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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2002

Erst Held, dann "Feind Nummer eins"
Das Leben des hingebungsvollen Wissenschaftlers und Menschenrechtlers Sacharow

Richard Lourie: Sakharov - A Biography. University Press of New England, Hanover 2002. 465 Seiten, 30,- Dollar.

Seine Lebensspanne entsprach ziemlich genau jener der Sowjetunion. Daß er zu deren Größe ebenso beitragen sollte wie zu deren Untergang, wurde ihm freilich nicht an der Wiege gesungen. Der vier Jahre nach der bolschewikischen Revolution in Moskau geborene Andrej Sacharow hatte es keineswegs auf eine politische Rolle angelegt, sondern sich mit Haut und Haaren der Physik und der Mathematik verschrieben. Doch sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und Menschlichkeit ließen den zunächst vielfach ausgezeichneten "Helden der Sozialistischen Arbeit" schließlich zum "Feind Nummer eins" eines Regimes werden, dem er als Schöpfer der Wasserstoffbombe gleichsam zu den militärischen Weihen einer Weltmacht verholfen hatte.

Im Zuge dieser Entwicklung durchlebte Sacharow eine Metamorphose, die ihresgleichen suchte und in der verschlossenen, auf den sowjetischen Landkarten nicht einmal existierenden Stadt "Arsamas 16" ihren Anfang nahm. Diese "Installation" stand, wie der amerikanische Sacharow-Biograph Richard Lourie es zutreffend ausdrückt, für eine "merkwürdige Kombination des Besten und Schlechtesten in der sowjetischen Gesellschaft". Da gab es enthusiastische Wissenschaftler und blendend ausgebildete Ingenieure auf der einen Seite und Abertausende von Gefangenen in Arbeitslagern auf der anderen, die für den Aufbau des sowjetischen Atomwaffenarsenals unter menschenunwürdigen Umständen zu schuften hatten. Sacharow selbst, der nahezu zwanzig Jahre in dieser eigenartigen Abgeschiedenheit verbrachte, nahm davon anfangs kaum Notiz. Er verstand sich seit Hiroshima und Nagasaki, dazu von Stalin mit Nachdruck angehalten, vornehmlich als "Soldat in einem neuen wissenschaftlichen Krieg", der 1961 und damit acht Jahre nach dem Tod des Despoten in der Zündung einer thermonuklearen "Big Bomb" von nicht weniger als fünfzig Megatonnen kulminierte.

Damals hatte sich Sacharow allerdings bereits den Unmut Chruschtschows zugezogen, weil er, der Atomphysiker, nach vorausgegangenen kleineren Versuchen der Meinung war, nun, da die Sowjetunion mit Amerika gleichgezogen habe, würden weitere Tests dem Bemühen um Abrüstung und der Sicherung des Weltfriedens nur abträglich sein. Chruschtschow aber hielt ihm zornig entgegen: "Erzähl uns nicht, was wir zu tun haben und was nicht!" Noch fügte sich Sacharow den Befehlen des Kreml. Auch später sollte er sein Wirken als Atomwissenschaftler nicht wirklich bereuen, weil für ihn damals, wie es sein Biograph formuliert, "Patria" und "Parity" ein und dasselbe gewesen seien. Doch als er dann ein militärisches Gleichgewicht zwischen seinem Land und Amerika für hergestellt hielt, wurde der Ruf nach Rüstungskontrolle sozusagen zu seinem ersten politischen Engagement. Und dieses begann sich schon bald gegen das Sowjetregime als solches zu richten, als Sacharow im Herbst 1965 in einem Brief an den Vorsitzenden des Obersten Sowjet gegen die Verhaftung der beiden Schriftsteller Andrej Sinjawskij und Julij Daniel protestierte.

Beispielloser Werdegang

Richard Lourie, der bereits die Memoiren Sacharows übersetzte und die nun vorliegende Biographie mit lange Zeit unzugänglichem Archivmaterial umfassend angereichert hat, zeichnet den beispiellosen Werdegang dieses hingebungsvollen Wissenschaftlers und Menschenrechtlers vor dem Hintergrund der nationalen und internationalen Entwicklungen jener Zeit einfühlsam nach. Sacharow stand mit seinen wachsenden Bedenken gegen die Sowjetmacht im Kreis seiner wissenschaftlichen Förderer und Kollegen zwar nicht allein da. Doch wie niemand sonst unter ihnen war er bereit, diese Bedenken offen zur Sprache zu bringen und dafür alle nur erdenklichen Nachteile bis hin zur Verbannung nach Nischnij Nowgorod, damals Gorkij genannt, in Kauf zu nehmen.

