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Seit dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar 2022 wird sehr viel über die Gedankenwelt des mächtigsten Mannes Russlands gerätselt. Der früher als geschickter Pragmatiker anerkannte Putin wirkt nun als entrückter alter Mann, der als neuer Peter I. oder Nikolai I. in die Geschichte eingehen möchte. Es wird gerätselt, was er liest, wem er sein Ohr leiht, wer sich seines Hirns bemächtigt hat. Jeder kann Putins geschichtsversessene Reden auf Deutsch lesen. Also alles bekannt? Katharina Bluhms grundlegendes Buch wendet sich gegen den verkürzten Blick auf die Machtspitze Russlands…mehr

Produktbeschreibung
Seit dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar 2022 wird sehr viel über die Gedankenwelt des mächtigsten Mannes Russlands gerätselt. Der früher als geschickter Pragmatiker anerkannte Putin wirkt nun als entrückter alter Mann, der als neuer Peter I. oder Nikolai I. in die Geschichte eingehen möchte. Es wird gerätselt, was er liest, wem er sein Ohr leiht, wer sich seines Hirns bemächtigt hat. Jeder kann Putins geschichtsversessene Reden auf Deutsch lesen. Also alles bekannt? Katharina Bluhms grundlegendes Buch wendet sich gegen den verkürzten Blick auf die Machtspitze Russlands und die Putinologie. Sie analysiert, wie sich seit dem Ende der 1990er-Jahre eine illiberal-konservative, intellektuelle Gegenbewegung zur Schocktherapie und Westintegration formiert hat, wie sie in den 2000er-Jahren versucht, sich im neuen Parteiensystem Russlands zu etablieren, und wie deren Motive, Ideen und Konzepte ab 2012 in das konservativ-repressive Staatsprojekt Putins einfließen. Bluhm lenkt die Aufmerksamkeit auf jene gesellschaftlichen Kräfte, die das Putin-Regime tragen und seinen Staatskapitalismus beeinflusst haben, zugleich aber in permanenter Spannung zu ihm stehen. Ohne sie lässt sich die Rückkehr Russlands als eine revisionistische Macht auf die Weltbühne nicht verstehen.
Autorenporträt
Katharina Bluhm, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Osteuropa ist in Ostberlin aufgewachsen und hat an der Humboldt-Universität Philosophie und der Lomonossow-Universität in Moskau studiert. Nach 1989/90 wechselte sie von der Philosophie in die Soziologie und von der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin an die Georg-August-Universität Göttingen. Zu ihren weiteren beruflichen Stationen gehören die Friedrich-Schiller-Universität Jena, die Harvard-Universität in Cambridge (USA) sowie die Universität in Osnabrück. Ihre aktuellen Forschungsfelder sind die illiberal-konservative Wende in Russland und Ostmitteleuropa, Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die Rolle von Eliten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2024

Russlands "andere Moderne"

Zwischen Konservatismus und Staatskapitalismus - der russische Sonderweg und Wladimir Putin. Von Marktwirtschaft ist nicht mehr die Rede.

Die Eiszeit zwischen dem Westen und Russland wird oft so erklärt: Putin wolle zurück zu sowjetischen Zuständen und strebe eine vollständige Isolation Russlands an. Die Berliner Soziologin Katharina Bluhm widerspricht solch verkürzten Behauptungen. In ihrem klugen und gut dokumentierten Buch zeigt sie, wie die illiberal-konservative Bewegung in Russland eine multipolare Weltordnung fordert und sich eklektisch bei westlichen Ideologien bedient. Putin tritt bei Bluhm nicht als absoluter Alleinherrscher auf, sondern als Moderator verschiedener Interessengruppen innerhalb eines Machtkartells. Um die aktuelle Erstarrung des politischen Systems in Russland zu erklären, greift Bluhm weit in die Vergangenheit aus und analysiert die Flügelkämpfe der Neunzigerjahre. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war das Ziel der russischen Wirtschaftspolitik für alle klar: Man wollte eine leistungsfähige Marktwirtschaft. Allerdings gab es keinen Konsens über den Weg dahin. Die Reformkommunisten bevorzugten einen langsamen, staatlich gelenkten Übergang, während die Liberalen eine Schocktherapie wollten. Unter Präsident Jelzin gewannen die Westler die Oberhand. Dabei ließen sich führende Wirtschaftsexperten auch von undemokratischen Vorbildern inspirieren, etwa Pinochets Modernisierungsdiktatur in Chile. Kritisch sieht Bluhm auch die Beratertätigkeit der sogenannten "Harvard Boys". Jeffrey Sachs hatte sich in den Neunzigerjahren eine einzigartige Machtposition aufgebaut: Er beriet sowohl die amerikanischen Geldgeber als auch das russische Reformteam, das die US-Hilfe erhielt.

