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Ein überragender Komponist, vertraut mit allen Künsten, hat zu seinem 70. Geburtstag am 1. Juli 1996 sich selbst und seinem Publikum in der Welt dieses Buch zum Geschenk gemacht, eine große deutsche Autobiographie. Geboren in Gütersloh, Westfalen, entflieht Hans Werner Henze der Enge des Elternhauses und wendet sich der Musik zu. Verstört durch Faschismus, Gewalt und Krieg nimmt er ein Kompositionsstudium auf. Das Schöpferische setzt sich frei, Partitur reiht sich an Partitur. Henze unterwirft sich nicht dem Zwölftondogma, folgt seinem eigenem Schönheitsbegriff. Grenzgänger im Politischen wie…mehr

Produktbeschreibung
Ein überragender Komponist, vertraut mit allen Künsten, hat zu seinem 70. Geburtstag am 1. Juli 1996 sich selbst und seinem Publikum in der Welt dieses Buch zum Geschenk gemacht, eine große deutsche Autobiographie. Geboren in Gütersloh, Westfalen, entflieht Hans Werner Henze der Enge des Elternhauses und wendet sich der Musik zu. Verstört durch Faschismus, Gewalt und Krieg nimmt er ein Kompositionsstudium auf. Das Schöpferische setzt sich frei, Partitur reiht sich an Partitur. Henze unterwirft sich nicht dem Zwölftondogma, folgt seinem eigenem Schönheitsbegriff. Grenzgänger im Politischen wie im Erotischen, träumt er von einem humanen Sozialismus und sieht seine Utopie an der Wirklichkeit scheitern. Heimat findet er in Italien, dort die ergreifend geschilderte Gemeinschaft mit Ingeborg Bachmann.
Autorenporträt
Hans-von-Bülow-Medaille der Berliner Philharmoniker 1997 Praemium Imperiale Award 2000 Deutscher Tanzpreis 2001
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996

Wilder Wohlklang aus Westfalen
In schrägen Quinten: Hans Werner Henze erinnert sich / Von Ellen Kohlhaas

Ein egomanes Selbstbild oder die Kunst des Verdrängens können den Blick auf Fakten und Personen bis zur Rufschädigung verzerren. Musikalisch gesprochen, entstehen beim Zusammenprall von Ich und Welt böhmische Quinten, schräge Mehrklänge mit komplizierten Schwingungsverhältnissen. Hans Werner Henze hat seinen "Reiseliedern" solche Störelemente in den Weg gelegt - Momente von autobiographischer "Musica impura", die ihn seit 1972 im Anschluß an Pablo Neruda beschäftigt.

Wer Verborgenes ausgräbt, muß daneben Schutt ablagern. Henze ist ein Meister in diesem verdeckenden Aufdecken. Der überwältigende Abhub von Lebensmaterialien schützt vorm Offenlegen tieferer Bewußtseinsschichten. Wo Henze nichts vergraben kann, reagiert er mit dem ohnmächtigen Zorn des unverstandenen Opfers. Ein Musterbeispiel ist sein "Darmstadt"-Erlebnis, das er offenbar immer noch nicht verarbeitet hat. Die serielle Orthodoxie der Darmstädter Ferienkurse in den fünfziger Jahren sieht er als eine Form von Gleichschaltung und Normierung an. Er wähnt gar eine Verschwörung zwischen der damaligen Avantgarde und den politisch nicht unbefleckten Restauratoren Deutschlands in Adenauers Nachkriegsära: ein Grund für Henzes Flucht nach Italien vor 43 Jahren. In dieser getrübten Sicht auf vermeintliche Kunstdiktate ist er kaum weniger unerbittlich als die angeblichen Zuchtmeister. Heinrich Strobel, die Vaterfigur der Donaueschinger Musiktage, beschimpfte er als "neudeutschen Diktator"; von Liugi Nono, dem einstigen Freund "Gigi", wendet er sich ab.

Das unbeherrschte Kind Hans Werner hatte der Vater beschwichtigt, indem er es unter einer Decke begrub. Dieses Ruhigstellen wird zum Lebensmuster. Wenn Henze seinem "Gefühl der Enttäuschung darüber, daß sich einer nicht genug Mühe gibt . . . mit mir und mit meiner Sache", nicht wortlaut Luft verschaffen kann, dann zieht er die Sache oder Person "rasch aus dem Verkehr", versteckt sie "unter einer schwarzen Decke". Wohl prominentestes Beispiel für dieses Verdecken als Selbstschutz ist Henzes aufsehenerregende Auseinandersetzung mit Helmut Lachenmann über die Verwertbarkeit herkömmlichen musikalischen Materials. Sie kommt in Henzes Buch ebenso wenig vor wie die Namen bedeutender Komponisten und Zeitgenossen wie Jahn Cage, Morton Feldmann, György Ligeti, Witold Lutoslawski, Jannis Xenakis.

