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Solidarität ist ein moderner Begriff, der auf das römische Zivilrecht, die jüdisch-christliche Brüderlichkeit und die republikanische Bundesgenossenschaft zurückgeht. Aus ihm ziehen die individualisierten Massen die Kraft zur sozialen Bewegung und er verschafft dem sozialen Band der fragmentierten Gesellschaft die nötige Elastizität, um nicht gleich beim ersten Stoß zu reißen. Das Buch betont die Brüche in der Evolution des Solidaritätsverständnisses, das in Europa von der aristokratischen Bürgerfreundschaft der Stadtrepubliken und der egalitären Gemeindesolidarität der Juden und Christen bis…mehr

Produktbeschreibung
Solidarität ist ein moderner Begriff, der auf das römische Zivilrecht, die jüdisch-christliche Brüderlichkeit und die republikanische Bundesgenossenschaft zurückgeht. Aus ihm ziehen die individualisierten Massen die Kraft zur sozialen Bewegung und er verschafft dem sozialen Band der fragmentierten Gesellschaft die nötige Elastizität, um nicht gleich beim ersten Stoß zu reißen. Das Buch betont die Brüche in der Evolution des Solidaritätsverständnisses, das in Europa von der aristokratischen Bürgerfreundschaft der Stadtrepubliken und der egalitären Gemeindesolidarität der Juden und Christen bis zur Einbeziehung des anderen im modernen Verfassungsstaat reicht. In der Gegenwart gilt es, die demokratische Solidarität als Kernbegriff zwischen Nationalstaatlichkeit und Globalisierung zu profilieren.
Autorenporträt
Studium der Deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie, Erziehungswissenschaft und Soziologie in Kiel, Freiburg und Frankfurt; 1978 Promotion; 1982 Habilitation im Fach Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt; 1985 Habilitation im Fach Soziologie an der Universität Frankfurt; 1985-97 Professuren und Gastprofessuren an den Universitäten in Wien, Frankfurt, Duisburg und der FU Berlin; 1995-97 Research Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen; seit 1997 Professor für Soziologie an der Universität in Flensburg; 2005 Research Fellow am Maison des Sciences de l’Homme, Paris.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.04.2002

Rousseau in Genua
Wer oder was ersetzt den Nationalstaat? Hauke Brunkhorsts Enthusiasmus mutet liberalen Skeptikern einiges zu
„Wenn die Demokratie falsch definiert wird, so laufen wir alle auf die Dauer Gefahr, etwas abzulehnen, was wir gar nicht richtig identifiziert haben, und dafür etwas zu bekommen, was wir bestimmt nicht haben wollten”. Aus dieser These Giovanni Sartoris spricht die Furcht vor den destruktiven Folgen einer normativen Überstrapazierung der gegenwärtigen demokratischen Realität. Realistische Demokratietheorie zielt auf Besitzstandswahrung. Sie ist davon überzeugt, dass die Probleme einer angemessenen, den Sach- wie den Wertdimensionen gleichermaßen gerecht werdenden Entscheidung innerhalb des Ausschusswesens der elektoral- repräsentativen demokratischen Ordnung gelöst werden können.
Falsch und mit verheerenden Folgen für ihre Zukunftsaussichten definiert wird die Demokratie, wenn der demokratische Prozess, der Prozess der Meinungs- und Willensbildung in der pluralen Öffentlichkeit, zu einem wesentlichen Element des Demokratiekonzepts gemacht und die politische Wirklichkeit damit idealistisch überfordert wird.
Andererseits verlangt eine Demokratiekonzeption nach einer angemessenen theoretischen Berücksichtigung und institutionellen Ermöglichung des demokratischen Prozesses, wenn sich herausstellt, dass innerhalb des realistischen Demokratiemodells durch die Neo-Arkanpolitik des expertokratischen Ausschusswesens weder die für eine moderne demokratische Politik erforderliche Legitimation erzeugt noch die für ihre Verwirklichung unerlässliche Solidarität geschaffen werden kann.