Jelzins Wirtschaftsminister Jegor Gajdar folgte bei seinen Maßnahmen im Wesentlichen dem "Washington Consensus": Liberalisierung des Außenhandels, Privatisierung des Staatseigentums und Deregulierung des Binnenmarktes. Im Dezember 1991 erhielt er vom Kongress der Volksdeputierten mit 876 zu 16 Stimmen eine erstaunlich deutliche Unterstützung für dieses Programm. Im Rückblick rechtfertigte Jelzin den schmerzhaften Übergang mit einer drastischen Metapher. Die Schocktherapie sei eine "Notoperation ohne Narkose" gewesen. Man habe die stalinistische Planwirtschaft, die auf Zwangsmaßnahmen beruhte, nur gewaltsam beenden können. Der radikale Eingriff führte allerdings nicht zu den gewünschten Resultaten. Die wilden Neunzigerjahre gingen als Raubtierkapitalismus in die russische Geschichte ein. Gewinne wurden privatisiert, Verluste verstaatlicht. 1998 kam es zum Staatsbankrott, der Rubel wurde um 60 Prozent abgewertet. Der damalige Weltbankchef Joseph Stiglitz monierte im Rückblick, dass man die demokratischen Institutionen vor den Wirtschaftsreformen hätte entwickeln müssen. So aber häuften wenige Akteure märchenhafte Reichtümer an. Allerdings gelang es den Oligarchen nie, die politische Kontrolle über den Staat zu erringen. Das war die Voraussetzung für die enorme Machtposition, die sich Putin seit dem Jahr 2000 aufbaute.

Nach den katastrophalen Erfahrungen mit der Marktwirtschaft formierte sich in Russland schon bald eine konservative Gegenbewegung. Vor dem Hintergrund der ökonomischen Verwerfungen machte sich vielerorts die Überzeugung breit, dass die Normen des Westens für Russland nicht nur ungültig, sondern sogar schädlich seien. Einige russische Intellektuelle flüchteten sich in den Eurasismus. Aus der Sicht dieser Ideologie gehen sowohl europäische als auch asiatische Elemente in die russische Kultur ein. Die dreihundertjährige Mongolenherrschaft wird nicht als Nachteil, sondern als Gewinn gesehen: In dieser Verbindung sei Russland zu einem geopolitischen Imperium geworden. Deshalb müsse die "einzigartige russische Zivilisation" dem materiellen Gewinnstreben, der atomisierten Gesellschaft und dem egoistischen Liberalismus des Westens entgegentreten. Andere Denker bekannten sich zu einem radikalen Nationalismus. Konstantin Krylow forderte eine "Wiedervereinigung des russischen Volkes", das nach dem Ende der Sowjetunion auch im Ausland (Ukraine, Belarus, Kasachstan) leben müsse. Michail Remisow stellte in der Nachfolge von Carl Schmitt die "absolute Souveränität" Russlands ins Zentrum seines politischen Programms. In eine ähnliche Richtung bewegte sich die orthodoxe Kirche, die ihre eigene Sozialdoktrin deutlich vom westlichen Bekenntnis zu den Menschenrechten abhob. Im Umkreis des Moskauer Patriarchen entstand ein ganzes Netzwerk ultrakonservativer Clubs, Bruderschaften und Medienprojekte.

