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Ein Sommer auf dem Land in einem alten, zerfallenen Haus, eine lebhafte große Familie mit Kindern, Tanten, Kusinen und Mägden, Spiele auf den Wiesen und im Wald - eine schwedischen Idylle. Doch der achtjährige Pu bekommt immer wieder zu spüren, wie nah in dieser Welt das Heitere neben dem Grausamen steht, wenn der ältere Bruder ihn quält und frotzelt, wenn die Erwachsenen sich streiten. Zwischen den Bildern der Kindheit taucht in eingeschobenen Episoden das alter ego des kleinen Pu, Ingmar Bergman, auf. Selbst nun schon fast ein alter Mann, sucht er angesichts des Todes seines Vaters dessen…mehr

Produktbeschreibung
Ein Sommer auf dem Land in einem alten, zerfallenen Haus, eine lebhafte große Familie mit Kindern, Tanten, Kusinen und Mägden, Spiele auf den Wiesen und im Wald - eine schwedischen Idylle. Doch der achtjährige Pu bekommt immer wieder zu spüren, wie nah in dieser Welt das Heitere neben dem Grausamen steht, wenn der ältere Bruder ihn quält und frotzelt, wenn die Erwachsenen sich streiten. Zwischen den Bildern der Kindheit taucht in eingeschobenen Episoden das alter ego des kleinen Pu, Ingmar Bergman, auf. Selbst nun schon fast ein alter Mann, sucht er angesichts des Todes seines Vaters dessen Verhalten und die vieldeutigen Ereignisse der Kindheit zu verstehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Rotznase in den Erdbeeren
Im Weichzeichner: Ingmar Bergmans schönes frühes Leid / Von Friedmar Apel

Wie kein anderer Filmkünstler (von Woody Allen einmal abgesehen) hat Ingmar Bergman seine Neurosen und Hysterien und seinen Selbsthaß zur öffentlichen Angelegenheit gemacht. Die formalen Mittel der europäischen Filmkunst immer wieder aufsprengend, erschien die besondere Kreativität des 1918 geborenen Pastorensohns aus Uppsala zu einem guten oder schlechten Teil aus der Auseinandersetzung mit dem harten Vater und der vergeblich geliebten Mutter motiviert. So waren die eindringlichsten Werke von "Wilde Erdbeeren" (1955) über "Szenen einer Ehe" (1973) bis zu "Fanny und Alexander" (1982) immer auch ein therapeutisches Angebot für jene Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich vom "Lebensfiasko" der frommen bürgerlichen Familie beschädigt fühlten, die bösen und guten Erfahrungen der Kindheit nicht vergessen noch vergeben konnten.

Ob es da Heilungsfortschritte geben kann, war von je fraglich; es gibt Probleme, die kann man nur hinter sich lassen. In seiner Autobiographie von 1986 hat Bergman die Anstrengungen des Selbstseins angesichts des fehlenden Gottvertrauens beschrieben. Am Schluß steht eine Geste der Solidarität mit der Mutter, deren ganzes Elend Bergman erst nach ihrem Tod aus ihren geheimen Tagebüchern erfuhr. Versöhnung aber fand in dieser Selbstbeschreibung nicht statt, allenfalls wurde ein Status quo der nicht wenig selbstquälerischen Auseinandersetzung inszeniert: "Was ich mit Sicherheit sehe, ist, daß unsere Familie aus Menschen guten Willens bestand, die durch ein katastrophales Erbe mit übertriebenen Forderungen, schlechtem Gewissen und Schuld belastet waren."

Das 1990 geschriebene Stück Erinnerungsprosa, das nun in der zartfühlenden und die lakonische Genauigkeit der Bildersprache außerordentlich stilsicher erfassenden Übersetzung von Verena Reichel auf deutsch vorliegt, geht einen erheblichen Schritt darüber hinaus. Das äußert sich bereits in den Veränderungen der erzählerischen Mittel. In "Mein Leben" hatte Bergman noch heftig mit Rückblenden, Vorwegnahmen, Reflexionen, Kommentaren, Überblendungen und harten Schnitten hantiert. In "Sonntagskinder" werden dagegen die Ereignisse der Kindheit, so qualvoll sie im einzelnen gewesen sein mögen, in ruhigem Fluß und in einer liebevollen ironischen Distanz wie durch den Weichzeichner geschildert.

