv ist, dann gehört der gesamte Antiritualismus der westlichen Moderne auf den Prüfstand. Rituale wollen dann in ihrer fundamentalen Bedeutung, Kreativität und Andersartigkeit neu entdeckt werden.

Eindringlich beschreibt dieses wichtige Buch Reiz und Grenzen der modernen Ritualforschung. Die Beschränkungen entstehen aus der Einsicht, dass sich sensorische Erfahrungen wie Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen nicht leicht in klaren rationalen Kategorien erfassen lassen. Aktuelle Internetrituale wollen sich wissenschaftlichen Erklärungen sogar dezidiert entziehen. Und selbst die Geschichtswissenschaft stößt an Schranken, wenn sie den Zauber des Salböls, die Wucht zeremonieller Dauer oder die unterschiedlichen Erfahrungen von Ritualmachern und Ritualteilnehmern in ihren Büchern einfangen will.

BERND SCHNEIDMÜLLER

Barbara Stollberg-Rilinger: "Rituale". Historische Einführungen.

Campus Verlag, Frankfurt/ New York 2013. 294 S., br., 18,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2014

Kein Spiel ohne Regel
Die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger erkundet soziale Rituale
Selbstverständlich hat die Kanzlerin das Rücktrittsgesuch ihres Landwirtschaftsministers offiziell „mit Respekt und Bedauern“ zur Kenntnis genommen. Warum „selbstverständlich“? Weil die Betonung auf „offiziell“ liegt. Weil der Minister nicht zurücktreten wollte. Weil dem Rücktritt eine umgangssprachlich als Tritt in den Hintern bezeichnete Initiative vorausging. Und weil es in diesem Minister-ist-fällig-Spiel zu den Regeln gehört, dass es mit der Geste des Bedauerns abgeschlossen wird. Beim offiziellen Bedauern der Demission handelt es sich um eine moderne Gepflogenheit, eine Geste der Fairness, einen rituellen Reflex: Da er sich ständig wiederholt, wenn ein Minister zurücktritt, erfüllt er zumindest ein Kriterium für das, was die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger als Ritualisierung einstuft.
  Die Ethnologen haben früh erkannt, dass man das Fremde besser versteht, wenn man seine Rituale versteht. Das inspirierte die Geschichtswissenschaft: Was für andere Völker gilt, das gilt auch für andere Zeiten. Die Historiker okkupierten das bis dahin von der Volkskunde besetzte Fenster in die Vergangenheit. Unter dem Titel „Rituale“ hat nun die Münsteraner Frühneuzeit-Ordinaria Barbara Stollberg-Rilinger so etwas wie ein Manifest vorgelegt, in dem sie um dieses spannende Feld eine Richtschnur knüpft. Es ist in der Reihe „Historische Einführungen“ des Campus-Verlags erschienen, die sich mit der Theorie historischer Forschung beschäftigt und sich in erster Linie an Fachpublikum richtet: an Studenten, weil sie einen breiten Forschungsüberblick gibt, ebenso wie an Kollegen, denen sie Definitionen und Themen zur Diskussion stellt.
  Barbara Stollberg-Rilingers „Definitionsvorschlag“ für den Begriff „Ritual“ lautet: „Als Ritual im engeren Sinne wird hier eine menschliche Handlungsabfolge bezeichnet, die durch Standardisierung der äußeren Form, Wiederholung, Aufführungscharakter, Performativität und Symbolizität gekennzeichnet ist und eine elementare sozial strukturbildende Wirkung besitzt.“ Die Theorie mag geschichtswissenschaftliche Laien abschrecken – das Buch ist jedoch reich an konkreten Beispielen, an denen entlang Stollberg-Rilinger die Vielfalt an Ritualen auffächert, vom Strafritual über das Rituelle des Gerichtswesens und Hochtzeitsbräuche.
  Wurde im Mittelalter ein hoher Würdenträger abgesetzt, war das mit Schmähritualen verbunden. Geschasste Päpste mussten auf einem Esel ärschlings die Stadt hinausreiten. Man kann an Ritualen ablesen, wie viel die Menschen gelernt haben über den Umgang mit Menschen. In säkularen, weniger hierarchischen Staaten und Institutionen werden störende Mitarbeiter (offiziell!) fortgelobt. Es gibt aber noch Gesellschaften, das anachronistische Nordkorea zum Beispiel, die solche Personen abschießen. Ohne Ritual.
RUDOLF NEUMAIER
Barbara Stollberg-Rilinger: Rituale. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2013. 294 Seiten, 18,90 Euro.
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