Produktdetails
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.1996

Gottlos, nicht wie ein Heide, sondern wie ein Tier
Wie kann man heute noch das Christentum kritisieren? / Burkhard Müller unternimmt einen letzten Versuch

Das Vorhaben, zweihundert Jahre nach Immanuel Kant das Christentum philosophisch zu kritisieren, kann man für die überflüssigste Idee der Welt halten. War nicht das Christentum der meistkritisierte Gegenstand überhaupt? Und gab es nicht eine lange Tradition des theoretischen Atheismus, so gründlich und so erschöpfend, daß die akademische Philosophie das Thema gar nicht mehr zu kennen scheint? Doch allen Angriffen zum Trotz hat das Christentum Bestand, weit über das Ende der Aufklärung hinaus. Ohnehin profitierte am Ende das Christentum vom Eifer seiner Widersacher. Von demjenigen Friedrich Nietzsches im besonderen, denn Nietzsche haßte Gott, und seine Wut ließ sich leicht zur Verzweiflung eines Suchenden erklären.

Nietzsches "Antichrist" hätte den Untertitel "Fluch auf das Christenthum" tragen sollen und war "den Wenigsten" gewidmet, denen, die sieben Einsamkeiten hinter sich bringen sollten, um übermorgen über die Menschheit zu triumphieren. Nichts ist daraus geworden, und das plumpe Pathos dieses Textes ist den Philologen anheimgefallen. Danach beschäftigte sich der Existentialismus noch mit dem Glauben, aber mit dem Christentum gab es keine großen theoretischen Auseinandersetzungen mehr. Und nun kommt einer, mehr als hundert Jahre nachdem Friedrich Nietzsche den "Antichristen" geschrieben hatte und zusammengebrochen war, und behauptet, einen "Schlußstrich" gezogen und die "Kritik des Christentums" geschrieben zu haben. Kein Philosoph, von einem Denker im öffentlichen Dienst wäre dergleichen ja auch nicht zu erwarten gewesen, sondern ein Lateinlehrer aus Chemnitz. Noch ohne die Windmühlen auf dem Umschlag erkannt zu haben, wird man das Buch für das Traktätchen eines Eiferers halten.

Die Überraschung ist dann, daß Burkhard Müller tatsächlich eine Kritik des Christentums vorlegt: Ein kleines und kluges Werk, im Bewußtsein des Einwands geschrieben, daß das Christentum bereits tausend Mal kritisiert worden ist, und frei von Haß, Ekel und Spott, den Affekten, die seinen Vorgängern so geschadet haben. "Wer also eine Kritik des Christentums verfaßt, beginnt etwas zugleich Abgetanes, als wollte er darlegen, daß die Erde eine Kugel ist, und etwas Aussichtsloses, als bräche er eine Polemik gegen die Schwerkraft vom Zaum, eine donquixotische Paarung des Unnötigen mit dem Unmöglichen." Den "Narren auf eigne Hand" reklamiert der Autor schließlich für sich selbst, denn einzig diese Figur lebe noch in der Möglichkeit, einen Gedanken wirklich zu Ende zu denken.

Das Christentum muß seinen Gegnern nicht mehr widersprechen. Und warum auch: Man kann an ein Bekenntnis nicht dieselben Maßstäbe anlegen, die für theoretische Leistungen gelten. Wer glaubt, wird sich auch durch Evidenz nicht von seiner Überzeugung abbringen lassen, denn er glaubt ja nicht an das Evidente. In aller Deutlichkeit sprach dies zuletzt Sren Kierkegaard in seiner "Einübung ins Christentum" aus: Die ganze Beweislast, der das Christentum zu seiner Zeit unterworfen werde, meinte er, sei nur das Zeichen für einen Geist, der vergessen habe, was wahres Christentum sei. Dagegen lobte der Philosoph die Kraft der Tautologie. Es gehe nicht anders: Der Glaube müsse den Verstand suspendieren. Kierkegaard brachte auf seine Weise das Christentum an das Ende seiner Möglichkeiten. Übrig blieb der einzelne in seinem Verhältnis zu Gott, und an dieser Verpflichtung gemessen, erschienen alle guten Werke als höhere Berechnung.

Heute wird das Christentum keiner Beweislast mehr unterworfen. Dabei ist es allgegenwärtig. Nicht nur in Gestalt der Kirchen, der karitativen Einrichtungen und der Festtage. Viel mehr noch in Form von gutem und schlechtem Gewissen, von Schuld, Hoffnung und Scham, von Sünde und Glück - von lauter Regungen, die zu unserer Zivilisation zu gehören scheinen und längst auch auf tausenderlei Weise in säkularisierter Form betreut werden, zu viel schon fast, um irgendeinem Angehörigen dieser Zivilisation die Freiheit zu geben, einen Gedanken zu fassen, der nicht davon affiziert wäre. Man müßte zurücktreten können, meint Burkhard Müller, nicht nur einen Schritt, sondern viele, bis daß das ganze Gebäude des Christentums sichtbar würde. Am Anfang dieses Weges stünde eine Verwunderung darüber, daß alles so ist, wie es ist. Das Gewohnte nicht für das Selbstverständliche zu halten wäre daher die Voraussetzung, die christliche Botschaft zu prüfen, noch einmal und mit dem Ernst, den man einem lästigen Gegenstand gerade nicht gewährt.

