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Zwölf Personen aus drei Generationen auf einem Gutshof in Patagonien: das wird eine doppelbödige Geburtstagsfeier. Die aus Wien stammende Jubilarin, ihr als Menschenrechtler erfolgreicher Sohn, die rebellierenden Enkel und konfliktträchtigen Gäste - alle werden mit ihrem Familiendrama oder den Gespenstern der Vergangenheit konfrontiert.
Germán Kratochwils schwarzhumoriger Roman wagt den Blick in ein Kaleidoskop menschlicher Abgründe, die ebenso skurril wie berührend sind. Stets geht es dabei um nichts weniger als das Leben.
Germán Kratochwils schwarzhumoriger Roman wagt den Blick in ein Kaleidoskop menschlicher Abgründe, die ebenso skurril wie berührend sind. Stets geht es dabei um nichts weniger als das Leben.
Kratochwil, GermánGermán Kratochwil, geboren in Korneuburg und ausgewandert als Kind, lebt in Patagonien und Buenos Aires. In Hamburg 1973 zum Sozialwissenschaftler promoviert, war er jahrzehntelang für internationale Organisationen in Genf, Buenos Aires, Lima, Asunción, Santiago de Chile, Caracas und Montevideo tätig und veröffentlichte Fachliteratur auf Spanisch. »Scherbengericht« ist sein erster Roman, der 2012 für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Zuletzt erschien im Picus Verlag Wien sein zweiter Roman: »río puro«.
Produktdetails
- Fischer Taschenbücher 19686
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- Originaltitel: Scherbengericht
- Artikelnr. des Verlages: 1015710
- 1. Auflage
- Seitenzahl: 320
- Erscheinungstermin: 21. November 2013
- Deutsch
- Abmessung: 190mm x 126mm x 18mm
- Gewicht: 242g
- ISBN-13: 9783596196869
- ISBN-10: 3596196868
- Artikelnr.: 38081927
Herstellerkennzeichnung
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Jan Koneffke hat viel zu erzählen von diesem Roman, der so viel zu erzählen hat. Über drei Generationen europäischer Auswanderer in Patagonien dehnt sich die Geschichte, die German Kratochwil in seinem Debüt aufschreibt. Das geht nicht ohne Überfrachtungen ab, typische Anfängerfehler, nennt Koneffke das leicht überheblich. Was das Buch dem Leser an symbolischer Pastosität zumutet, tritt für den Rezensenten jedoch zurück hinter "menschenklugen", witzigen und hintersinnigen Schilderungen und Figurenbeschreibungen, etwa von der Großmutter Clementine, die "zwischen Grantigkeit und Operettenträllerei" angesiedelt ist. Ebenso überzeugend seien die verschiedenen Perspektiven und der souveräne Gang durch Räume und Zeiten umgesetzt. Koneffke zeigt sich gefesselt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Plemplem in Quemquemtréu
Der argentinische Österreicher Germán Kratochwil erzählt in seinem späten Debütroman "Scherbengericht" vom Verfall einer Familie in Patagonien - als Gesellschaftskomödie voller psychischer und politischer Abgründe.
Dieser neunzigste Geburtstag sei "wahrscheinlich" ihr letzter - so der eher drohende Unterton Clementine Holbergs. Bestellt und gerufen: So kommt am 1. Januar des Jahres 2000 ein weitverzweigter Familien- und Freundeskreis von allen Enden der Welt zusammen zur Geburtstagsfeier auf einem idyllischen Landgut in Quemquemtréu, einer kleinen Ortschaft in den südlichen Kordilleren. Unterm dezemberlich blühenden Lindenbaum gibt es köstlichen argentinischen Lammbraten und traditionellen
Der argentinische Österreicher Germán Kratochwil erzählt in seinem späten Debütroman "Scherbengericht" vom Verfall einer Familie in Patagonien - als Gesellschaftskomödie voller psychischer und politischer Abgründe.
Dieser neunzigste Geburtstag sei "wahrscheinlich" ihr letzter - so der eher drohende Unterton Clementine Holbergs. Bestellt und gerufen: So kommt am 1. Januar des Jahres 2000 ein weitverzweigter Familien- und Freundeskreis von allen Enden der Welt zusammen zur Geburtstagsfeier auf einem idyllischen Landgut in Quemquemtréu, einer kleinen Ortschaft in den südlichen Kordilleren. Unterm dezemberlich blühenden Lindenbaum gibt es köstlichen argentinischen Lammbraten und traditionellen
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kakanischen Kartoffelsalat. Patagonien erscheint als Land, in dem sich die Rezepte und die Schicksale kreuzen - etwa die von jüdischen Emigranten und entwichenen Nationalsozialisten. Die mitteleuropäische Auswanderergesellschaft hat viel Geschichte und viele Geschichten im Gepäck.