Ob man sich die antirealistische Skepsis angesichts der Globalisierung der Waren- und Finanzmärkte, der Kommunikationsnetze und Umweltrisiken noch länger wird leisten können, scheint zweifelhaft. Wer vermag nach dem Schwinden nationalstaatlicher Souveränität und Solidarität in die Bresche zu springen und die Integrationsleistungen des modernen Nationalstaats zu ersetzen? Wo ist in dem Geflecht weltökonomischer, weltgesellschaftlicher Abhängigkeiten die globale Öffentlichkeit, in der eine globalisierte Demokratie sich in weltbürgerlicher Selbstbestimmung versuchen könnte? Die realistische Demokratie eines Schumpeter und Sartori ist sicherlich globalisierbar; es bedarf nur einiger verfahrenstechnischer Erfindungskraft, um den zumindest in föderal aufgebauten Gemeinwesen längst bestehenden elektoralen Mehrebenen- Mechanismus grenzübergreifend auszubauen und das Ausschusswesen durch internationale und supranationale Stufen zu ergänzen.
In fiebriger Aufregung
Wer jedoch ein Demokratieverständnis hat, das von den wahl- und entschei-dungstechnischen Szenarien der realistischen Demokratiekonzeption abweicht, den müssen die globalisierungsbedingten Veränderungen der politischen Wirklichkeit in und zwischen den Staaten entmutigen. Wie auch immer er dem Citoyen in Theorie und Praxis Gehör und Einfluss verschaffen möchte, welche Mitwirkungsgestalt er der politischen Autonomie der Bürger im einzelnen auch in Theorie und Praxis geben mag, er wird an den globalisierungsbeherrschten Verhältnissen scheitern.
Es ist ja nicht nur unerfindlich, wie jenseits der nationalstaatlichen Integrationssphäre demokratische Meinungs- und Willensbildung gelingen und legitimatorische Kraft erlangen kann; es steht auch zu befürchten, dass die globalen Waren-, Geld und Kommunikationsströme die nationalstaatlichen Grenzen unterspülen, dadurch den Nationalstaat solidaritätspolitisch und integrationspolitisch entkräften und damit die ethisch-lebensweltlichen Gelingensbedingungen demokratische Selbstbestimmung gerade auch an ihrem ursprünglichen Ort gefährden. Mag den Bourgeois die Globalisierung in fiebrige Aufregung versetzen, den Citoyen muss sie mit tiefer Sorge erfüllen.
Es scheint, dass der Sieg des Liberalismus mit großen Opfern in den eigenen Reihen erkauft worden ist; Opfer, die sich erst jetzt allmählich bemerkbar machen. Das Struktur- und Entwicklungsgesetz der Moderne scheint seine Geltungsgrenze zu erfahren: die fortschreitende Ausdifferenzierung und wechselseitig-dialektische Durchdringung gesellschaftlicher Funktionsbereiche scheint an ihr Ende gelangt zu sein.
Fortan scheint das Gesetz der Entdifferenzierung zu gelten; die ökonomistische Kolonisierung der Lebenswelt, die die kommunikative Vernunft in die Rolle einer Partisanin, einer trotzig-hoffnungslos agierenden Widerständlerin zwingt, schreitet unaufhaltsam voran. Und nicht nur die Lebenswelt wird den Interessen der Wirtschaft, den Apperzeptionsgesetzen des Ökonomischen unterworfen, auch die Politik wird von der Wirtschaft in die Botmäßigkeit gepresst. In vorauseilendem Gehorsam übt sich die Politik in Modernisierung; und Modernisierung bedeutet nach dem post-emanzipatorischen Fortschrittsverständnis der libertären Geschichtsphilosophie unserer Tage Ökonomisierung, Privatisierung, drastische Verknappung der öffentlichen Güter.
Modernisierungsverlierer sind die soziale Gerechtigkeit und der Sozialstaat, die ökologische Politik und die Umwelt, die Universitäten und die Schulen und mit ihnen die gesamte gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Reflexionskultur. Und, so fürchten viele, eben auch die Demokratie. Demokratie und Bürgergesellschaft sind die vornehmsten Modernisierungsopfer des globalen Kapitalismus. Wenn sie nicht bereits durch McWorld zerstört werden, dann fallen sie der Nemesis des verdrängten Partikularen zum Opfer, dann werden sie, so Benjamin Barber, „in den Feuerbrünsten des Dschihad” verbrennen.
