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John Griesemers packender historischer Roman erzählt von der Verlegung des ersten Telegraphenkabels im Atlantik und vom Aufbruch in die Moderne.

Produktbeschreibung
John Griesemers packender historischer Roman erzählt von der Verlegung des ersten Telegraphenkabels im Atlantik und vom Aufbruch in die Moderne.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.01.2004

Schiffe mit Dingens
Vom Scheitern einer Lektüre: John Griesemers ”Rausch”
O ja, dieses Buch mit dem riesigen, halbfertigen Bug auf dem Umschlag war eine große Verlockung. „Lesen” hatte die Aufforderung geheißen, Spannung war versprochen worden und Belehrung nicht minder. Dick und grau wie ein träger Wal lag der Roman auf dem Tisch, immer griffbereit, eine Verheißung für zwei, drei, ja möglicherweise vier Abende, die wie im Rausch verfliegen sollten. „Nie zuvor war ein solch ein Schiff” – wer möchte sich nicht durch einen solchen Satz zu einer Lesereise verlocken lassen, schon wegen dieses „nie”, das episch ausgriff in den Urgrund aller Zeiten, auch wegen des „solch”, das daherkam wie ein Ruf aus dem neunzehnten Jahrhundert, als die Dichter noch staunen konnten und beschreiben wollten.
Und dann dieses Bild vom dunklen Ungeheuer, noch ohne Masten, das da an einem nasskalten Wintertag am Ufer der Themse liegen soll. „Vielleicht bricht das Ungeheuer gar, noch erregender für die herbeiströmende Menge, beim heutigen Stapellauf auseinander.” Keine zwei Absätze sind vergangen, bevor diese düstere Prophezeiung fällt. Ja, wenn Nosferatu mit seinen langen, bleichen Fingern auf der Titanic anheuerte, könnte die Erwartung nicht finsterer dräuen.
Warum hat das Buch dann doch immer nur griffbereit dagelegen, warum hat es sich wieder geschlossen? War es, weil das Telefon geläutet hat, war es, weil der Faden des Lesens wie von ungefähr verloren ging, war es, weil die Aufmerksamkeit plötzlich einen anderen Weg nahm, als „der amerikanische Ingenieur Chester Ludlow” aufgetreten und auf einen überwucherten Abfallhaufen gestiegen war, um über die vielen Menschen hinweg einen Blick auf den gigantischen Rumpf zu werfen? Hinter einer Kneipe hatte dieser Haufen gelegen, und Chester Ludlow war erkältet, ja, er würde gewiss bald krank werden von diesem englischen Winterwetter. „Die Luft surrt vor Erwartung und eiskaltem Regen. Männer, Frauen und Kinder schwatzen, lachen und stolpern durch den Dreck, als wären sie bei einem Picknick.” Kann kalter Regen „surren”? Und ist Durch-den Dreck-Stolpern so ähnlich wie Picknicken?
Karl Marx riecht nach Zwiebeln
John Griesemers Roman „Rausch” (mare buchverlag, Hamburg 2003) hat eine erstaunliche Geschichte. Als das Buch im vergangenen Frühjahr zuerst in den Vereinigten Staaten erschien, erreichte es seinen bescheidenen Erfolg beinahe ohne die literarische Kritik. Die Rezensenten referierten den Stoff der Geschichte: Kann man tatsächlich einen historischen Roman schreiben, der vor allem von der Verlegung des ersten Telegraphenkabels von Irland nach Nordamerika handelt? Man kann, lautete die Antwort. Und wenn man auf die Suche nach den Spuren geht, nach den Leseeindrücken, die dieses Buch hinterlassen hat, dann stößt man auf Liebhaber der Technikgeschichte. Der Roman, urteilte die New York Times im Juni vergangenen Jahres, gleiche auch in seiner Figurenführung einem physikalischen Problem: „Wie beim Kabel scheitern auch die Versuche menschlicher Kontaktaufnahme an gebrochenen Verbindungen und unangepasster Spannung.”
Im September dann erschien das Buch in Deutschland, im selben Monat wurde es in Elke Heidenreichs Fernsehsendung „Lesen!” – die auch „Kaufen!” heißen könnte – euphorisch empfohlen, und ein paar Tage später stand es auf den Bestsellerlisten ganz weit oben. Nirgendwo anders auf der Welt, in keinem anderen Land fand und findet dieses Buch so große Beachtung. Ob das damit zusammenhängt, dass in Deutschland unter den transatlantischen Spannungen besonders gelitten wurde, unter dem offenen Dissens zwischen Schröder, Chirac und Bush, so dass die Idee eines Telefonkabels zwischen dem alten Europa und dem neuen Amerika besonders heftig einleuchtete? Oder macht sich hier das von den diversen Bildungsvergleichen ausgelöste schlechte Gewissen bemerkbar und verlangt nach historischer Unterrichtung, am liebsten jedoch in leicht genießbarer, also literarischer Verkleidung?
