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Jahrzehntelang herschte im übrigen Europa das Vorurteil, Gesellschaft und Politk seien in Rußland so vom Marxismus geprägt, daß sich ein näheres Hinschaun nicht lohne. Auch die Gegensätze zu China und Jugoslawien wurden wurden allein auf den Alleinvertretungsanspruch von Lenins Erben geschoben. Dabei galt als ausgemacht, die Bolschewiki hätten in jeder Hinsicht mit der vorrevolutionären Geschichte gebrochen. Abgesehen davon, daß ein so totaler Bruch niemals möglich ist, hätte etwa ein Blick auf Kunst und Literatur gelehrt, daß im sowjetischen Rußland mehr Konituität bestand als im übrigen…mehr

Produktbeschreibung
Jahrzehntelang herschte im übrigen Europa das Vorurteil, Gesellschaft und Politk seien in Rußland so vom Marxismus geprägt, daß sich ein näheres Hinschaun nicht lohne. Auch die Gegensätze zu China und Jugoslawien wurden wurden allein auf den Alleinvertretungsanspruch von Lenins Erben geschoben. Dabei galt als ausgemacht, die Bolschewiki hätten in jeder Hinsicht mit der vorrevolutionären Geschichte gebrochen. Abgesehen davon, daß ein so totaler Bruch niemals möglich ist, hätte etwa ein Blick auf Kunst und Literatur gelehrt, daß im sowjetischen Rußland mehr Konituität bestand als im übrigen Europa. Unsere Reihe mit russischen Philosophen zeigt die dortige Klarsicht schon im 19. Jahrhundert, daß nicht Rußland, sondern der Westen unser gemeinsames Erbe verläßt. Mit steigendem Unbehagen im Westen erhöht sich die Bereitschaft anzuerkennen, daß die russische »reaktionäre« Weltsicht in Wahrheit die von morgen und übermorgen ist.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023

Beseelt
vom Glauben
Kann man mit
Dostojewski das heutige
Russland besser verstehen?
Unter den russischen Autoren, die derzeit unter Imperialismus-Verdacht geprüft oder sogar aussortiert werden, ist die Beweislast gegen Fjodor Dostojewski besonders erdrückend. Vergessen seine Anfänge als Regimekritiker, der zum Schein hingerichtet und nach Sibirien verbannt wurde, höchst präsent hingegen sind seine Feindseligkeit gegenüber Europa, seine Anbetung des Slawentums, sein Antisemitismus.
Der Slawist Walter Koschmal hat nun Texte aus Dostojewskis „Tagebuch eines Schriftstellers“ übersetzt und herausgegeben, die nach der „Zeitenwende“, also nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, dringend einer „Relektüre“ bedürften. Die „Tagebücher“ umfassen Tausende Seiten, seien aber weitgehend unbekannt oder schlecht übersetzt. Seine Auswahl, veröffentlicht unter dem Titel „Russland und Europa“, will diese Lücke schließen.
„Russland und Europa“ enthält zwar durchaus auch bekannte Texte wie etwa Dostojewskijs berühmte Puschkin-Rede vom 8. Juni 1880. Vor allem aber scheint sie direkt hineinzuführen in die Gedankenwelt eines ins Grandiose gewendeten Minderwertigkeitskomplexes, der einem heute aus der russischen Politik und Propaganda wieder gespenstisch entgegenschallt.
Europa hasse die Russen, klagt Dostojewski, es ekele sich sogar vor ihnen. Russlands kulturelle Elite habe sich seit Peter dem Großen bis zur Selbstverleugnung an europäische Geschmäcker angepasst und das reine, unschuldige, russische Volk durch die „eingeschleppte Barbarei“ verdorben. Nun aber sei es an der Zeit, sich vor diesem Volk zu verneigen, denn gerade der leibeigene Bauer, das geknechtete Volk wiesen durch ihr Leiden den Weg zu Christus. Nur so, vereint mit dem Volk und beseelt vom orthodoxen Glauben, könne Russland in einer neuen „Weltidee“ seiner „allmenschlichen“ Sendung gerecht werden: der Vereinigung aller Slawen, des Ostens, Europas. Dass Europa und sogar viele Slawen auf das russische Erlösungsangebot mit Misstrauen und Undank reagierten, betrachtete er als Ansporn zu noch größerer russischer Leidensbereitschaft.
Die Texte sind, man muss es sagen, kein schönes Leseerlebnis. Dass Dostojewski bewegte Worte zum Tod der queeren Ikone George Sand findet, ist ein seltener Lichtblick. Die Feier des Krieges als erfrischender Katharsis, die Judenfeindschaft, die provinzielle Selbstbeweihräucherung sind schwer erträglich, zumal in dieser konzentrierten Form. Aber wie sehr strahlt Dostojewskis gefühlsverliebtes Großrussentum tatsächlich in die Gegenwart?
„Die Aktualität“ der Texte sei „kaum zu überschätzen“, schreibt Koschmal. Nur liefert er dann Belege, die eher wie Projektionen wirken. Die Tagebucheinträge sind zudem nicht datiert, Erklärungen zu Personen, politischen Umständen, Gerichtsverfahren fehlen, und nicht alles lässt sich mühelos recherchieren. Das Ergebnis ist ein seltsam einsames Monstrum, ein unappetitliches Konvolut, das nach der Logik von Social-Media-Einträgen funktioniert. Man begreift nichts wirklich, aber kann sich wunderbar empören.
SONJA ZEKRI
Fjodor Dostojewski: Russland und Europa. Aus den Tagebüchern. Hrsg. u. aus dem Russischen übers. von Walter Koschmal. Friedenauer Presse, Berlin 2023. 214 Seiten, 22 Euro.
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