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Produktdetails
  • Verlag: Universitas Verlag
  • 11. Auflage
  • Deutsch
  • ISBN-13: 9783800413874
  • ISBN-10: 3800413876
  • Artikelnr.: 07874202
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.1999

"In ordnungsgemäßer und humaner Weise"
Die Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkriegs

Heinz Nawratil: Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit, Universitas Verlag, München 1999. 248 Seiten, 34,- Mark.

Die Gelehrten verschiedener Fachrichtungen debattieren noch, ob es sich bei der Vertreibung aus Ostdeutschland und Ostmitteleuropa bei Ende des Zweiten Weltkrieges und in den unmittelbar folgenden Jahren mit über 2 Millionen Todesopfern "nur" um einen Demozid (Massenmord; so Gunnar Heinsohn) oder um einen Genozid (Völkermord; so Felix Ermacora) gehandelt hat. Unbestritten ist, daß die von der UdSSR, von Polen, der CSR, Jugoslawien und Ungarn ins Werk gesetzte und von den damaligen westlichen Alliierten mitzuverantwortende Zwangsdeportation von insgesamt wohl über 15 Millionen Menschen das größte Verbrechen dieser Art in der überlieferten Geschichte darstellte. Trotzdem besteht in weiten Teilen der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten eine erhebliche Unsicherheit bei Einordnung und Bewertung dieser Ereignisse, die dazu geführt hat, daß über die Vertreibung der Deutschen totale Unkenntnis und Ahnungslosigkeit bestehen, sofern das Geschehen nicht überhaupt als quasi naturgesetzliche, zwangsläufige Folge der NS-Herrschaft relativiert, kleingerechnet, gar gerechtfertigt wird.

Dabei gehören, man vermutet es kaum, Vertreibung und Vertreibungsverbrechen zu den bestdokumentierten, aber am schlechtesten publizierten Massenverbrechen der Geschichte, wie Nawratil feststellt. 13 Millionen Seiten umfaßt nach einer Schätzung allein der Bestand "Ostdokumentation" des Bundesarchivs. Noch wesentlich umfangreicher, darauf weist Nawratil hin, ist die "Gesamterhebung zur Klärung des Schicksals der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten" des Kirchlichen Suchdienstes in München. Der Fülle der seit Jahrzehnten vorliegenden Dokumentationen und Literatur zum Geschehen entspricht die Präsenz im öffentlichen Bewußtsein in keiner Weise. Dabei besteht die Bundesbevölkerung heute objektiv zu rund einem Viertel aus Vertriebenen oder ihren Nachkommen. Die Zeit wird es mit sich bringen, daß dieser Anteil noch steigt. Bei einer Befragung im Jahr 1996 rechneten "sich selber oder jemanden aus der Familie" aber subjektiv nur zehn Prozent der 30 bis 49 Jahre alten und nur acht Prozent der unter 30 Jahre alten zu den Heimatvertriebenen. Über die Hälfte der Jüngeren weiß offenbar nichts vom eigenen ostdeutschen familiären Hintergrund. Das ist ein bemerkenswertes Ausmaß an Verdrängung. Warum das so ist, macht Heinz Nawratil neben Faktographie und Erforschung der Motive der Vertreiber zum Gegenstand seiner Studie, die erstmals 1982 unter dem Titel "Vertreibungsverbrechen an Deutschen" erschien und nunmehr in 4. überarbeiteter Auflage als "Schwarzbuch" erschienen ist. Darin gelingt aktualisiert ein Gesamtüberblick zur Vertreibung der Deutschen, der diesen Teil unserer Geschichte auch dem bisher Unkundigen im Zusammenhang plastisch und sachlich zugleich erläutert.

