Produktdetails
- Verlag: Frankfurt am Main : Suhrkamp
- ISBN-13: 9783518072400
- Artikelnr.: 27144632
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2001Ausgerichtet sei der Mensch
Siegfried Kracauers soziologische Reportage "Die Angestellten": Kritik einer Legende
Man hat Siegfried Kracauer mit einiger Vereinfachung als den "Medien-Mann" der Kritischen Theorie bezeichnet. Blickt man auf seine "Theorie des Films" und auf die zahllosen Filmkritiken, die er in der "Frankfurter Zeitung" veröffentlichte, dann leuchtet die Charakterisierung ein. Medientheorie bedeutete aber auch eine lebenslange Einbindung in das Geschäft der Propaganda, die vom Ersten Weltkrieg bis zum Kalten Krieg ins Leben der Menschen eingriff. "Der Krieg auch segenswert", notierte Kracauer als Student, weil er an dessen erzieherische Wirkung glaubte. Welche Beziehung gibt es zwischen der Medientheorie und der Soziologie?
Kracauers Abhandlung "Soziologie als Wissenschaft" erschien 1922. Ihre Absicht war eine völlig neue Grundlegung - der Untertitel spricht von einer "erkenntnistheoretischen Untersuchung" - dessen, was in den Schriften von Max Weber und Georg Simmel, von Robert Michels und Ernst Troeltsch an materialen Ergebnissen vorlag. Eine eingehendere Betrachtung hat diese Pioniertat in der stetig anschwellenden Literatur zu Kracauer allerdings bis heute nicht gefunden.
Der Titel erinnert an Husserls Programmschrift "Philosophie als strenge Wissenschaft", auf Husserl nimmt der Text ständig Bezug. Unter "Soziologie" versteht Kracauer vornehmlich die des deutschen Sprachraums, Durkheim bleibt unerwähnt, während zu Comte und Spencer einzelne verstreute Hinweise gegeben werden. Soziologie, so das Argument, widme sich der Erforschung von "Regelhaftigkeiten" in den "Lebensäußerungen der vergesellschafteten Menschen". Sie sei deshalb weder der Geschichtswissenschaft gleichzusetzen - diese untersuche den individuellen Fall - noch der Psychologie oder der Geschichtsphilosophie.
Selbst wenn man Kracauer diese vorläufige Definition zugesteht, bleibt die Frage, welche spezifischen Forschungen von hier aus legitimiert werden sollten. Man könnte an die Familienstruktur ebenso denken wie an Fragen der Führungsnachfolge oder andere Aspekte der sozialen Wirklichkeit. Kracauer aber bevorzugt nicht nur das Studium von Gruppen ganz allgemein, sondern vor allem solcher Gruppen, die durch Ideen geformt sind und im Gegenzug dann wieder das Bewußtsein ihrer Mitglieder bestimmen können. Das erste Beispiel, das er für eine soziologische Untersuchung gibt, ist eine Skizze zur Geschichte der Jesuiten: "Eine soziologische Erforschung des Jesuitenordens etwa wird sich um die Herausschälung des eigentümlichen Wesens einer Ordensgesellschaft überhaupt bemühen, sie wird dem Einfluß nachfragen, den die von Ignatius vorgeschriebenen Exerzitien auf das Gesamtverhalten der ihnen unterworfenen Menschen notwendigerweise ausüben, sie wird die Umstände ans Licht ziehen, die ganz allgemein die Blüte bzw. den Verfall einer Gesellschaft von der Struktur des Jesuitenordens zu bewirken vermögen."
Schon hier ist eine Entscheidung für eine eindeutige Forschungsstrategie gefallen: Es ist eine Soziologie, die nach Ideologien und Mentalitäten fragt, nach ihrer Implementierung durch spezifische Techniken der Bewußtseinsformung in Gruppen. Damit befand sich Kracauer im Einklang mit seiner Umwelt in den frühen zwanziger Jahren, als die deutsche Wirklichkeit den widerstreitenden Ansprüchen eben solcher Gruppen ausgesetzt war. Es war das soziologische Forschungsprogramm eines Mannes, der seinerseits bald darauf an der Formung der öffentlichen Meinung in der "Frankfurter Zeitung" teilnahm und später, im amerikanischen Exil, die Propagandasendungen der "Voice of America" nach Osteuropa auf ihre Wirkungen hin untersuchte.