Deutschsprachige Familienromane, die in Patagonien spielen, gab es bisher eher nicht. Auch vierundsiebzig Jahre alte Debütanten gehören noch nicht zum Alltag des mitsamt der Gesellschaft alternden Literaturbetriebs. Germán Kratochwil, 1938 geboren in Korneuburg, ist nach dem Krieg mit seinen Eltern nach Argentinien ausgewandert. Beruflich war er als Soziologe für internationale Organisationen tätig. Diesen Hintergrund teilt er mit der Hauptfigur seines ersten Romans, Clementines Sohn Dr. Martin Holberg, der vor der Geburtstagsfeier noch ein bisschen Vermittlerarbeit zu leisten hat. Der Beauftragte für Minderheitenschutz absolviert im Auftrag der Stiftung "Boden und Frieden" einen Termin bei einer Mapuche-Gemeinde - die Indianer sollen Land für ein Stauseeprojekt abtreten, wollen aber nicht. Beziehungsweise: wollen mehr. Schließlich präsentieren sie einen ausgefeilten Forderungskatalog (unter anderem: "ein Leichtmotorrad für jedes Familienoberhaupt"). Hier geht es um "nachhaltige Entwicklungen" und hochgesonnene Phrasen. Vierzig Jahre hat Martin Holberg an die "Möglichkeit einer besseren Gesellschaft" geglaubt. Um nun, an der Schwelle zur Pensionierung, ein neues Credo zu entwickeln: "Ich scheiß drauf!" Dabei war er schon lange "ein inwendiger Zweifelbruder" und damit ein "potentieller Saboteur des eigenen Gewerbes".
Holberg ist zur Feier unterwegs mit seiner labilen, naturschwärmerischen Tochter, die er gerade aus der Psychiatrie abgeholt hat. Katha fühlt mit allen Kreaturen - und erleidet paranoide Schübe. In den Müsli löffelnden, Eier köpfenden Gästen im Frühstücksraum eines Hotels sieht sie Teilnehmer eines "Internationalen Gehörfolterkongresses". Und was bekommt sie zu hören, als sie beim Whale Watching die Spezial-Kopfhörer aufsetzt? Die Tiere beschimpfen sie ganz unflätig. Martin erlebt fürsorglich erschüttert das Abdriften eines geliebten Menschen in eine andere Welt.
Sohn Gabriel kommt als Paraglide an den Geburtstagstisch geflogen. Ansonsten ist auch er nicht gerade ein Überflieger: Nach allerlei Studien (Philosophie, Politologie) ist er zum drogenkundigen Sinnsucher geworden, bis er schließlich in einer kuriosen schweizerisch-patagonischen Sekte landete, der Bruderschaft der "Schaler" unter Leitung des Meisters Hans-Heinz Futterer, Leitspruch: "Fülle die Schale mit deinem Eigenen, komm zu uns und bleibe!" Oma Clementines Blick auf die Enkel hat die Buddenbrook-Optik: letzte verdorrende Äste im Stammbaum einer "Patrizierfamilie". Ansonsten fühlt sich die Alte aber durchaus wohl in ihrem "Kreis überlebensfroher, kartenspielender und tortenverzehrender Witwen". Neunzig Jahre und kein bisschen leise mit der Lästerzunge, wenn sie etwa über eine Freundin des Sohnes grübelt, die Malerin Norah Borges und ihren "sehbehinderten Schriftstellerbruder, den Georgie - einen armen Schlucker, bis er zuletzt etwas bekannter geworden war". Man stutzt - ist wirklich der berühmte Jorge Luis gemeint?