Seit 2012 kann der Konservatismus als inoffizielle politische Staatsdoktrin Russlands gelten. Zwar verbietet Artikel 13 der russischen Verfassung eine Staatsideologie, aber mit dem 2020 eingeführten Verfassungsartikel 67.1 wird der Staat auch explizit auf konservative Werte wie den "Schutz der historischen Wahrheit" und die "Erziehung zum Patriotismus" verpflichtet. Der russische Konservatismus bedeutet allerdings nicht die Verweigerung von Innovationen. Im Gegenteil fordern staatsnahe Vordenker eine "andere Moderne", die sich von der Entwicklung im Westen unterscheiden soll. Russland wird als Hoffnungsort der Zukunft präsentiert, in dem die schädliche Trennung von Aufklärung und Religion nicht stattgefunden habe. Die russische Gesellschaft soll auf traditionelle Werte verpflichtet werden, die zwar aus der Religion stammen, aber nicht mehr in einem Kultus zelebriert werden. Diese Stoßrichtung wirkte auch auf amerikanische Konservative attraktiv. Der Fox-News-Mitgründer Jack Hanick zog 2012 mit seiner Familie nach Moskau und konvertierte zum orthodoxen Glauben. Dort half er dem bigotten Oligarchen Konstantin Malofejew beim Aufbau des religiösen Internetkanals "Zargrad". Als eine Art Internationale des Konservatismus positionierte sich schließlich der World Congress of Families, der sich begeistert über die Politik des Kremls etwa gegen die LGBTQ-Bewegung äußerte.

Katharina Bluhm beurteilt die Nachhaltigkeit des russischen Staatsmodells skeptisch. Zwar spülen die Erträge aus dem Öl- und Gasgeschäft auch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine immer noch zuverlässig enorme Summen in die Staatskasse. Bereits zu Beginn der Ära Putin hatte der Finanzminister Alexej Kudrin allerdings erkannt, wie gefährlich der Staatskapitalismus für die Privatwirtschaft sein kann. Die Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft können durch die unkontrollierte Erhöhung der Geldmenge zum Inflationstreiber werden. Außerdem schwächt der Ressourcenfluch den Reformdruck für eine Regierung, die ihre sozialpolitischen Verpflichtungen mit Petrodollars abgelten kann. Kudrin legte einen Staatsfonds an, der dem Wirtschaftskreislauf die überschüssige Geldmenge entziehen sollte. Außerdem wurde eine staatliche Entwicklungsbank eingerichtet, die Investitionen erleichtern sollte. Der Staatskapitalismus gipfelte damals in den "nationalen Projekten", die Verbesserungen in der Landwirtschaft, der Gesundheit, der Bildung und im Wohnungsbau erreichen sollten.

Die private Beteiligung an Investitionen bleibt jedoch nach wie vor schwach. Die Zentralbank weist darauf hin, dass die Hälfte der Kapitalisierung an der Moskauer Börse auf Firmen mit Staatsbeteiligung beruhe. Der russische Überfall auf die Ukraine hat die wirtschaftliche Schieflage noch einmal verschärft. Massenflucht und Mobilisierungen haben zwar die Arbeitslosigkeit auf einen Tiefstand sinken lassen. Gleichzeitig betreibt der Staat aber "militärischen Keynesianismus" - die scheinbar positiven Wirtschaftsdaten sind nicht zuletzt auf die überhitzte Rüstungsindustrie zurückzuführen, und der Staatsfonds wurde für den ruinösen Krieg geplündert. ULRICH SCHMID

Katharina Bluhm: Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion.

Matthes & Seitz Verlagsgesellschaft, Berlin 2023. 490 S., 34,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2024

