ist mit diesem "Remake" kein geringes Risiko eingegangen. Eine andere Zeit, ein anderes Land, das bedeutet auch: andere Gesetze, andere Beziehungsmuster, andere Tabus - und damit die Gefahr, dass die Geschichte nicht mehr funktioniert. Stanley Kubricks Versuch, in seinem Film "Eyes wide shut" Schnitzlers "Traumnovelle" ins Amerika der neunziger Jahre zu versetzen, hat unlängst gezeigt, wie schwierig, ja beinah unmöglich es ist, die sexuellen Verstrickungen eines Paars aus dem Wien der zwanziger Jahre ins New York unserer Tage zu versetzen. Bei Simmons ist der zeitliche Abstand noch größer, die Konstellation zwischen den Liebenden nicht minder gewagt, und doch gelingt ihm das Kunststück, die alte Geschichte so in die Gegenwart zu übersetzen, dass sie zur eigenen wird.
Allein schon für den ersten Satz verdiente er einen Preis: "Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank." Welche Fülle an Stoff, welche Spannung sind in dieser lapidaren Mitteilung enthalten! Noch weiß man nicht, was die beiden Ereignisse miteinander zu tun haben; aber man ahnt, dass sie etwas miteinander zu tun haben. In der Spanne zwischen beidem liegt das Wissen eines ganzen Lebens: Liebe und Tod und die Erfahrung von Schuld, ohne die das eine wie das andere nicht zu haben ist.
Charles Simmons erzählt aus der Erinnerung. Er sei jetzt älter als sein Vater bei seinem Tod, sagt er; damit sagt er auch, dass er jetzt über Kenntnisse verfügt, die er nicht hatte in jenem Sommer 1963, als das Verhängnis seinen Anfang nahm. Damals war er fünfzehn, unerfahren noch in Liebesdingen, aber begierig, sich auf das erste große Abenteuer seines Lebens einzulassen. Es ist Sommer, die langen Ferien haben begonnen, unbeschwerte Tage, ausgefüllt mit Segeln, Schwimmen und kleinen Abendgesellschaften, stehen vor der Tür. Im Nachbarhaus sind Gäste eingezogen: eine Mutter mit ihrer Tochter. Neue Gesichter, eine vollkommene Abwechslung im sommerlichen Einerlei.
Zunächst deutet nichts darauf hin, dass dieser Sommer kein Sommer wie alle andern werden soll. Charles Simmons erzählt in leichtem Plauderton, beiläufig, sorglos, ein wenig oberflächlich sogar. Aus einer gewissen Distanz schaut er den Menschen zu, lässt sie agieren, sich finden und wieder verlieren, schwerelos wie Tänzer in einem Ballett, dessen Choreographie dem Leser verborgen bleibt. Nie weiß der Autor mehr als Michael, sein Protagonist und jugendliches Spiegelbild, und auch der Leser ahnt spät erst, zu spät, was sich unter der Oberfläche dieser sommerlichen Idylle zusammenbraut: Michael verliebt sich in die Tochter der schönen Nachbarin, verliebt sich mit aller Macht und aller Ausschließlichkeit der ersten Liebe und merkt nicht, dass ihm ein anderer zuvorgekommen ist: der eigene Vater. Die Katastrophe kommt so unvermittelt wie ein Gewittersturm nach einem heißen Tag. Zurück bleibt ein Kind, das kein Kind mehr ist. Was es heißt, erwachsen zu sein, muss es erst noch lernen.
Der Erzähler Charles Simmons ist kein Moralist. Seine Geschichte kennt kein Warum. Eine Lehre gibt es nicht zu ziehen, es sei denn die, dass das Leben ist, wie es ist, schön manchmal und manchmal grausam, und keiner im Voraus weiß, was es für ihn bereithält. Wie jeder Heranwachsende hat auch Michael eine Antwort auf die Frage gesucht, was denn die Liebe sei. Er hat sie bekommen, anders freilich, als er es erwartet hatte. In den Schmerz über den Tod des Vaters mischt sich das Wissen um eine Schuld, die unvermeidlich ist. Wer der eigentlich Schuldige sei - der Vater, der den Sohn hintergangen, der Sohn, der den Tod des Vaters herbeigeführt hat, absichtlich oder durch Unachtsamkeit, wer wüsste es zu sagen -, diese Frage lässt der Autor bewusst offen. Es ist diese Offenheit, die die Qualität seiner Geschichte ausmacht. Wenigen nur ist es gegeben, die Schwere des Seins so leichthin zu erzählen. Charles Simmons ist einer davon.
KLARA OBERMÜLLER
Charles Simmons: "Salzwasser". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Hornfleck. C. H. Beck Verlag, München 1999. 135 S., geb., 34,- DM.
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