Es wurde November. Der Regen fiel, die Feuchtigkeit hing in den wollenen Kleidern, aus den Kneipen drang ein warmer Dunst. Auf dem Tisch lag immer noch das Buch. Charles Dickens, ja, Charles Dickens, soll das Vorbild von John Griesemer sein, er beruft sich sogar im Roman selbst auf den englischen Realisten als auf seinen größten Lehrmeister – mit ihm möchte er sich vor dem lebendigste Leben in der Literatur verbeugen. „Trace spürt den Regen schmerzhaft deutlich. Er rinnt in seinen Kragen. Er riecht den Alkohol aus dem Mund des Bärtigen, den Zwiebelgeruch seiner Achselhöhlen. Er hat einen Schlag auf das linke Auge bekommen, es beginnt zuzuschwellen. Regen prasselt auf sein Gesicht.” Ja, so muss es gewesen sein, im Jahr 1857 in London.
Ein eindringliches Bild folgt auf das andere. John Griesemer hat sein Buch in einer unendliche Kette von Bildern, und ein jedes spricht zum Leser: Schau, wie eindringlich ich bin, bewundere mich. „Nasses Flaggentuch hängt von der Tribüne herab, so dass er wie hinter Vorhängen in einer düsteren Tribüne steht, die vom Geruch seines Erbrochenen erfüllt ist.” Der betrunkene Bärtige mit dem Zwiebelgeruch heißt Karl Marx, später taucht auch noch Abraham Lincoln auf und holt sich etwas zu essen, bevor er in sein Arbeitszimmer geht. Wie aber hängen die Szenen zusammen? „Signal and Noise” heißt das Buch im amerikanischen Original, und der Titel ist treffend: Signal, Rauschen, Signal, Rauschen. John Griesemer hat sein Buch geschrieben, als wolle er ein gigantisches Diorama an seinen Lesern vorüberschieben: Hier sehen wir den Ingenieur in der Nachtkutsche nach Brighton, dann knirscht kurz die Maschinerie, dann besuchen wir ein Sägewerk in der Tottenham Court Road. Wäre diese literarische Technik ein pathologisches Symptom, müsste es „schubartig auftretende Lokalkoloritis” heißen.
Im Dezember liegt das Buch immer noch da, mit einem Lesezeichen auf Seite 82. Eine Passage ist angestrichen: „Ich liebe das”, sagt eine kleine Londoner Hure namens Maddy, die im Tunnel unter der Themse arbeitet. „Das is Fortschritt, genau. Fortschritt. Schiffe mit Dingens, die direkt über unseren Köpfen fahn. So was kann einem auf der Straße nich passiern, hab ich Recht?” Die „Dingens” nennt man im wirklichen Leben „Propeller”. Ein Schatten liegt auf diesem Buch. Es ist nicht der Schatten von Don DeLillo oder der von E. L. Doctorow, den der Klappentext ankündigt. Es ist der Schatten von James A. Michener, jenes vor sechs Jahren verstorbenen patriotischen Bürgers der Vereinigten Staaten, der die Trivialliteratur mit großen Büchern wie „Hawaii”, „Space” oder „Texas” bereicherte – allesamt Allegorien auf die wahren Tugenden der Amerikaner, auf ihren unerschütterlichen, übermenschlichen Glauben an eine bessere Zukunft.
Allegorisch ist das schwarze Schiff, das nicht vom Stapel laufen will, aber tötet. Es ist die Industrielle Revolution, der Manchester-Kapitalismus in seiner schlimmsten Verfassung. Allegorisch ist Chester Ludlow, der Kreuzritter für den technischen Fortschritt. Allegorisch ist seine Frau, die Spiristin, die das anbrechende Zeitalter der großen Kommunikation durch einen Kontakt mit dem Jenseits bereichern will. John Griesemer jagt eine Handvoll Menschen über den Globus, die sich im Laufe der etwa zehn Jahre, umspannenden Geschichte, dauernd wiederbegegnen, oft in verschiedenen Berufen, mit anderen Aufgaben, allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz. Sie treten auf und ab, als hätte man sie auf Diapositive gebannt: Licht an, Mensch da, Licht aus, Mensch wieder weg.
Anfang Januar liegt das Buch immer noch da: „Der Majordomus sandte Chester ein Lächeln und bezeugte mit einem Kopfnicken seinen Respekt für Spudes Fähigkeiten als Theaterdirektor. Chester lächelte ebenfalls und wandte sich wieder den drei Damen zu, denen er eben die Grundlagen des Abrollmechanismus für Unterseekabel erklärt hatte.” John Griesemers Charaktere sind flach wie das Marschland an der Mündung der Themse. Warum tingelt Fanny Ludlow, die edle Frau des großen Ingenieurs, als Wahrsagerin durch das Land und schläft mit einem Scharlatan? Warum finden die beiden nach Jahren der Trennung wieder zusammen? Man erfährt es nicht. „Chester Ludlow besaß Autorität”, findet die Geliebte, „sie flüsterte das Wort.” Und dann sehen die beiden an sich hinab und beobachten, „wie sich die Härchen auf ihren Handrücken vor Erregung aufrichteten.” Und das sollen wir glauben? Hier, auf Seite 160, bricht die Lektüre endgültig ab.
THOMAS STEINFELD
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