Putins Idee einer neuen Weltordnung
Katharina Bluhm analysiert brillant, wie sich in Moskau über Jahrzehnte ein „illiberaler Konservatismus“ etablierte
und worum es dem kriegsführenden Präsidenten wirklich geht – jedenfalls nicht um ein bisschen Landgewinn.
VON FLORIAN KEISINGER
Der russische Krieg in der Ukraine ist ein Angriff auf den Westen. Zugleich aber ist er auch ein Affront gegenüber China. Was die bisherige Zurückhaltung Chinas bei der Unterstützung des russischen Vorgehens erklärt. Die chinesische Politik kommt Putin nur dann entgegen, wenn es den eigenen Interessen dient, zum Beispiel bei der Abnahme günstiger russischer Energie.
Tatsächlich stellt Wladimir Putin nicht nur die Vormachtstellung des Westens infrage, sondern auch die sich abzeichnende bipolare Weltordnung des 21. Jahrhunderts, in der sich die Vereinigten Staaten und China als die tonangebenden Mächte herauskristallisieren. Was ihm stattdessen vorschwebt, ist ein starkes Russland als Führungsmacht eines globalen Südens. Dieser erstreckt sich von Südostasien über Indien und Afrika bis Lateinamerika – und verfügt nach russischen Vorstellungen über das Potenzial, sich neben den Vereinigten Staaten und China als eine dritte „Großmacht“ in der Weltpolitik zu behaupten. Putin möchte also eine multipolare Welt anstelle einer amerikanisch-chinesisch dominierten Ordnung.
Derlei Planspiele sind aus vielerlei Gründen besorgniserregend; etwa, da der Weg zu einem autoritären Bündnis mit China nicht allzu weit erscheint; sowie nicht zuletzt deshalb, weil Europa Gefahr läuft, in einer derartigen globalpolitischen Konstellation endgültig keine Rolle mehr zu spielen. Leider ist bislang nicht erkennbar, dass europäische Maßnahmen für eine eigenständige Positionierung auf der Weltbühne mit dem entsprechenden Nachdruck vorangetrieben würden.
Das Buch der Berliner Soziologin und Osteuropaexpertin Katharina Bluhm offenbart diese Entwicklungslinien trotz seines hohen Differenzierungsgrades mit erschreckender Klarheit. Wenngleich akademisch, verdient es eine breite Rezeption, nicht zuletzt seitens der politischen Entscheider. Zu Recht räumt Bluhm mit dem verbreiteten Irrglauben auf, Putin plane lediglich die Wiedererlangung vergangener russischer Größe, betreibe also eine im Kern auf Restauration abzielende Politik.
Vielmehr gehe es Putin um die „Wiedergewinnung der Zukunft“, welche zweifellos mit territorialer Expansion einhergehe, zugleich aber dem westlichen Modell eine dezidiert russisch-etatistische Entwicklungsagenda gegenüberstelle. Diese habe nicht nur die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland neu definiert, sondern auch jene des Westens mit dem Rest der Welt, etwa mit Indien oder den afrikanischen Staaten. Und selbst innerhalb Europas seien die Auswirkungen sichtbar, man denke an Ungarn, (bis vor Kurzem) Polen und, man muss es leider hinzufügen, auch Ostdeutschland. Was die intellektuellen Diskurse in den westlichen Gesellschaften betrifft, fühlt Bluhm sich an die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg erinnert, als ebenfalls freiheitliche und autoritäre Modelle ergebnisoffen miteinander konkurrierten. Putins Russland konstatiert Bluhm ein sensibles Sensorium für die Unzufriedenheiten und Unzulänglichkeiten in den westlichen Gesellschaften und Systemen.
Im Zentrum von Bluhms Buch stehen die russischen Entwicklungen seit den frühen 1990er-Jahren sowie die Genese eines spezifischen „illiberalen Konservatismus“, den sie als die dominierende Ideologie im heutigen Russland erachtet. Dabei handle es sich um das Resultat eines jahrelangen Widerstreits unterschiedlicher politischer und ideologischer Strömungen, bei dem es stets auch um die Frage der „geopolitischen Identität“ des Landes gegangen sei.
Mit Bluhm lässt sich konstatieren, dass es dabei zunächst vor allem um Abwehr ging: gegen die vom Präsidenten Boris Jelzin forcierten marktwirtschaftlichen Reformen der 1990er; gegen die in Teilen Russlands wie auch im Ausland unternommenen Versuche einer russischen Westintegration; sowie gegen die Reduktion Russlands auf die Rolle eines Rohstoff- und Kapitallieferanten des Westens.
