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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2011

Wie ein Perpetuum Mobile
Eine unabhängige Einführung zur Gerechtigkeitsfrage

Dieses Werk verdient Aufmerksamkeit: Endlich liegt eine systematisch-strukturierte, verständliche und - in diesem Fall ist die Unmöglichkeit gelungen - objektiv-wissenschaftliche Einführungin das ewige Thema "Soziale Gerechtigkeit" vor. Auf dieser Basis könnten sowohl Liberale, als auch Linke, Christsoziale und Grüne ernsthaftepolitische Debatten führen. Doch leider wird "Soziale Gerechtigkeit" zu populistischen Zwecken vereinfacht und missbraucht.

Einige Wahlplakate der letzten Monate haben sie vollmundig versprochen. Dabei kann es die eine Soziale Gerechtigkeit nicht geben. Sie besteht aus vielen Teilgerechtigkeiten, die sich im politischen Prozess eigentlich immer entgegenstehen. Dazu gehören Leistungsgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Chancengleichheit oder Belastungsgerechtigkeit. So lassen sich Studiengebühren sowohl als sozial gerecht, als auch als sozial ungerecht bezeichnen - je nachdem, auf welche Wirkungen und Effekte das Augenmerk gelegt wird.

Thomas Ebert schafft es, diese Mehrdimensionalität der Gerechtigkeitsfrage in einer systematischen Klärung nachvollziehbar zu zergliedern. Dazu beleuchtet er Ideen, Geschichte, Perspektiven und Kontroversen deskriptiv, ohne die Schwächen aller Richtungen zu verheimlichen, bei egalitären Ansätzen von Marx (streng) bis Walzer (moderat) ebenso wie bei anti-egalitären Ansätzen von Kant (moderat) bis Nietzsche (streng). Man merkt dem Autor auf über 400 Seiten nicht an, welche dieser Richtungen er selbst bevorzugt. Dieses Buch steht der auf Überparteilichkeit verpflichteten Bundeszentrale für politische Bildung gut ins Gesicht.

Ebert weicht aber auch vor der naheliegendsten Fragestellung unserer Zeit - ist der Kapitalismus gerecht? - nicht aus: "Es gibt eine enorme Bandbreite des Kapitalismus, die von China bis Schweden, von den Vereinigten Staaten von Amerika bis in den Iran, von Russland bis in die Schweiz reicht. Zwischen diesen Varianten liegen Welten, so dass es vielleicht keine Alternativen zum Kapitalismus, aber auf jeden Fall Alternativen im Kapitalismus gibt. Insofern hat die Frage, ob der Kapitalismus gerecht oder ungerecht ist, sehr wohl auch heute noch einen Sinn."

Ebert schreibt, welche Denker darauf welche Antworten gegeben haben. Er nennt Kriterien, die helfen, eine eigene Antwort zu finden. Immer wieder macht er deutlich, dass soziale Gerechtigkeit ein komplexes und vieldimensionales Ziel ist. "Soziale Gerechtigkeit besteht geradezu, so könnte man sagen, im Gleichgewicht verschiedener Teil-Gerechtigkeiten", schreibt Ebert und folgert: "Es geht bei der sozialen Gerechtigkeit um die angemessene - das heißt regelgebundene und sozialethisch gebotene - Verteilung von realer Freiheit."

Für den Autor ist soziale Gerechtigkeit dasjenige Maß an Gleichheit, das erforderlich ist, um die Freiheit der Schwächeren zu schützen, und dasjenige Maß an Ungleichheit, das ebenso erforderlich ist, um die Freiheit der Stärkeren nicht über Gebühr einzuschränken. Konkreter wird das nur im politischen Diskurs, an dem sich alle beteiligen sollten, denen Gerechtigkeit am Herzen liegt. Ihre Sinne sind dann auch geschärft vor Wahlplakaten, die soziale Gerechtigkeit im Generellen versprechen. Ebenso könnte man Zeitreisen oderein Perpetuum mobile in Aussicht stellen.

JOCHEN ZENTHÖFER.

Thomas Ebert: Soziale Gerechtigkeit.

Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2010, 274 Seiten, 4,50 Euro

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