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Produktdetails
  • Verlag: Das Arsenal
  • Seitenzahl: 176
  • Erscheinungstermin: 30. Juli 2015
  • Deutsch
  • Abmessung: 207mm x 126mm x 13mm
  • Gewicht: 220g
  • ISBN-13: 9783931109660
  • ISBN-10: 3931109666
  • Artikelnr.: 42978217
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.09.2015

Messers Schneide
Um 1969 geschrieben, jetzt erstmals publiziert: „Schlattenschammes“,
Benno Meyer-Wehlacks Erzählung über Berlin nach dem Mai 1945
VON LOTHAR MÜLLER
Dieses Buch ist ein Nachzügler. Sein Autor, 1928 in Stettin geboren, ist in Berlin aufgewachsen und hat dort gelebt. Gestorben ist er im Februar 2014 in Charlottenburg. Dass dieses Buch endlich doch noch gedruckt wird, hat er nicht mehr erfahren.
  Benno Meyer–Wehlack hat als junger Mann Feuilletons geschrieben, auch für Erich Kästners Neue Zeitung, dann über lange Jahr hin zahlreiche Hörspiele, auch Drehbücher für Peter Lilienthal und Tom Toelle, auf dem Antiquariatsmarkt gibt es seine „Pflastermusik“ (1982), Berliner Erzählungen mit Linolschnitten von Klaus Hohlfeld, dazu die aufwendig gestalteten, auch mit Linolschnitten Hohlfelds versehenen Bücher der Kreuzberger Mariannenpresse, „Das Kinokind“ (1980) und „Das Theaterkind“ (1984).
  Aber erst die nun erschienene lange Erzählung „Schlattenschammes“ fügt all dem, was dieser Autor zu Lebzeiten publiziert hat, das literarische – und zugleich das autobiografische – Zentrum hinzu. Sie handelt davon, wie sich ein 17-jähriger Deutscher, Rolf Hellhoff, im Frühjahr 1945, als der Krieg gerade zu Ende geht, von einem Fliegerhorst an der Ostsee in die Heimatstadt Berlin durchschlägt und wie dort das Theater- und Kinokind, das in ihm steckt, im Theater Tribüneso lange beim Schuttwegräumen hilft, bis es vom Intendanten Viktor de Kowa aufgenommen wird, Hilfsarbeiten verrichten – und sogar auf die Bühne darf.
  Benno Meyer–Wehlack hat diese Erzählung um 1969 geschrieben, als die Zeitgeschichte zum heißen Terrain wurde, die Auseinandersetzung um Nationalsozialismus und Krieg die alte Bundesrepublik bewegte. Aber er hat sich entschieden, seine Erzählung nicht in die Perspektive der Rekonstruktion zu rücken. Nur in Andeutungen wird die Zeit greifbar, in der sie entstanden ist, so in einem Erzählerkommentar zur zerschlissenen Kleidung, die der junge Held bei der feierlichen Wiedereröffnung des Theaters Tribüne trägt: „Er trägt, was er immer trägt, den Pullover, die Mechanikerhose. Jahre später wäre das modern, würde auffallen und dann nicht einmal mehr das. Hätte einen Protest ausgedrückt, lumpig zu gehen, abgerissen.“
  Dass der Name „Rolf Hellhoff“ nur lose aufgeklebt ist und der Autor in der dritten Person von seiner eigenen Jugend erzählt, kann keinem Leser entgehen. Dieses Verfahren dient in der deutschen Literatur seit dem „Anton Reiser“ des Karl Philipp Moritz weniger der Verrätselung und dem literarischen Identitätsspiel als dem Distanzgewinn gegenüber den Dämonen, die im Stoff des eigenen Lebens hausen.
  So auch hier: „Es ging ums Leben. Das wusste er nicht.“ So beginnt das Buch, und schon ist der Junge da und der Erzähler mit seinem Wissensvorsprung, den er aber nicht ausspielt. Stattdessen wacht er über die Erinnerungen, denen er im Schutz der dritten Person die Tür in die Gegenwart geöffnet hat. Er ist ein wenig unsicher im Erzählton, probiert es mal mit Imperfekt und Plusquamperfekt wie in einer alten Geschichte. Aber meist folgt er im Präsens seinem Helden, um ihn ganz nah zu holen.