Bei der Feier treffen die jüdischen Gäste aus Jerusalem auf Clementines Nachbarn und Verehrer, den einundneunzig Jahre alten unverbesserlichen Siegmund Rohr. Aufgrund seiner ungeklärten Herkunft hat er es in der Nazizeit zwar nur zum Obergefreiten an der Gulaschkanone gebracht. Trotzdem fühlte er sich zum "tragischen Nachkriegsschicksal berechtigt" und schloss sich auf Schleichweg über die Alpen dem rechten Exodus nach Südamerika an. Wenn ein freundlicher Autofahrer auf den gebirgigen Wegen Patagoniens anbietet, ihn ein Stück mitzunehmen, denkt Siegmund Rohr zunächst an eine Entführung durch den Mossad. Nicht weit entfernt liegt das Hotel "Berghof". Da hat jemand den Obersalzberg im Kleinen nachzubauen versucht - "an nostalgischen Gästen mangelte es zu keiner Saison. Sie kamen schon des Hofnamens wegen, und die Gespräche mit dem Hofherrn enttäuschten keinen." Eine feine Ironie ist das.
Heiter und vital ist der Ton und kann darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einer grotesken Versammlung angeschlagener Gestalten zu tun haben, vom manifest Geisteskranken bis zum liebenswürdigen Spinner, vom wankenden Greis bis zum schmerzgeplagten Krüppel. Der Wirt des Tilo-Hofes, Treugott Lagler, musste sich zeitlebens mit dem Handicap eines verkürzten Beines arrangieren. Früher hat er das mit Laufsport überkompensiert. Nun versucht seine Frau ihm den - bereits in einer Ecke des Hauses lauernden - Rollstuhl schmackhaft zu machen. Der Südtiroler Bauernsohn, dessen Vater einst von italienischen Faschisten verprügelt wurde und daraufhin beschloss, nach Argentinien auszuwandern, hat eine Neigung zu Fidel Castro und parodiert zwanghaft dessen Radio-Ansprachen. Sein ungeliebter Sohn, Enrique mit dem "Mostschädel", ist ein Technik-Tüftler mit feinnervigen Händen: "Er hätte Mohnkörner sortieren können." Aber wie ein Dämon wirkt er, wenn er seiner wahren Leidenschaft nachgeht: der Tierquälerei. Stundenlang schließt er sich in der Werkstatt ein, und dann passiert es: "Herzzerreißend schrie eine Kreatur." Und dann gibt es noch den Dorfdeppen Nicko, der den ganzen Tag wie getrieben durch die schöne Landschaft läuft und mit seinen Zuckungen von weitem eine Silhouette wie ein pickender Vogel abgibt. Er hat immer einen verkrusteten Schwamm an einem Stock dabei, mit dem er sich nach vergnüglichen Freiluft-Entleerungen den Hintern abwischt.
Kurz, dies ist eine Gesellschaftskomödie mit lauter politischen und psychischen Abgründen: Plemplem in Quemquemtréu. Es scheint jedenfalls dringend nötig, dass dem Freundeskreis dauerhaft beigestanden wird von einem anderen Sommergast, dem Psychoanalytiker und "Seelen-Bulldozer" Elias Königsberg, der allerdings mit der freudianischen Schulweisheit hadert und selbst mit einem weiteren Emigrantenschicksal aufwarten kann.
Erzählt wird der Roman aus wechselnden Perspektiven. Die Kapitel schmiegen sich der Sichtweise jeweils einer Figur an, bis zu inneren Monologen, wenn etwa Clementine von einer verstorbenen Freundin heimgesucht wird, der fülligen Opernsängerin Olga Rebikoff. Sie entstammte einer alten russischen Musiker-Familie, die einst vor den Bolschewiken fliehen musste. An Herzversagen ist sie vor einigen Jahren hingeschieden, nun schwebt sie am Geburtstagsmorgen über dem Lindenbaum, immer noch gekleidet in ihr unvorteilhaftes Chanel-Kostüm, und will Clementine hinüber ins Jenseits locken.
Die Erzählweise ist eher auf Betrachtung und Reflexion ausgerichtet als auf das effiziente Vorantreiben der Handlung. Subtil wird das Kräftefeld der Konflikte, Abneigungen und Sympathien vermessen. Der Roman ist ein Lesevergnügen, mit seinem gepflegten Duktus, seiner Beschreibungskunst und seinen treffenden Formulierungen, wenn etwa vom "todvertrauten Blick" eines Angestellten im Leichenschauhaus die Rede ist. Völlig zu Recht stand "Scherbengericht" auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Natürlich hatte ein solcher argentinisch-austriakischer Literaturbetriebsaußenseiter und Spätdebütant keine Chance, im Finale mitzurennen. Aber ein Geheimtipp ist "Scherbengericht" nun nicht mehr.
WOLFGANG SCHNEIDER
Germán
Kratochwil: "Scherbengericht". Roman.