"Gleichviel", heißt es in der Abhandlung weiter, "wo und wann Menschen leben, wenn sie Berufen, Ständen, Klassen von derselben soziologischen Beschaffenheit angehören, weist ihr Wesen gemeinsame Züge auf. Die Bildung, der sie unterworfen sind, prägt Denken, Fühlen, Willensrichtung, ja erzeugt sogar eine besstimmte Weltanschauung". Ein Schlüsselwort der zwanziger Jahre ist gefallen: "Weltanschauung". Noch eine weitere Kategorie Kracauers ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Sein Traktat "Der Detektiv-Roman", 1925 im Manuskript abgeschlossen, beginnt mit einem Bild des sinnerfüllten Lebens, eines Lebens von spiritueller Tiefe. Den Träger solchen Lebens nennt Kracauer den "ausgerichtenen Menschen". Das Wort ist nicht nur deskriptiv, sondern vor allem normativ gemeint: "Ausgerichtet" zu sein ist die höchste Tugend, die sich der theologisch inspirierte Soziologie und Kritiker in jener Zeit vorzustellen vermag. Nimmt man dieses Argument mit den Überlegungen zur ideenbestimmten Gruppe zusammen, dann ergibt sich ein atmosphärisches Porträt der Weimarer Republik, in der ideologisch bestimmte Gruppen und "ausgerichtete" Individuen die öffentliche Diskussion bestimmten. Kracauers Soziologie ist eine Antwort auf diese Lage, die sie zugleich idealisiert. Vermutlich wäre er nie zum großen Medien-Spezialisten geworden, zum Verfasser der ideologiekritischen Kino-Geschichte Deutschlands in dem Buch "Von Caligari zu Hitler", wenn ihn nicht die ideologischen Energien der Zeit getragen hätten.
Wenn man sich allerdings die Frage stellt, warum die brillanten Analysen Kracauers in der Weimarer Republik, vor allem die legendäre Studie "Die Angestellten" (1929), am Ende politisch wirkungslos blieben, wird man nicht nur auf die Zeitlage, sondern auch auf die Texte selbst blicken müssen. Man wird dabei eine Tagebuchnotiz des zweiundzwanzigjährigen Studenten finden, die sehr von oben herab den Zeitgenossen den "Willen zum Erleben" abspricht - sie "werden gelebt", glaubte Kracauer, ihre Erfahrung sei von minderem Rang. Er fand unter ihnen keine Sterne, die mit eigenem Licht strahlten. Gewiß, die Arroganz mag für Studenten typisch sein, aber auch in den "Angestellten" kehrt der Vorbehalt zurück. Diese Schicht, so Kracauer, "lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte". Dies aber sei ein Leben, "das nur im eingeschränkten Sinne Leben heißen darf". Nicht die materielle Einschränkung der Angestellten-Existenz ist es, die das Leben verarmen läßt, sondern daß sie die von Kracauer normativ geforderten Tugenden verweigerten, wird ihm zum Anlaß einer Kritik, die für die Adressaten eine Demütigung bedeuten mußte.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Siegfried Kracauers soziologische Reportage "Die Angestellten": Kritik einer Legende
Man hat Siegfried Kracauer mit einiger Vereinfachung als den "Medien-Mann" der Kritischen Theorie bezeichnet. Blickt man auf seine "Theorie des Films" und auf die zahllosen Filmkritiken, die er in der "Frankfurter Zeitung" veröffentlichte, dann leuchtet die Charakterisierung ein. Medientheorie bedeutete aber auch eine lebenslange Einbindung in das Geschäft der Propaganda, die vom Ersten Weltkrieg bis zum Kalten Krieg ins Leben der Menschen eingriff. "Der Krieg auch segenswert", notierte Kracauer als Student, weil er an dessen erzieherische Wirkung glaubte. Welche Beziehung gibt es zwischen der Medientheorie und der Soziologie?
Kracauers Abhandlung "Soziologie als Wissenschaft" erschien 1922. Ihre Absicht war eine völlig neue Grundlegung - der Untertitel spricht von einer "erkenntnistheoretischen Untersuchung" - dessen, was in den Schriften von Max Weber und Georg Simmel, von Robert Michels und Ernst Troeltsch an materialen Ergebnissen vorlag. Eine eingehendere Betrachtung hat diese Pioniertat in der stetig anschwellenden Literatur zu Kracauer allerdings bis heute nicht gefunden.
Der Titel erinnert an Husserls Programmschrift "Philosophie als strenge Wissenschaft", auf Husserl nimmt der Text ständig Bezug. Unter "Soziologie" versteht Kracauer vornehmlich die des deutschen Sprachraums, Durkheim bleibt unerwähnt, während zu Comte und Spencer einzelne verstreute Hinweise gegeben werden. Soziologie, so das Argument, widme sich der Erforschung von "Regelhaftigkeiten" in den "Lebensäußerungen der vergesellschafteten Menschen". Sie sei deshalb weder der Geschichtswissenschaft gleichzusetzen - diese untersuche den individuellen Fall - noch der Psychologie oder der Geschichtsphilosophie.