  Er lässt ihn die Panzerfaust wegwerfen, durch die Kriegslandschaft ziehen, in der sich um Berlin herum die Anzeichen der Zerstörung und des Mangels verdichten, in Begleitung eines entlaufenen SS-Mannes, der unter der Tarnkappe des Verrückten an den russischen Siegern vorbeikommt, unter der Plane seines Wagens hat er Wehrmachtsuniformen, zum Umfärben für die Nachkriegszeit.
  Die Tarnkappe des Jungen ist die Zivilkleidung, die er in einem leeren Haus gefunden hat. Alle mythologischen Motive, die sich am Wegesrand ansiedeln ließen, schlägt sein Erzähler aus, er hält sich an das Protokollieren, den Blick von außen ohne viel Introspektion: „Er hält den Durst nicht mehr aus, zieht die Flasche mit dem Himbeersirup aus der Jacke, öffnet sie, trinkt. Doch schon der erste Schluck schneidet wie ein Messer. Es geht nicht. Er wirft die Flasche weg.“
  In diesem Stil kommt das zerstörte Berlin in den Blick, zwischen Neu–Westend, der Heimat des Helden, Charlottenburg mit der Tribüne und Rankestraße nahe der Gedächtniskirche, wo Agnes wohnt, die Schauspielerin, mit der es eine traurig scheiternde Liebesgeschichte gibt .
  Aber warum dieser seltsame Titel, warum „Schlattenschammes“? „Das ist der“, erklärt der alte Schauspieler Gustav Bertram, „der in der Synagoge die Talgreste von den Leuchtern kratzt, den Unschlitt, der ausfegt, die Stühle aufeinander stellt, der eben alles das macht.“ So kommt der Held, obwohl nicht Jude, sondern Deutscher, zu seinem Namen und das Buch zu seinem Titel. Den Untertitel hat der Verlag hinzugefügt, um diese Erstausgabe mit Werner Heldts Tuschzeichnung „Berlin am Meer“ illustrieren zu können, die sogleich das Nachkriegsberlin aufruft.
  Der Autor kehrt, Satz um Satz, in dieses Berlin zurück, erzählt die Rückkehr des Helden in das elternlose Haus im Westend, die Geschichten von Blockwarten, die sich erschossen haben, und Juden, die aus Verstecken kommen, erzählt vom Schock, als im Kino in „Nacht und Nebel“ die Bilder aus den Lagern über die Leinwand flimmern. Er berichtet von seinem Umgang mit dem Künstler Marcus Behmer, den er „Ally“ nennt. Wenn er aber von der Tribüne erzählt, in der er Erich Kästners auf den Ersten Weltkrieg gemünztes Gedicht über die Angst der Achtzehnjährigen im Krieg rezitieren darf, bis den Müttern im Parkett die Tränen kommen, hält er sich an die Klarnamen: Viktor de Kowa und die meisten im Ensemble sind Leute, die in Deutschland waren, keine Widerständler, und nun neu anfangen. Willy Prager ist darunter, der im NS-Staat Auftrittsverbote hatte, im Versteck lebte und nun einen Clown mit der Sonne auf dem hängenden Hosenboden spielt.
  Ein Stück Berliner Nachkriegstheatergeschichte wird hier en passant lebendig, neben den Baracken am Bahndamm mit „Felle Lumpen Alteisen“, den Bars, die „Arche Noah“ heißen oder „Sechs-Groschen-Bar“. Siebzig Jahre nach Kriegsende ist diese lesenswerte Erzählung eines Autors der „Flakhelfer“-Generation in der deutschen Literatur angekommen.        
„Es ging ums Leben. Das wusste
er nicht“ – so beginnt dieses Buch
über einen Jungen im Jahr 1945
Doppelter Autor: Benno Meyer-Wehlack 1987 in Berlin, vor seinem von Klaus Hohlfeld gemalten Porträt.
Foto: Renate von Mangoldt
  
  
Benno Meyer-Wehlack: Schlattenschammes oder Berlin am Meer. Erzählung aus dem Nachkrieg. Mit einer Nachbemerkung von Hannes Schwenger. Verlag Das Arsenal, Berlin 2015. 176 Seiten, 18 Euro.
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