Eigentlich, heißt es in dieser Kritik des Christentums, sollten gläubige auch frohe Menschen sein. "Das Ungeheuerliche, das ihnen verheißen ist, müßte doch ihr Leben zu maßloser Freude umgestürzt haben, in einer Weise, die sich auch Anderen mitteilt; es müßte aus ihnen ein Abglanz des Paradieses leuchten." Das aber sei nicht der Fall. Eher schon gebe es ängstliche und mürrische Menschen unter den Christen, besonders reizbare auch, wenn man mit ihnen über den Glauben debattiert. So physiognomisch, so auf die Konkretionen des Glaubens achtend, betrachtet Burkhard Müller das Christentum. Den inneren Gegensätzen dieses Glaubens spürte er mit einer Hartnäckigkeit nach, die nicht zufällig an Kierkegaards grüblerischen, unendlichen feinen Sinn für die Widerhaken des Glaubens erinnert, die er dem juste milieu des Biedermeier ins Fleisch drücken konnte. Nur daß Kierkegaard zum Sprengmeister der Kirche wurde, nicht um das Christentum zu vernichten, sondern um es gegen den verbürgerlichten Glauben zu retten.

Einer Religion, die auf der Heiligkeit ihrer Grundschriften beharrt, kann der Blick auf die Oberfläche nicht unangemessen sein. Ein solcher Blick fällt zum Beispiel auf die christliche Ethik, also auf ein Moment des Glaubens, das selbst bei Nichtchristen auf Anerkennung, wenn nicht gar auf Billigung stößt. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" heißt das wichtigste Gebot dieser Ethik, und Burkhard Müller fällt daran auf, daß diese Forderung maßlos ist. Denn nicht von Anstand ist die Rede, nicht von Großmut, und in allen Gesellschaften, ja selbst unter sozialen Tieren, gibt dieses Verhalten, daß man um das Wohl eines anderen willen etwas Schwereres einem Leichteren vorzieht.

Der christliche Glaube gibt sich damit nicht zufrieden: Liebe muß es sein - das höchste der Gefühle, von dem Immanuel Kant schreibt, man könne nicht lieben, weil man wolle, noch weniger aber, weil man solle. "Mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding." Gegen dieses Gebot kann man also nur verstoßen, und eben darauf komme es im Christentum an. So werde der Mensch zum Sünder, erläutert Burkhard Müller, und dieser Schuld versuche er sich durch die mannigfaltigen Berechnungen der auf ihr eigenes Heil bedachten Seele zu entziehen. Dann verfolgt er die Paradoxien von Sünde und Buße, Sittlichkeit und Heil über die Fraktionen des Glaubens und seine historischen Wandlungen hinweg, bis er bei der Theologie ankommt. Bei einer gottverlassenen Wissenschaft, wie der Autor meint, denn deren Aufgabe sei es, die Differenz zwischen der Schrift und der Geschichte aufzulösen - eine Differenz, die entstanden sei, weil das Christentum seinen Gott nicht im milden Licht des Mythos belassen, sondern in das grelle Licht der historischen Zeit gestellt habe. So kam der Feind ins Haus, der viele Bücher schuf, anstatt das eine zu finden; Kant und Lessing gehörten dazu, und am Ende wird Burkhard Müller dabeisein.

So merkwürdig anachronistisch ist dieser Essay, dabei von großer sprachlicher Virtuosität, und um die Tradition zu erkennen, in der er steht, muß man tatsächlich weit zurückgehen. Er hat nichts gemein mit den Traktaten der eifernden Kritiker, bei denen man schon an ihrem schlechten Stil die verklemmte Haßliebe erkennt, wenig mit Feuerbach, dem Burkhard Müller die Überzeugung nicht abnehmen würde, daß das Christentum dem Fortschritt der Menschheit im Wege stehe, und am allerwenigsten mit dem negativen Moralismus Nietzsches.

Kierkegaard versuchte sich gegen den Erfolg der Allianz zu wehren, die der Glaube mit der Vernunft eingegangen war. Burkhard Müller will nicht den Glauben, sondern die Vernunft retten, und auf sonderbare Weise ähneln sich die Figuren, die im letzten Bild stehen. Wenn am Ende des "Schlußstrichs" das "Ich" des Burkhard Müller erscheint, dann tritt es in einem so feinen, aber auch so radikalen Räsonnement auf, als habe es seinen Atheismus über Kierkegaard gewonnen: "So groß ist meine Scheu vor dem in meiner Seele verborgenen Seligen, dem Gott, daß ich mich ihm nicht einmal verehrend und hoffend zu nähern wagt, sondern es für die einzige angemessene, das heißt fromme Verhaltensweise erachte, mich von ihm so weit zu halten nicht wie ein Heide, sondern wie ein Tier." Burkhard Müller hat eine große Kritik des Christentums geschrieben: Er macht den Atheismus nicht billiger als den Glauben. THOMAS STEINFELD

Burkhard Müller: "Schlußstrich". Kritik des Christentums. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1995. 102 S., geb., 28,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr