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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2016

Welcher Robinson darf's denn sein?
Johann Karl Wezel, dank Arno Schmidt nicht gänzlich vergessen, knöpfte sich Daniel Defoes Robinsonade vor und machte sie weniger langweilig

Natürlich hätte die Sache auch ganz anders enden können. Der junge Mann etwa, der sich zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ganz allein auf einer einsamen Insel durchschlagen musste, weil er wegen "Sodomie" von seinem Kapitän dort ausgesetzt worden war, der das Blut von Schildkröten und schließlich seinen eigenen Urin trank, starb schon nach wenigen Monaten, Ende 1725. Als englische Seefahrer im darauffolgenden Jahr die karge Atlantikinsel Ascension anliefen, fanden sie außer seiner Leiche auch ein Tagebuch vor, das jener Leendert Hasenbosch bis zu seinem Tod geführt hatte. Es erschien 1726 im Druck, offenbar stark bearbeitet, wie eine weitere, abweichende Veröffentlichung im Jahr 1728 nahelegt. Sicher werden wir es nie wissen, das Original ist verschollen. Was sich erhalten hat, ist ein Dokument der vollständigen Hoffnungslosigkeit eines Menschen, der aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurde und keine Möglichkeit fand, unter den Verhältnissen, die auf Ascension herrschten, das eigene Überleben zu sichern.

Hasenbosch ist so etwas wie der dunkle Zwilling des ungleich berühmteren schottischen Seefahrers Alexander Selkirk, der von 1704 bis 1709 ebenfalls allein, aber unter wesentlich glücklicheren Umständen auf einer Insel im Pazifik ausharrte. Selkirk, wie Hasenbosch gegen seinen Willen ausgesetzt, nutzte mitgeführte Werkzeuge und vor allem die natürlichen Lebensgrundlagen der Insel geschickt, um sich dort als Farmer und Viehzüchter eine Existenz aufzubauen. Der Bericht über sein Schicksal wurde später die Grundlage für Daniel Defoes Roman "Robinson Crusoe". Das Buch erschien 1719, und die sprudelnd reiche Tradition an Fortschreibungen, Übersetzungen und Bearbeitungen des Romans ist seither nicht abgerissen. Von ihm bezieht eine literarische Gattung ihren Namen: die Robinsonaden.

Einer ihrer wichtigsten Vertreter in Deutschland ist der Schriftsteller Johann Karl Wezel. Geboren 1747 in der thüringischen Stadt Sondershausen als Sohn eines Kochs, gefördert von den Dichtern Gellert und Wieland, schrieb Wezel zahlreiche Romane und Lustspiele und starb schließlich 1819 in seinem Geburtsort. Dass er in der deutschen Literaturgeschichte noch einigermaßen präsent ist, wird man auch Arno Schmidts Funk-Essay über Wezel zurechnen, der 1961 im Druck erschien, sich allerdings fast ausschließlich mit dem tief pessimistischen Roman "Belphegor" von 1776 beschäftigt.

Wezels "Robinson Krusoe" ist keine Übersetzung von Defoes Roman, sondern eine freie Bearbeitung, die sich vor allem im zweiten Teil weitgehend von der Vorlage löst. Sie erschien von 1779 an in einer Lesebuchreihe für junge Leser und konkurrierte so mit der zur selben Zeit publizierten Robinsonade des Autors und Pädagogen Joachim Heinrich Campe. Während dessen "Robinson der Jüngere" aber die eigentliche Handlungserzählung mit lehrreichen Dialogen umgibt, die Campe mit seinen Kindern führt und in denen er ihnen predigt, selbst beim Zuhören dieser Geschichte noch kleinere Hausarbeiten zu verrichten, vermittelt Wezel seine Weltsicht sehr viel subtiler. Über Defoes Roman schreibt erl mit einigem Recht, "dass das Buch durch gottesfürchtige gutgemeinte, aber unschickliche und nicht selten einfältige Betrachtungen oft Langeweile macht", und tatsächlich vermeidet Wezel dergleichen fast vollständig. Sein Robinson rettet sich als Schiffbrüchiger auf die Insel, holt sich vom Wrack, was er brauchen kann, baut sich ein Haus und ein Kanu, legt Felder und Tiergehege an, befreit einen gefangenen Farbigen, den er "Franz" nennt, und ehe man sich's versieht, sind 25 Jahre vergangen.