Sein mutiges Eintreten für Dissidenten sowie seine Proteste gegen die militärische Niederschlagung des "Prager Frühlings" 1968 und den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan elf Jahre später ließen den Friedensnobelpreisträger des Jahres 1975 aus Sicht der Sowjetführung zum größten aller Staatsfeinde der östlichen Großmacht werden. Im Politbüro wußte damals nur der damalige KGB-Chef und spätere Kremlherr Jurij Andropow zu differenzieren. In einem Bericht an das Zentralkomitee schrieb er im Februar 1971 über Sacharow, dieser erwecke den Eindruck eines "typisch exzentrischen Wissenschaftlers", der dem täglichen Leben so gut wie keine Aufmerksamkeit schenke und in seinen "alten Anzügen" auch nicht den geringsten Wert auf äußeres Erscheinen lege. Allerdings sei ihm die westliche Resonanz auf seine politischen Aktivitäten inzwischen zu Kopf gestiegen und habe ihn ebenso halsstarrig wie stolz gemacht. Doch hinter diesem Stolz verberge sich ein tieferes Gefühl: "Nach seinem großen Beitrag zur Schaffung thermonuklearer Waffen fühlt sich Sacharow vor der Menschheit ,schuldig' und hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, für den Frieden und die Verhinderung eines thermonuklearen Krieges zu kämpfen." Zwar sei er kein Renegat, sondern erkenne "die Überlegenheit des sozialistischen Systems gegenüber dem kapitalistischen" nach wie vor an. Nur wolle er, Sacharow, partout nicht begreifen, daß sein Wirken dem Sowjetstaat großen Schaden zufüge und "den ideologischen Zentren unserer Feinde als Quelle für antisowjetische Propaganda dient".

In Wahrheit wurde Sacharow immer mehr zur Symbolfigur nicht nur der Regimekritiker in der Sowjetunion. Dazu hielt ihn zusätzlich die Menschenrechtlerin Jelena Bonner an, die er 1972 gegen den erklärten Willen seiner drei Kinder aus erster Ehe geheiratet hatte. Das KGB stellte in Anspielung auf Frau Bonners jüdischen Vater die Tätigkeit Sacharows nunmehr als Teil einer "zionistischen Verschwörung" dar. Und sogar Alexander Solschenizyn, von Sacharow "mangelnder Toleranz gegenüber den Meinungen anderer" geziehen, bezeichnete diesen als höriges Opfer einer "hysterischen Frau". Sacharow selbst aber ließ nie einen Zweifel daran, daß er sich seiner zweiten Frau in jeder Hinsicht aufs engste verbunden fühlte.

Die Tiefe dieser Zweisamkeit sollte sich vor allem während seiner demütigenden Verbannung nach Gorkij zeigen, aus der ihn schließlich im Dezember 1986 Michail Gorbatschow erlöste. Doch sosehr sich Sacharow fortan für Perestrojka und Glasnost einsetzte, sowenig scheute der von den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften mit überwältigender Mehrheit zum Abgeordneten des sogenannten Kongresses der Volksdeputierten Gewählte davor zurück, die reformerischen Halbherzigkeiten des neuen Kremlherrn zu kritisieren. Er entwarf gar die Verfassung für eine "Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens" und warnte wieder und wieder vor einem Rückfall in bolschewikische Zeiten, weil das den "Zerfall des Landes" bedeuten werde.

Sacharow sollte die Erfüllung seiner Prophetie nicht mehr erleben. Der stets schüchtern wirkende, aber ebenso furchtlos wie entschlossen handelnde Verfechter eines demokratischen Rechtsstaats, zu dem es Rußland nach wie vor erst in Umrissen gebracht hat, starb am 14. Dezember 1989 und damit fast auf den Tag genau zwei Jahre vor dem Untergang des östlichen Imperiums. Nur: Seine Botschaft ist heute kaum weniger aktuell, als sie es zu seinen Lebzeiten war.

WERNER ADAM

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