Picus Verlag, Wien 2012. 312 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutschsprachige Familienromane, die in Patagonien spielen, gab es bisher eher nicht. Auch vierundsiebzig Jahre alte Debütanten gehören noch nicht zum Alltag des mitsamt der Gesellschaft alternden Literaturbetriebs. Germán Kratochwil, 1938 geboren in Korneuburg, ist nach dem Krieg mit seinen Eltern nach Argentinien ausgewandert. Beruflich war er als Soziologe für internationale Organisationen tätig. Diesen Hintergrund teilt er mit der Hauptfigur seines ersten Romans, Clementines Sohn Dr. Martin Holberg, der vor der Geburtstagsfeier noch ein bisschen Vermittlerarbeit zu leisten hat. Der Beauftragte für Minderheitenschutz absolviert im Auftrag der Stiftung "Boden und Frieden" einen Termin bei einer Mapuche-Gemeinde - die Indianer sollen Land für ein Stauseeprojekt abtreten, wollen aber nicht. Beziehungsweise: wollen mehr. Schließlich präsentieren sie einen ausgefeilten Forderungskatalog (unter anderem: "ein Leichtmotorrad für jedes Familienoberhaupt"). Hier geht es um "nachhaltige Entwicklungen" und hochgesonnene Phrasen. Vierzig Jahre hat Martin Holberg an die "Möglichkeit einer besseren Gesellschaft" geglaubt. Um nun, an der Schwelle zur Pensionierung, ein neues Credo zu entwickeln: "Ich scheiß drauf!" Dabei war er schon lange "ein inwendiger Zweifelbruder" und damit ein "potentieller Saboteur des eigenen Gewerbes".
Holberg ist zur Feier unterwegs mit seiner labilen, naturschwärmerischen Tochter, die er gerade aus der Psychiatrie abgeholt hat. Katha fühlt mit allen Kreaturen - und erleidet paranoide Schübe. In den Müsli löffelnden, Eier köpfenden Gästen im Frühstücksraum eines Hotels sieht sie Teilnehmer eines "Internationalen Gehörfolterkongresses". Und was bekommt sie zu hören, als sie beim Whale Watching die Spezial-Kopfhörer aufsetzt? Die Tiere beschimpfen sie ganz unflätig. Martin erlebt fürsorglich erschüttert das Abdriften eines geliebten Menschen in eine andere Welt.
Sohn Gabriel kommt als Paraglide an den Geburtstagstisch geflogen. Ansonsten ist auch er nicht gerade ein Überflieger: Nach allerlei Studien (Philosophie, Politologie) ist er zum drogenkundigen Sinnsucher geworden, bis er schließlich in einer kuriosen schweizerisch-patagonischen Sekte landete, der Bruderschaft der "Schaler" unter Leitung des Meisters Hans-Heinz Futterer, Leitspruch: "Fülle die Schale mit deinem Eigenen, komm zu uns und bleibe!" Oma Clementines Blick auf die Enkel hat die Buddenbrook-Optik: letzte verdorrende Äste im Stammbaum einer "Patrizierfamilie". Ansonsten fühlt sich die Alte aber durchaus wohl in ihrem "Kreis überlebensfroher, kartenspielender und tortenverzehrender Witwen". Neunzig Jahre und kein bisschen leise mit der Lästerzunge, wenn sie etwa über eine Freundin des Sohnes grübelt, die Malerin Norah Borges und ihren "sehbehinderten Schriftstellerbruder, den Georgie - einen armen Schlucker, bis er zuletzt etwas bekannter geworden war". Man stutzt - ist wirklich der berühmte Jorge Luis gemeint?
Bei der Feier treffen die jüdischen Gäste aus Jerusalem auf Clementines Nachbarn und Verehrer, den einundneunzig Jahre alten unverbesserlichen Siegmund Rohr. Aufgrund seiner ungeklärten Herkunft hat er es in der Nazizeit zwar nur zum Obergefreiten an der Gulaschkanone gebracht. Trotzdem fühlte er sich zum "tragischen Nachkriegsschicksal berechtigt" und schloss sich auf Schleichweg über die Alpen dem rechten Exodus nach Südamerika an. Wenn ein freundlicher Autofahrer auf den gebirgigen Wegen Patagoniens anbietet, ihn ein Stück mitzunehmen, denkt Siegmund Rohr zunächst an eine Entführung durch den Mossad. Nicht weit entfernt liegt das Hotel "Berghof". Da hat jemand den Obersalzberg im Kleinen nachzubauen versucht - "an nostalgischen Gästen mangelte es zu keiner Saison. Sie kamen schon des Hofnamens wegen, und die Gespräche mit dem Hofherrn enttäuschten keinen." Eine feine Ironie ist das.