Aus der Perspektive Schumpeters und Sartoris ist Hauke Brunkhorst ein Idealist. Sein Demokratieverständnis ist dem in Frankfurt entwickelten diskursethischen Rousseauismus verpflichtet, der den ethischen Substantialismus der Genfer Tugendrepublik durch den Prozeduralismus rechtsgenossenschaftlicher Selbstbestimmung ersetzt. Aber nicht nur die legitimationstheoretische Vorzugswürdigkeit organisierter Selbstherrschaft spricht für die Demokratie, auch ihre erstaunliche Leistungsfähigkeit. Sie ist die einzige Herrschaftsform, die bislang der Dynamik der Modernisierung folgen konnte. Sie hat erfolgreich das „doppelte Inklusionsproblem der modernen Gesellschaft” gelöst. Zum einen ist es ihr gelungen, den Individualismus gesellschaftlich und politisch zu integrieren, zum anderen hat sie durch die Etablierung kollektiver Versorgungssysteme den gesellschaftlichen Ausschluss der selbstversorgungsunfähigen Mitbürger verhindert.
Was die Globalisierung bringt
Freilich hat sie diese Inklusionsleistungen allein unter dem Dach des europäischen und nordamerikanischen Nationalstaates erbringen können. Das besagt jedoch nicht, so Brunkhorst, dass die Kompetenz der Demokratie zur Lösung modernisierungsbedingter Inklusionsprobleme auf den nationalstaatlichen Organisationsrahmen beschränkt bleiben muss. Es gilt vielmehr umgekehrt, dass man aus ihrer erfolgreichen regionalen Vergangenheit die Erfolgsbedingungen für ihre globale Zukunft ablesen kann.
Dass ausschließlich eine „Globalisierung demokratischer Solidarität” die sich bereits jetzt abzeichnenden weltinnenpolitischen Probleme des Multikulturalismus und der ungerechten Ressourcenverteilung lösen kann, ist für Brunkhorst eine ausgemachte Sache. Und dass die Welt nach ihr verlangt, nicht minder.
Denn das europäische-nordamerikanische Modell der individualistischen, ausdifferenzierten Gesellschaft sieht Brunkhorst sich unaufhaltsam über die Welt verbreiten. Daher stellen sich die Inklusionsprobleme, die die nationalstaatliche Demokratie erfolgreich bewältigt hat, jetzt erneut auf Weltniveau. Aber damit die bewährte demokratische Lösungsroutine auf die strukturell gleichen Probleme der zusammenwachsenden globalen Gesellschaftswelt anwendbar ist, bedarf es nichts weniger als eines politischen Weltvolkes, der Herausbildung einer ausschließlich durch „Menschenrechtpatriotismus” geeinigten globalen Rechtsgenossenschaft, geeigneter zwangsbewehrter Institutionen der Rechtsdurchsetzung und lückenloser, durch geeignete Vertretungshierarchien gesicherter Legitimationsketten.
Brunkhorsts rechtfertigungstheoretischer Enthusiasmus mutet einem vor großen Gebärden und Worten zurückschreckenden liberalen Skeptiker eine ganze Menge zu. Nicht minder seine optimistische, vor drastischer Vereinfachung nicht zurückscheuende Analyse der weltinnenpolitischen Verhältnisse. Gleichwohl ist er kein Illusionist. Er weiß natürlich, dass keine der drei Gelingensbedingungen globaler Demokratie bislang auch nur im Ansatz Wirklichkeit geworden ist.
In aussichtsloser Lage ist Optimismus Pflicht. Sonst übersieht man womöglich die Zeichen, etwa dass sich neuerdings „eine globale Protestbewegung in der Sprache eines neuen Menschenrechtspatriotismus” artikuliert, die, als sie von „Berlusconis Polizeistaat” vor dem schwimmenden Tagungsort des G8- Gipfels in Genua niedergeknüppelt wurde, „Voi G8, noi 6 000 000 000 – Ihr seid G8 wir sind 6 Milliarden” skandierte. Man könnte hier nach den fehlenden Gliedern der demokratischen Legitimationskette fragen. Aber Brunkhorst vernimmt hier die Stimme Rousseaus, wie schon damals in Paris und neulich wieder in Leipzig.
WOLFGANG KERSTING
HAUKE BRUNKHORST: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 247 Seiten, 10 Euro.
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