Selbst wenn man Kracauer diese vorläufige Definition zugesteht, bleibt die Frage, welche spezifischen Forschungen von hier aus legitimiert werden sollten. Man könnte an die Familienstruktur ebenso denken wie an Fragen der Führungsnachfolge oder andere Aspekte der sozialen Wirklichkeit. Kracauer aber bevorzugt nicht nur das Studium von Gruppen ganz allgemein, sondern vor allem solcher Gruppen, die durch Ideen geformt sind und im Gegenzug dann wieder das Bewußtsein ihrer Mitglieder bestimmen können. Das erste Beispiel, das er für eine soziologische Untersuchung gibt, ist eine Skizze zur Geschichte der Jesuiten: "Eine soziologische Erforschung des Jesuitenordens etwa wird sich um die Herausschälung des eigentümlichen Wesens einer Ordensgesellschaft überhaupt bemühen, sie wird dem Einfluß nachfragen, den die von Ignatius vorgeschriebenen Exerzitien auf das Gesamtverhalten der ihnen unterworfenen Menschen notwendigerweise ausüben, sie wird die Umstände ans Licht ziehen, die ganz allgemein die Blüte bzw. den Verfall einer Gesellschaft von der Struktur des Jesuitenordens zu bewirken vermögen."
Schon hier ist eine Entscheidung für eine eindeutige Forschungsstrategie gefallen: Es ist eine Soziologie, die nach Ideologien und Mentalitäten fragt, nach ihrer Implementierung durch spezifische Techniken der Bewußtseinsformung in Gruppen. Damit befand sich Kracauer im Einklang mit seiner Umwelt in den frühen zwanziger Jahren, als die deutsche Wirklichkeit den widerstreitenden Ansprüchen eben solcher Gruppen ausgesetzt war. Es war das soziologische Forschungsprogramm eines Mannes, der seinerseits bald darauf an der Formung der öffentlichen Meinung in der "Frankfurter Zeitung" teilnahm und später, im amerikanischen Exil, die Propagandasendungen der "Voice of America" nach Osteuropa auf ihre Wirkungen hin untersuchte.
"Gleichviel", heißt es in der Abhandlung weiter, "wo und wann Menschen leben, wenn sie Berufen, Ständen, Klassen von derselben soziologischen Beschaffenheit angehören, weist ihr Wesen gemeinsame Züge auf. Die Bildung, der sie unterworfen sind, prägt Denken, Fühlen, Willensrichtung, ja erzeugt sogar eine besstimmte Weltanschauung". Ein Schlüsselwort der zwanziger Jahre ist gefallen: "Weltanschauung". Noch eine weitere Kategorie Kracauers ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Sein Traktat "Der Detektiv-Roman", 1925 im Manuskript abgeschlossen, beginnt mit einem Bild des sinnerfüllten Lebens, eines Lebens von spiritueller Tiefe. Den Träger solchen Lebens nennt Kracauer den "ausgerichtenen Menschen". Das Wort ist nicht nur deskriptiv, sondern vor allem normativ gemeint: "Ausgerichtet" zu sein ist die höchste Tugend, die sich der theologisch inspirierte Soziologie und Kritiker in jener Zeit vorzustellen vermag. Nimmt man dieses Argument mit den Überlegungen zur ideenbestimmten Gruppe zusammen, dann ergibt sich ein atmosphärisches Porträt der Weimarer Republik, in der ideologisch bestimmte Gruppen und "ausgerichtete" Individuen die öffentliche Diskussion bestimmten. Kracauers Soziologie ist eine Antwort auf diese Lage, die sie zugleich idealisiert. Vermutlich wäre er nie zum großen Medien-Spezialisten geworden, zum Verfasser der ideologiekritischen Kino-Geschichte Deutschlands in dem Buch "Von Caligari zu Hitler", wenn ihn nicht die ideologischen Energien der Zeit getragen hätten.
Wenn man sich allerdings die Frage stellt, warum die brillanten Analysen Kracauers in der Weimarer Republik, vor allem die legendäre Studie "Die Angestellten" (1929), am Ende politisch wirkungslos blieben, wird man nicht nur auf die Zeitlage, sondern auch auf die Texte selbst blicken müssen. Man wird dabei eine Tagebuchnotiz des zweiundzwanzigjährigen Studenten finden, die sehr von oben herab den Zeitgenossen den "Willen zum Erleben" abspricht - sie "werden gelebt", glaubte Kracauer, ihre Erfahrung sei von minderem Rang. Er fand unter ihnen keine Sterne, die mit eigenem Licht strahlten. Gewiß, die Arroganz mag für Studenten typisch sein, aber auch in den "Angestellten" kehrt der Vorbehalt zurück. Diese Schicht, so Kracauer, "lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte". Dies aber sei ein Leben, "das nur im eingeschränkten Sinne Leben heißen darf". Nicht die materielle Einschränkung der Angestellten-Existenz ist es, die das Leben verarmen läßt, sondern daß sie die von Kracauer normativ geforderten Tugenden verweigerten, wird ihm zum Anlaß einer Kritik, die für die Adressaten eine Demütigung bedeuten mußte.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main