Als Jurist und Notar stellt Nawratil an den Beginn seiner Studie die Darstellung des "Tatbestands" in den einzelnen Vertreibungsgebieten, in die immer wieder Zeitzeugenberichte, namentlich aus dem Bestand des Bundesarchivs, der sich heute im Bayreuther Lastenausgleichsarchiv befindet, eingestreut sind. Diese Erlebnisberichte machen selbst dort, wo sie in Andeutungen steckenbleiben, das Buch zusammen mit dem Bildteil zu einer furchtbaren Lektüre, der man sich aber nicht entziehen darf. Die Schilderungen insbesondere des Schicksals der Frauen, die der Roten Armee in die Hände fielen, oder der hunderttausendfachen Deportation aus den Oder-Neiße-Gebieten, aber auch aus Rumänien und Ungarn zur Zwangsarbeit in die hinterste Sowjetunion sind grauenhaft. Der Massenterror gegen die Zivilbevölkerung stellt sich nicht als Vielzahl individueller Exzesse dar, sondern als Mittel der Kriegführung bis lange nach dem Krieg und als Voraussetzung der schließlichen Zwangsausweisung.

Keim zu Mord und Totschlag.

Es offenbart sich hier auch die Ambivalenz des Begriffes der "Vertreibungsverbrechen", der ja das Vorkommen von Verbrechen in und bei der Vertreibung suggeriert, während diese doch per se das Verbrechen darstellt. Besser wäre, die vielfachen brutalen Angriffe gegen Leib und Leben von Zivilisten als Vertreibungsexzesse zu kennzeichnen. Es lag der Keim zu millionenfachem Mord und Totschlag schon in der Entscheidung zur Vertreibung, die sich überhaupt nicht "in ordnungsgemäßer und humaner Weise", wie sie das Potsdamer Protokoll vorsah, vollstrecken läßt. Wer Massenvertreibungen in Gang setzt, programmiert Terror und Exzesse mit.

Nawratil resümiert den Tatbestand, daß bei der Vertreibung nach Westen oder der Verschleppung in den Osten zwischen 1945 und 1948 außerhalb der militärischen Kämpfe 2,8 Millionen Deutsche ums Leben gekommen sind. Die Zahl liegt unter anderem deshalb höher als sonst geläufige Zahlen, da auch die bei Kriegsende in den Ostgebieten lebenden Bombenevakuierten aus Westund Mitteldeutschland, deren Todesopfer auf 220 000 beziffert werden, wie auch die etwa 350 000 Deportationstoten der Rußlanddeutschen miteinbezogen werden. Aus einem Bericht des Bundesarchivs, der in den siebziger Jahren aus "entspannungspolitischen Gründen" unter Verschluß gehalten wurde, wissen wir, daß von den jedenfalls weit über zwei Millionen zivilen Vertreibungs- bzw. "Nachkriegsverlusten" im Osten mindestens 600 000 als Opfer unmittelbarer Gewalt durch Mord, Totschlag, Massenvergewaltigungen bis zum Tode umkamen. Manchen suspekten Versuchen, dies als die Gesamtzahl der Vertreibungsopfer zu plakatieren, ist mit Nawratil entgegenzuhalten, daß die Mehrzahl an den Folgen von Mißhandlungen, an Hunger, Entkräftung in Lagern oder auf dem Transport und per Vernichtung durch Arbeit umkam.

Im zweiten, umfangreicheren Teil werden die Motive der Täter behandelt. Im ganzen scheidet die Annahme aus, das Ausmaß der Vertreibungsverbrechen habe an den einzelnen Tatorten in direktem Zusammenhang mit den vorherigen deutschen Herrschaftspraktiken gestanden, die Vertreibung sei also dort um so wilder verlaufen, wie sich zuvor das deutsche Regime präsentiert hatte. Die Vertreibung der Deutschen aus Polen, das unter dem Generalgouverneur Hans Frank und den Gauleitern Greiser und Forster den Anblick eines Schlachthauses bot, war nicht brutaler als die aus der wiedererrichteten CSR Eduard Beneschs, die den Krieg - trotz Lidice und Theresienstadt - ungleich besser und unbeschadeter überstanden hat als irgendein anderes vom Krieg direkt betroffenes Land. Die übelsten Exzesse gingen teilweise von vormaligen Kollaborateuren sowie den aus der Hefe des Volkes rekrutierten "Revolutionsgarden" aus, während die Beteiligung echter tschechischer Widerstandskämpfer an Verbrechen im Sudetenland eher gering war.