Die Vorgeschichte, in der Defoes Robinson erst als Sklave gefangen wird und später selbst Sklavenhändler wird, handelt Wezel ganz kurz ab, und die Zusammenhänge, die in der Vorlage zwischen Schuld und Schiffbruch hergestellt werden, interessieren Wezel so wenig wie überhaupt die Frage nach dem Inseldasein als Chance auf eine Läuterung. Ihm geht es zwar auch um die Entwicklung, die sein isolierter Held durchmacht, aber unter ganz anderen Vorzeichen: "Ein Mensch, der seine Erfindungskraft schon so vielfältig geübt hat, wie Robinson, thut endlich sehr schnelle Schritte: eine Erfindung bietet der anderen die Hand", heißt es nach einigen Jahren Plackerei des Gestrandeten. Der nämlich ist seines Glückes Schmied und gerade nicht ein Günstling der Vorsehung, er ist aller Transzendenz abhold, "als unterrichteter Europäer" ausdrücklich nicht abergläubisch, und wo Defoes Robinson durch eine jähe, aber lang andauernde Krankheit zur Religion findet, überlegt Wezels pragmatischer Held eher, wie er derlei künftig vermeidet.

Was ist das also für ein Protagonist? Wezel zielt, wenn er sein Schicksal beschreibt, auf nichts Geringeres als die Menschheitsgeschichte. Er beschreibt, wie Robinson einen Garten Eden vorfindet und diesen durch den Sündenfall des Tiermords zu einem profanen Ort macht. Er beschreibt und kommentiert den Aufstieg des Jägers und Sammlers, der schließlich Ackerbau und Viehzucht betreibt, und warum die Entwicklung nicht aufhört, als die unmittelbaren Bedürfnisse gedeckt sind: "Allein mit dem Gegenwärtigen sich zu begnügen ist nicht in der Natur des menschlichen Geistes; er will und muss schlechterdings weiter." Das aber geht nicht ohne Verluste und Irrwege ab, und so bleibt etwa das riesige Kanu, das er nicht ins Wasser bringt, als "Denkmal seiner Unbesonnenheit" liegen. Am Ende des ersten Teils ist für Kontinuität auf der Insel gesorgt, die neue Bewohner gefunden hat, während Robinson die Gelegenheit zur Rückkehr nach England ergreift.

Größere Überraschungen aber enthält das im Jahresabstand erschienene zweite Buch von Wezels "Robinson Krusoe", das sich weit von der Vorlage entfernt und auch von dem realistischen Anspruch des Romans. Hier ist es Wezel noch stärker um die Menschheitsgeschichte zu tun, aber nicht mehr um Kulturtechniken, sondern um das Zusammenleben. Die Bevölkerung der Insel wächst, die sozialen Unterschiede wachsen auch; wo Robinson für alle Arbeiten zuständig war, gibt es nun einzelne Berufsgruppen, es bilden sich Abhängigkeitsverhältnisse heraus und Herrschaftsformen. Am Ende steht ein Tyrann an der Spitze der Gemeinschaft, der mit seinem harten Regiment einen Aufstand provoziert. Das aber führt geradewegs in eine Anarchie mit allgemeiner Zerstörung und Leichenbergen, so umfassend, dass die Insel am Ende wieder so unbewohnt ist wie vor Robinsons Ankunft, und wenn man tatsächlich diesen zweiten Teil des Romans als Abbild von Wezels Auffassung über die Entwicklung der Menschheit ansehen mag, dann trägt sie rabenschwarze Züge. Zumal im allerletzten Abschnitt: Dort malt sich der Autor aus, wie Forscher auf die Insel kommen, die archäologischen Reste untersuchen und Abhandlungen darüber schreiben, die in der Rezeption immer krudere Züge tragen und schließlich in Vergessenheit geraten - es ist das Schicksal also, das er seinem eigenen Werk über Robinsons Insel schon bei dessen Erstpublikation prophezeit.

Fürs Erste allerdings ist dem Vergessen noch abgeholfen, denn "Robinson Krusoe" ist soeben in vorzüglicher Edtion neu erschienen, als mit bestem Papier, Schutzumschlag und zwei Lesebändchen äußerst angenehm gestaltetes Buch. Dem Text, der erfreulicherweise in seiner Orthographie belassen wurde, ist ein Anmerkungsteil und ein erhellendes Nachwort beigegeben. Am meisten aber gegen das Vergessenwerden mag dieses Buch schützen, dass dessen Szenario uns heute weit weniger fremd ist, als man sich das wünscht.

TILMAN SPRECKELSEN

Johann Karl Wezel:

"Robinson Krusoe".

Gesamtausgabe in acht

Bänden, Bd. 2.2. Hrsg. von Wolfgang Hörner und Jutta Heinz. Mattes Verlag, Heidelberg 2016. 332 S., geb., 59,- [Euro].

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