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-Renegat zu sein bedeutet, innere und äußere Auseinandersetzungen von immenser Tiefe und Schärfe durchgestanden und ausgehalten zu haben.- Dies ist es, wovon Kolbes Essays handeln: Es geht nicht um Abrechnung - es geht dem Autor vor allem um sich und seine Um- und Mitwelt. Es geht hier um die Entwicklung des Schriftstellers und Zeitgenossen Uwe Kolbe.

Produktbeschreibung
-Renegat zu sein bedeutet, innere und äußere Auseinandersetzungen von immenser Tiefe und Schärfe durchgestanden und ausgehalten zu haben.- Dies ist es, wovon Kolbes Essays handeln: Es geht nicht um Abrechnung - es geht dem Autor vor allem um sich und seine Um- und Mitwelt. Es geht hier um die Entwicklung des Schriftstellers und Zeitgenossen Uwe Kolbe.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.1998

Da war es dann total normal
Als Uwe Kolbe zum ersten Mal die Schönheit des Frühlings sah

Der Dichter Uwe Kolbe, geboren 1957 in Ost-Berlin, lebt und arbeitet heute in Tübingen. Wie es dazu kam, verrät dieses Buch. Es ist eine Sammlung von Aufsätzen, die zwischen 1985 und 1996 entstanden und an denen sich die innere Entwicklung ihres Verfassers ablesen läßt - eine exemplarische Entwicklung. Es findet sich da eine heute seltsam wirkende, aber 1989 noch übliche Verklärung des Prenzlauer Bergs ebenso wie ein harscher offener Brief an den gerade enttarnten Sascha Anderson von 1991 und eine zwischen Klage und gutmütiger Ironie schwankende Hymne an den Berliner Literaturbetrieb von 1996. Das alles steht da unbearbeitet und unverbunden nebeneinander und kann den Eindruck des Archivarischen nicht von sich weisen. Und doch ist es mehr.

Der Titel "Renegatentermine" bezeichnet die Etappen einer ideologischen Ernüchterung. "Der individuelle Abschied von der sozialistischen Utopie", wie ein Text von 1996 überschrieben ist, begann für den jungen Kolbe in den siebziger Jahren mit den Reclambändchen aus Leipzig, die, läßt man sich nur auf eine analoge Betrachtungsweise ein, höchst subversives Gedankengut transportierten. Herder und Fichte, die "ökonomisch-philosophischen Manuskripte" des jungen Marx, Brechts theoretische Schriften und vor allem: Victor Klemperers "L.T.I.", eine mit viel Lebenserfahrung unterfütterte Analyse des nationalsozialistischen Jargons. Dieses Buch, erinnert sich Kolbe, müsse zu Hunderttausenden Exemplaren in der DDR verbreitet gewesen sein. "Man verstand das Zentralorgan der Einheitspartei, Neues Deutschland, einfach besser, wenn man sich in der Alltagssprache des Dritten Reichs auskannte."

Sein aufrüttelndstes Leseerlebnis hatte der mittlerweile Soldat gewordene Kolbe jedoch mit den Notizen Lenins über Hegels "Wissenschaft der Logik", die er heimlich im Politunterricht verschlang. Dort fand er unter den Hegel-Zitaten den Satz: "Der Schein ist das Wesen, selbst in der Bestimmtheit des Seins . . ." und später: "Der Widerspruch wird für gewöhnlich fürs erste von den Dingen . . . entfernt; es wird behauptet, daß es nichts Widersprechendes gebe. Er wird fürs andere dagegen in die subjektive Reflexion geschoben, die . . . ihn erst setze." Damit wurde ihm zum ersten Mal eine Welt fraglich, die alle Irritationen als bloßen "Schein" abtat und dagegen ein "Wesen" setzte, etwa das der Richtlinien des VIII. Parteitags. In Wahrheit aber war der Schein vielleicht wirklicher als das Wesen, und die Widersprüche waren womöglich ernster zu nehmen als die alles überwölbenden Motive, die sie aufzulösen verhießen.

Kolbe begann, bald an der Hand des wie ein Vater verehrten Franz Fühmann, systematisch zu zweifeln. Der Band beginnt mit der Rede, die er 1984 an Fühmanns Grab hielt. Doch bei aller Kritik blieb der junge Mann zunächst an der Leine jenes Denkstrangs, den ja auch Fühmann zeitlebens nicht verlassen hatte: dem hartnäckigen Verfolgen eines Zieles am Horizont der Geschichte. Auch nach einem Besuch im Polen der Solidarnosc blieb das so.

Es änderte sich erst mit einer eintägigen Reise nach West-Berlin, fünf S-Bahn-Stationen weit. Hier wurde aus der bisherigen Skepsis ein Verrat. Kolbe beschreibt den Westen mit einem Leuchten, wie es West-Intellektuelle später im Osten überkam: die Schönheit des Frühlingstags, die sanierten Gründerzeitfassaden, die joviale Großschnäuzigkeit der Trinker auf der Parkbank. "Es war alles friedlich, hell, freundlich und blieb es, diesen einen Tag, diese zwölf Stunden lang. Es war, was ich nicht erwartet und offenbar in meinem Alltag nicht gekannt hatte. Es war total normal. Was soll ich daraus noch theoretisch ableiten?" Das war das Ende des Diskurses; Kolbe verabschiedete sich aus der Verantwortung des Schriftstellers "in den Kämpfen der Zeit". Seither ist "Renegat" für ihn ein Ehrentitel, und er sieht in dieser Tradtion eine Reihe von DDR-Autoren, für die die politische Ebene zur zweitrangigen wurde: Johannes Brobowski, Uwe Johnson, Erich Arendt, Peter Huchel.

Dem verehrten Fühmann dagegen wies Kolbe 1992 nach, daß dessen Texte als Leser immer den Partei-Zensor mitdachten und damit die antifaschistische Erziehung, der er sich verpflichtet fühlte: "Er will, und er will es immer wieder neu und vergeblich, daß der Zensor das Gedicht versteht." Kolbe dagegen will, daß der Leser aus dem Westen ihn versteht, für den ein liberales Bekenntnis mehr nicht weiter der Rede wert ist. MARK SIEMONS

Uwe Kolbe: "Renegatentermine". 30 Versuche, die eigene Erfahrung zu behaupten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 228 S., geb., 38,- DM.

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