Nur dreimal schaltet sich der Erzähler an entscheidenden Punkten mit einem "Rückblick aus der Zukunft" ein. Einmal, wenn der Vater das widerstrebende Kind freundlich bittet, einmal, wenn es ungerechte Ohrfeigen hagelt, und schließlich, wenn der Vater seinen frierenden Sohn in seinen Rock hüllt. Der Erzähler heißt immer noch Ingmar Bergman, jedoch werden die Kindheitserinnerungen nun in der dritten Person aus der Perspektive von Pu erzählt, einer gequälten, aber tapferen Rotznase, die hier zu verkörpern scheint, was Bergman erst viel später als Maxime im Tagebuch seiner Mutter fand: "Man muß schon selbst zurechtkommen, so gut man kann." Und das heißt auch: ungeniert und phantasievoll lügen.

Die Aufspaltung in zwei Personen erlaubt es Bergman, das Ich seiner Kindheit mit Empathie und Respekt zu schildern, und so scheint er hier ein vergleichsweise versöhnliches Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen, ohne daß die ihm zugefügten seelischen und körperlichen Schmerzen verdrängt werden müßten. Aus der distanzierten Erzählsituation, die die Landschaft der Kindheit wie neu entzifferbar macht, entwickelt sich nun ganz langsam und vorsichtig so etwas wie eine Versöhnung. Dies gleichsam als retrospektive Erweichung des harten Vaters, der mehr als je zuvor in seiner existentiellen Qual und seinem viel zu kleinen bißchen Freude und Freundlichkeit dargestellt wird. Daß dies nicht zum therapeutischen oder, was den Titel anlangt, zum altersabergläubischen Kitsch gerät, ist der kristallinen Präzision dieser Erinnerungsprosa zu verdanken. Von Frömmigkeit kann ohnehin keine Rede sein. Wer an Gott glaubt, ist ein Idiot, fand schon Pu. Ingmar denkt nicht daran, ihn zu dementieren, und selbst der Vater scheint im Alter seinen Gott eingebüßt zu haben.

Die mit Bergmans Welt schon Vertrauten laufen allerdings Gefahr, viel näherliegende Bedeutungen des Textes zu verfehlen. Denn das ganze Personal und die schwedische Landschaft mit ihren Pfarrhöfen und hölzernen Sommerhäusern glauben sie schon zu kennen, und so nehmen sie möglicherweise Chiffren wahr, wo typische Erfahrungen gemeint sind. So könnten die häufig vorkommenden wilden Erdbeeren als Zitate oder als Symbole spezifisch Bergmanscher Erinnerungsarbeit erscheinen, während allererst wilde Erdbeeren gemeint sind, denn jede und jeder in Schweden kennt eine Stelle, wo sie wachsen.

So ist dieses durchkomponierte Prosastück, das man statt "Roman" auch "Frühlingssonate" nennen könnte, eine anschauliche erzählerische Erkundung und Vergegenwärtigung der schon fast versunkenen bürgerlichen Lebensformen des alten Schweden. Die karge und schöne Landschaft und eine asketische lutherische Religiosität, der die rationale Lebensorganisation der Moderne den lokalmythischen und genußsüchtigen heidnischen Kern nie ganz hat austreiben können, werden durch Pus Perspektive zur einer allgemein zugänglichen Erfahrung. Andersherum aber läßt sich die Individualität Bergmans besser verstehen, wenn man mit Pu gelitten, gelogen, sich gesehnt und gefreut hat. Daher ist das schöne Büchlein den Befangenen wie den Unbefangenen mit gleicher Wärme zu empfehlen.

Ingmar Bergman: "Sonntagskinder". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Verena Reichel. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996. 160 S., geb., 29,80 DM.

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