Auch bei den zahllosen Gewalttaten von Rotarmisten stand nach Nawratil "Rache" als wirkliches Motiv nicht im Vordergrund: "Daß etwa das Ausmaß der Übergriffe mit der Intensität der vorangegangenen Kampfhandlungen in Verbindung stand, läßt sich allgemein nicht nachweisen." Gleichfalls fällt auf, daß als Täter der wilden Exzesse aus dem roten Militär in den Zeitzeugenberichten nicht selten "Mongolen" oder "Kalmücken" genannt werden, also junge Soldaten aus den asiatischen Teilen der Sowjetunion, die von Krieg oder gar deutscher Besatzung immer Zeitzonen entfernt geblieben waren.

Die terroristischen Formen der Fluchterzwingung, Internierung, Ausweisung waren so allgemein und flächendeckend, daß der politische Wille dahinter sehr deutlich wird. Er wurde auch offen artikuliert, so vom Befehlshaber der tschechischen Exil-Verbände General Ingr: "Schlagt sie, bringt sie um, laßt keinen am Leben." Oder - Nawratil nennt ihn nicht - von Jan Karski, einem damaligen Diplomaten der polnischen Exilregierung, dem über die Jahrzehnte selbst in Deutschland ein unverdienter Nimbus anwuchs, 1943 gegenüber Roosevelt: "Wir haben vor, im Augenblick des deutschen Zusammenbruchs einen kurzen, sehr schrecklichen Terror gegen die deutsche Bevölkerung zu organisieren, so daß diese von sich aus massenhaft das Gebiet Polens verlassen wird."

Geplantes Gewaltverbrechen.

Die Nachzeichnung der Motive der Sowjets, der Polen, der tschechischen Nationalisten, der Tito-Partisanen und so weiter zeigt, daß die Vertreibung auf Krieg und NS-Terror eben nicht wie der Donner auf den Blitz folgte, sondern ein diplomatisch vorbereitetes und abgesichertes, ein geplantes und konsequent durchgeführtes Großverbrechen war, das teilweise auch - wie bei Benesch oder in Kreisen der polnischen "Endecja" - auf Konzepte aus der Zeit noch vor dem Krieg zurückging. Daß Krieg, NS-Terror und jahrelange Brutalisierung der europäischen Öffentlicheit einen ungemein günstigen Boden für die Verwirklichung des jetzt noch dazu sowjetideologisch aufgeladenen alten Panslawistentraumes eines bis zur Linie Stettin-Triest von "Germanen" gesäuberten europäischen Ostens bereitet hatten, bleibt dabei richtig. Aber aus der Abfolge der braunen und roten Großverbrechen eine zwingende Kausalität abzuleiten - post ergo propter -, ist ethisch und intellektuell nicht redlich zu untermauern.

Daß sich in den vergangenen Jahren in Polen oder der Tschechischen Republik verstärkt jüngere Historiker diesen lange tabuisierten Fragen, der inneren Geschichte der Vertreibung zuwenden und teilweise schon bemerkenswerte Forschungserträge vorlegen konnten, die die deutsche Quellenbasis, die "Opfer-Perspektive" gar nicht hergab, spiegelt das Buch Nawratils leider zu wenig wider. Tatsächlich kommen wichtige Anstöße zur Aufarbeitung der Vertreibung gegenwärtig vornehmlich von östlichen Wissenschaftlern. Zu lange war die Vertreibung für die deutsche Zeitgeschichte ein "Stiefkind der Zunft" (Herbert Ammon). Eifrig erforschen Zeitgeschichtler seit Jahren Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen in den verschiedenen Besatzungszonen, doch zum ereignisgeschichtlichen Prä, der Vertreibung selbst, ihrer Vorbereitung, Organisation und Durchführung, ist in Deutschland seit Jahren nur wenig von Belang erschienen. Kamen Anstöße, so meist von außen wie die wichtigen und grundlegenden Arbeiten des Amerikaners Alfred de Zayas oder des Italieners Marco Picone Chiodo.

Deshalb ist es zu begrüßen, ja notwendig, daß Nawratils seit einigen Jahren vergriffene, gediegene Synthese dieser dramatischen Ereignisse, deren Folgen das Gesicht des europäischen Ostens nachhaltig verändert haben, wieder in neuer Fassung zur Verfügung steht.

ERIKA STEINBACH

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