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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2003

Von Menschen und Schwänen
Ohne Ballettposen: Lisbeth Zwerger inszeniert "Schwanensee"

Tschaikowskys "Schwanensee" ist sicher das weltweit beliebteste Ballett. Ein Bilderbuch dazu paßt in modische Programme einer "Klassik für Kinder", die Texte aus dem Kanon traditioneller bürgerlicher Bildung vermarkten und denen als "klassisch" alles Bewährte und Populäre gilt. Wenn jedoch die Illustratorin Lisbeth Zwerger heißt, relativiert sich der trendige Charakter eines solchen Buchs. Die österreichische Künstlerin hat immer ältere Texte den aktuellen vorgezogen. Sie ist, unabhängig von Modeerscheinungen, eine verläßliche Fürsprecherin literarischer Traditionen und eine anspruchsvolle Mittlerin zwischen Kunst und Kinderkultur.

Die Handlung des Balletts erleichtert solche Vermittlung. Prinz und Prinzessin mit dunkler doppelgängerischer Nebenbuhlerin, Tierverwandlungen, große Liebe und böser Zauber gehören ins Repertoire vertrauter Zaubermärchen. Die psychologischen Hintergründe des Librettos, die manche neuere Interpretationen szenisch umzusetzen versuchen (allen voran die von John Neumeier in Hamburg, "Illusionen - wie Schwanensee", 1976), bilden einen Subtext, der je nach Erfahrung und Interesse des Lesers mitgelesen wird oder zugunsten der farbigen Handlungsoberfläche zurücktritt.

In der Geschichte des Librettos wie der Partitur sind bereits zu Tschaikowskys Lebzeiten Änderungen nachweisbar; nach seinem Tod überarbeitete sein Bruder Modest das Libretto von Grund auf. Heutige Inszenierungen wählen frei zwischen den Bearbeitungen. Lisbeth Zwerger hat sich - wie Irene Schneider in ihrer Magdeburger Inszenierung von 1999 - für einen glücklichen Ausgang entschieden: Der böse Zauberer wird besiegt, die Liebenden werden vereint. Sie betont damit den Volks- und Kindermärchen-Charakter der Geschichte gegenüber der traurig endenden Version Modest Tschaikowskys, die die Liebenden nur im Tod vereint und die den romantischen Kunstmärchen nähersteht. Deren dämonische, unheimliche und tragische Töne würden schwerlich mit Lisbeth Zwergers Neigung zum Anmutigen und Zierlichen harmonieren.

Ihre Lust am Ornamentalen hat sie in diesem Buch auf Vignetten der Textseiten begrenzt: Notenzeilen werden von Blatt-, Bänder- oder Schwanenornamenten umrankt. Die Bildtafeln kommen ohne ornamentale Rahmung aus. Bis auf die Ballszene, in der die hellblau und hellrot gekleideten Prinzessinnen vor einem verhaltenen Ockergold ihre Tänze aufführen, sind die Bilder in matten Blau- und Grüntönen gehalten; Schwarz, Weiß und vereinzeltes Rot setzen bedeutungsvolle Akzente. Besonders gut gelungen ist der tänzerische Gestus der Figuren. Nicht nur bei der ausgelassenen Polonaise der Bauern und Höflinge und beim Hofball, auch bei der Schwanenjagd und der späteren Flucht der Schwanenkönigin bewegen sich die Figuren wie im Tanz, ohne daß je Ballettposen zitiert würden.

Die schönsten Blätter sind die, in denen Schwäne und Menschen einander begegnen. Sorgfältig arbeitet Lisbeth Zwerger die Korrespondenzen zwischen Schwanenflügeln, Hemden und flatternden Gürtelbändern heraus, deren weißes Leuchten in der Dämmerung sie einander zum Verwechseln anähnelt. Die Erscheinung der Schwanenkönigin am spiegelnden See bringt jede Bewegung zum Stillstand. Das nächste Bild zeigt die Mädchen, die sich in Schwäne verwandeln, in eigentümlicher Bewegtheit: Links vorn ist der Schwan bereits vollendet in seiner Tiergestalt; rechts groß im Vordergrund ist aus dem Mädchenleib der Schwanenhals gewachsen, den die menschlichen Hände fassungslos betasten. Das Mädchen dahinter schlägt schon mit breiten Schwingen, während Kopf und Füße noch dem Menschenkind angehören.

Selten werden Tiermetamorphosen im Märchenbuch so überzeugend dargestellt. Die dunkle Schöne ist dagegen weniger eindrucksvoll, obgleich Text und Bild bei ihrem Auftritt schwarz unterlegt sind und eine kleine, blitzende Wolke sie in den Ballsaal begleitet. Mit der Schwanenkönigin teilt sie die rot behandschuhte Hand, die an Schwanenkopf und -schnabel erinnert. Dem Buch ist eine CD beigelegt, in der die Geschichte gesprochen wird, unterbrochen von einigen berühmten Oboen- und Harfenmelodien aus der Ballettmusik. Schade, daß den betrachtenden Kindern nicht statt dessen die Gelegenheit geboten wird, die gesamte Komposition kennenzulernen.

GUNDEL MATTENKLOTT

Peter I. Tschaikowsky: "Schwanensee". Neu erzählt und illustriert von Lisbeth Zwerger. Neugebauer Verlag, Zürich 2002. 32 S., geb., mit CD, 16,80 [Euro]. Ab 5 J.

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