Dieser „Urkonflikt“ zwischen Reformern und deren Opposition resultierte nach der Jahrtausendwende zum einen in der Manifestation eines russischen Staatskapitalismus, dessen Resilienz, wie die aktuellen Sanktionen zeigen, größer ist als im Westen angenommen. Zum anderen in der Etablierung eines autoritären oder „illiberalen“ Konservatismus als Staatsideologie, der es vermochte – und weiterhin vermag –, durch perfide Meinungslenkung den Anschein von Pluralität und Demokratie aufrechtzuerhalten. Die progressiven, prowestlichen Kräfte hatten ihren Kampf verloren.
Putin selbst versteht Bluhm als ein Resultat dieser Entwicklungen. Weswegen er bei der Lektüre zwar gedanklich stets präsent ist, als Individuum aber keine herausgehobene Rolle einnimmt. In den 1990er-Jahren stand er auf der Seite der liberalen Reformer, die Russland als Teil Europas begriffen – wenngleich als dessen dominierenden Teil, was damals im Westen jedoch nicht verstanden wurde. Bei einer Rede im Deutschen Bundestag 2001 präsentierte der frisch gewählte Präsident Putin Russland als verlässliche Demokratie und europäischen Partner.
Der Antagonismus sei erwachsen, als sich eine konservative russische Elite zunehmend von den Vereinigten Staaten und Europa enttäuscht zeigte angesichts der vermeintlichen Marginalisierung Russlands auf der Weltbühne. Nicht zuletzt auch aus innenpolitischen Gründen habe Putin fortan verstärkt auf illiberale konservative Ideologen gesetzt. Ein wichtiger Wendepunkt ist für Bluhm das Jahr 2012, als Putin seine – in der Verfassung zunächst nicht vorgesehene – dritte Amtszeit als Präsident antrat. Seitdem sei die Verknüpfung von oligarchischem Staatskapitalismus als Wirtschaftsform und „illiberalem“ Konservatismus als Staatsideologie unaufhaltsam vorangeschritten; und habe eine Metamorphose durchlaufen, vor der angesichts des Krieges in der Ukraine auch die lange Zeit Russland-Gutgläubigen die Augen nicht mehr verschließen können.
Katharina Bluhms Buch liefert erhellende und politisch hochwichtige Erklärungen, wie Russland in den vergangenen gut drei Jahrzehnten zu dem Staat werden konnte, der es heute ist. Dabei wird nicht zuletzt klar: Ebenso wie im Falle des Trumpismus in den Vereinigten Staaten sollten wir nicht davon ausgehen, dass der Putinismus in Russland mit seinem Namensgeber verschwinden wird; zu grundlegend sind die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die ihn tragen.
Florian Keisinger ist Historiker.
Nach 1991 war die Elite
ziemlich rasch enttäuscht
von Europa und den USA
Was wollen Wladimir Putin und Xi Jinping? Keiner von beiden gibt seine Pläne gern preis – schon gar nicht die beiden Pappfiguren, die 2023 in Moskau zu sehen waren.
Foto: Alexander Nemenov/AFP
Katharina Bluhm:
Russland und der Westen.
Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2023. 490 Seiten, 34 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Eine ausgezeichnete Analyse der jüngeren politischen Geschichte Russlands legt Katharina Blum hier vor, lobt Rezensent Florian Keisinger. Im derzeitigen Ukrainekrieg etwa geht es Russland keineswegs nur um die Wiederherstellung alter imperialer Größe, lernt Keisinger, sondern vielmehr um die Etablierung einer multipolaren Weltordnung, in der neben der USA und China eben auch Russland im Verbund mit dem globalen Süden entscheidend mitmischt. Gefährlich ist das unter anderem deshalb, erläutert Keisinger entlang der Lektüre, weil in diesem Szenario Europa gar nicht vorkommt. Das Buch zeichnet laut Kritiker die innerrussischen Auseinandersetzungen zwischen westlich orientierten russischen Reformern und ihren schließlich siegreichen Gegnern zusammen, die einen freiheitsfeindlichen Konservativismus als Staatsideologie installiert haben. Putin selbst tritt vor allem als Kulminationspunkt dieser Entwicklung in Erscheinung, sein individueller Beitrag dazu steht hingegen nicht im Zentrum der Analyse, erläutert Keisinger. Ein wichtiges Buch, so das Fazit, auch weil es klarmacht, dass der Putinismus nicht zwingend mit Putin sterben wird.

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