Heiter und vital ist der Ton und kann darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einer grotesken Versammlung angeschlagener Gestalten zu tun haben, vom manifest Geisteskranken bis zum liebenswürdigen Spinner, vom wankenden Greis bis zum schmerzgeplagten Krüppel. Der Wirt des Tilo-Hofes, Treugott Lagler, musste sich zeitlebens mit dem Handicap eines verkürzten Beines arrangieren. Früher hat er das mit Laufsport überkompensiert. Nun versucht seine Frau ihm den - bereits in einer Ecke des Hauses lauernden - Rollstuhl schmackhaft zu machen. Der Südtiroler Bauernsohn, dessen Vater einst von italienischen Faschisten verprügelt wurde und daraufhin beschloss, nach Argentinien auszuwandern, hat eine Neigung zu Fidel Castro und parodiert zwanghaft dessen Radio-Ansprachen. Sein ungeliebter Sohn, Enrique mit dem "Mostschädel", ist ein Technik-Tüftler mit feinnervigen Händen: "Er hätte Mohnkörner sortieren können." Aber wie ein Dämon wirkt er, wenn er seiner wahren Leidenschaft nachgeht: der Tierquälerei. Stundenlang schließt er sich in der Werkstatt ein, und dann passiert es: "Herzzerreißend schrie eine Kreatur." Und dann gibt es noch den Dorfdeppen Nicko, der den ganzen Tag wie getrieben durch die schöne Landschaft läuft und mit seinen Zuckungen von weitem eine Silhouette wie ein pickender Vogel abgibt. Er hat immer einen verkrusteten Schwamm an einem Stock dabei, mit dem er sich nach vergnüglichen Freiluft-Entleerungen den Hintern abwischt.
Kurz, dies ist eine Gesellschaftskomödie mit lauter politischen und psychischen Abgründen: Plemplem in Quemquemtréu. Es scheint jedenfalls dringend nötig, dass dem Freundeskreis dauerhaft beigestanden wird von einem anderen Sommergast, dem Psychoanalytiker und "Seelen-Bulldozer" Elias Königsberg, der allerdings mit der freudianischen Schulweisheit hadert und selbst mit einem weiteren Emigrantenschicksal aufwarten kann.
Erzählt wird der Roman aus wechselnden Perspektiven. Die Kapitel schmiegen sich der Sichtweise jeweils einer Figur an, bis zu inneren Monologen, wenn etwa Clementine von einer verstorbenen Freundin heimgesucht wird, der fülligen Opernsängerin Olga Rebikoff. Sie entstammte einer alten russischen Musiker-Familie, die einst vor den Bolschewiken fliehen musste. An Herzversagen ist sie vor einigen Jahren hingeschieden, nun schwebt sie am Geburtstagsmorgen über dem Lindenbaum, immer noch gekleidet in ihr unvorteilhaftes Chanel-Kostüm, und will Clementine hinüber ins Jenseits locken.
Die Erzählweise ist eher auf Betrachtung und Reflexion ausgerichtet als auf das effiziente Vorantreiben der Handlung. Subtil wird das Kräftefeld der Konflikte, Abneigungen und Sympathien vermessen. Der Roman ist ein Lesevergnügen, mit seinem gepflegten Duktus, seiner Beschreibungskunst und seinen treffenden Formulierungen, wenn etwa vom "todvertrauten Blick" eines Angestellten im Leichenschauhaus die Rede ist. Völlig zu Recht stand "Scherbengericht" auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Natürlich hatte ein solcher argentinisch-austriakischer Literaturbetriebsaußenseiter und Spätdebütant keine Chance, im Finale mitzurennen. Aber ein Geheimtipp ist "Scherbengericht" nun nicht mehr.
WOLFGANG SCHNEIDER
Germán
Kratochwil: "Scherbengericht". Roman.
Picus Verlag, Wien 2012. 312 S., geb., 22,90 [Euro].
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Konfuses narratives Gemenge
Der in Österreich geborene und seit seiner Kindheit in Argentinien lebende German Kratochwil gehört zu den spät Berufenen, mit seinem Romandebüt «Scherbengericht» schaffte es der damals 74Jährige auf die Longlist für den …
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Konfuses narratives Gemenge
Der in Österreich geborene und seit seiner Kindheit in Argentinien lebende German Kratochwil gehört zu den spät Berufenen, mit seinem Romandebüt «Scherbengericht» schaffte es der damals 74Jährige auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012. Inzwischen sind zwei weitere Romane von ihm erschienen, die ebenfalls im Milieu europäischer Einwanderer in Patagonien angesiedelt sind. Deren thematische Gemeinsamkeit bildet das Schicksal eben jener Migranten vor einer großartigen Naturkulisse, - eine literarisch einmalige, österreichisch-argentinische Melange mithin.
Eine illustre, drei Generationen umfassende und teilweise jüdisch versippte Gesellschaft trifft sich am Tag nach der Jahrtausendwende unter dem prächtigen Lindenbaum eines malerischen Landgutes in Patagonien. Zusammen mit ihren Sommergästen wollen die eingewanderten Österreicher auf ihrem idyllischen Hof den neunzigsten Geburtstag einer Dame aus Wiener Patrizierkreisen feiern, die als Stammgast quasi schon mit zur Familie gehört. Der in mehreren Handlungssträngen auf dieses Fest zusteuernde Plot beginnt mit der Anreise des vor der Pensionierung stehenden Sohns der Jubilarin, der für eine internationale Organisation arbeitet. Er wird begleitet von seiner psychisch labilen Tochter, die soeben aus der Psychiatrie entlassen wurde. Sein missratener Sohn, ein ewiger Student, lebt in einer obskuren Sekte in der Nähe des Landgutes und wird zu Ehren seiner Großmutter als besonderes Spektakel mit dem Gleitschirm direkt neben der Festtafel landen. Abwechselnd wird in Rückblenden aus dem Leben der verschiedenen Figuren erzählt, zu denen der gesundheitlich angeschlagene Gastgeber gehört, der seine Gäste immer wieder mit Propaganda-Phrasen des sprachlich täuschend ähnlich imitierten Fidel Castro erheitert. Und auch seine per Annonce aus Österreich herbei gelockte, immer lustige spätere Frau, die geradezu arbeitswütig Haus und Hof in Schuss hält und zudem als begnadete Köchin und Bäckerin gilt, gehört ebenso dazu wie ihr psychisch gestörter Sohn, den seine abartigen Tierquälereien sexuell erregen. Zu den jüdischen Gästen gehören auch ein Psychoanalytiker und ein Dentist, außerdem eine gute Freundin und der debile Verehrer der Jubilarin, dessen in tiefem Dunkel liegende Vergangenheit mit dem Namen Mauthausen verbunden ist.
Zweifellos ist German Kratochwil ein hervorragender Erzähler, der insbesondere mit seinen alle Sinne ansprechenden Naturbeschreibungen diesen Roman zu bereichern versteht. Grenzwertig erscheint allerdings die Überfülle an Motiven, Szenen und Geschehnissen seines Romans, der bedauerlich oft ins Klischee abgleitet, was schon bei der märchenhaft übertriebenen Schilderung des Landguts mit all seinen bäuerlichen Aktivitäten beginnt, alles beherrscht vom geradezu archetypischen Lindenbaum. Auch von Konflikten mit Indianern wird beispielsweise erzählt, die sich gegen eine Landnahme wehren, vom Whale Watching, vom Besuch in einem kitschigen Lady-Di-Museum, von einem dem Berghof auf dem Obersalzberg nachempfundenen Hotel, von dem samt Wassergraben und Zugbrücke burgartig angelegten Refugium exzentrischer Sektierer.
Aber auch viele andere Figuren dieser europäischen Migranten-Clique sind deutlich überzeichnet, ob das nun die grantelnde Wiener Jubilarin ist mit ihrer süßlichen Operetten-Seeligkeit oder die vor albernem Frohsinn ewig vor sich hinglucksende Gastgeberin. Da wird von heimlicher Homosexualität mit Strichjungen am Bahnhof berichtet, von Inzest unter Geschwistern, von Krebstod und Suizid, und auch die Politik spielt natürlich mit hinein, wenn ein junger Mann in den bürgerkriegsartigen Unruhen spurlos verschwindet. Der tragische Schlussakkord ist mit dem titelgebenden «Scherbengericht» völlig unzutreffend beschrieben. Es werden hier zwar die Schatten der Vergangenheit ans Licht geholt, ohne indes mit einer nachvollziehbaren inneren Logik überzeugen zu können, zu konfus ist leider das maßlos überfrachtete narrative Gemenge.
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