Erwähnenswert dagegen findet er Menschen, die ihm "Einverständnis und Solidarität" entgegenbringen: René Leibowitz, Karl Amadeus Hartmann, William Walton, seinen Nachbarn auf Ischia, obwohl Henze dessen ästhetische Überzeugungen nicht teilt. Diese Porträts geraten ebenso lebendig und warmherzig wie das der Mutter, von deren Nähe über den Tod hinaus er sich freilich wortspielerisch distanziert: Frau Mutter, die Grete. Ungebrochen innig gedenkt er hingegen Ingeborg Bachmanns, der fast gleichaltrigen großen Zwillingsschwester im Geist. Ihre Rätselgestalt macht ihn zum Dichter im Nachvollzug ihrer "elfenhaften Erscheinung, wie von der Nachtigall geboren". Sie wird ihm zur gleichwertigen Muse in sechs gemeinsamen Werken, zur partnerschaftlichen Entdeckerin von Künsten und Philosophie. Gemeinsam erkunden und erleben sie Italien und die Politik.

Im zwiespältigen politischen Einsatz stößt Henze sich vom Vater ab, einem als kleinbürgerlich-engstirnig geschilderten westfälischen Grundschullehrer, der vom passionierten Sozialdemokraten zum ebenso leidenschaftlichen Nationalsozialisten konvertiert. Bei ihm lernt Henze das Verschweigen kennen, aber auch den Unterdrückungsmechanismus eines Gewaltregimes. Knapp der väterlich verordneten Kasernierung in einer Nazi-Musikschule entronnen, lernt Henze beim Militärdienst antimilitärische Gesinnungsfreunde kennen. Unabhängigkeit heißt fortan sein Credo, Freiheit von jedweder Unterdrückung, von Gruppenzwängen und Parteizugehörigkeiten - ausgenommen zur Kommunistischen Partei Italiens.

Aus dem Abstand schildert Henze seinen politischen Werdegang mit dem Furor des frischen Nacherlebens einstiger Überzeugungen, an denen er trotz aller Desillusionierung festhält. Der naive Idealismus indessen, mit dem er für die außerparlamentarische Opposition der studentischen "Achtundsechziger" und für Fidel Castros sozialistische "Revolution" auf Kuba kämpfte, ist der Ernüchterung in der Erkenntnis der Unvereinbarkeit von Theorie und Realität gewichen. In einem Interview zu seinem siebzigsten Geburtstag gesteht er sich sogar den Verdacht ein, "daß die Musik womöglich doch nichts bewirken kann im realen Leben der Menschen, daß sie zu moralischen Verbesserungen nichts Wirkungsvolles beitragen kann" ("Neue Zeitschrift für Musik", 4/1996). Hinter diesem Bekenntnis steckt Henzes musikalische Sendung: Mit seinem Komponieren, das er für "sein Bestes" hält, wollte er sich zur Veränderung bestehender Verhältnisse kulturpolitisch nützlich machen - deshalb die Mitarbeit des eigentlich elitären Komponisten in Kollektivkompositionen, deshalb der Einsatz für kulturelle Basisarbeit in Montepulciano, Mürzzuschlag, Deutschlandsberg, Alsfeld.

Zwangsläufig verstrickte Henze sich dabei in Widersprüche. Den Vorwurf, als Antibürger nichts als bürgerliche Musik zu schreiben, kontert er gern mit dem Hinweis, alle westliche Kunstmusik sei bürgerlich. Sein klassisches Schönheitsstreben, dem er für immer nach Italien nachreiste, wurde von seinen Kritikern gegen die Idee einer vulgärmusikalischen Tonsprache ausgespielt, die Henze schon in den fünfziger Jahren als Kommunikationsmittel für die "Masse" zu entwickeln begann. Schönheit gilt ihm nach wie vor als Gegenentwurf zu einer barbarischen Welt, wie es in den fünfziger Jahren ihm Alternative zur strukturell ausgerichteten Avantgarde war. Im "vollen, wilden Wohlklang", der nicht etablierbar ist, sondern "robust, freigebig" erscheint, sieht er "das wirklich Neue" (1955), die Wahrheit in der Vollkommenheit.

Wie verträgt sich das italienische Luxusdasein in musikfürstlicher Hofhaltung mit dem Einsatz für die Armen? Wohlstand als Kompensation der kärglichen Jugend, als wenigstens materielles Bollwerk wider die ungesicherte innere Existenz? Nicht ganz grundlos, wenn auch übertrieben im Affekt der Darstellung, fühlt Henze sich zeitlebens mißverstanden, ausgeliefert, bedroht - mit dem Höhepunkt des Eklats um die polizeilich verhinderte Hamburger Uraufführung vom "Floß der Medusa" (Herbst 1968), worauf er von den bundesdeutschen Veranstaltern und Medien bis weit in die siebziger Jahre hinein boykottiert wurde.

Doch Henze, der sich das Leben zwanghaft schwerer macht, als es ist, kokettiert mit dem Ruf des außenseiterischen Salonkommunisten: Er errichtet ihn wie ein Mauerwerk um sich herum. Gleichzeitig leidet er unter der teilweise selbstverschuldeten Isolation, wirft sich geradezu manisch ins Reisen, in Kontakte mit aller Welt. Ausgleich für die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Sohn? Jedenfalls entschädigt ihn die multifunktionale Glanzlaufbahn als Komponist, Dirigent, Regisseur und eloquenter Schriftsteller in eigener Sache für frühe Entbehrungen. Er reist, komponiert und kommuniziert aber auch aus dem verzweifelten Bedürfnis heraus, "anzukommen". Die Kehrseite des betriebsamen Bemühens: Einsamkeit, Depression, Zusammenbrüche und mit zunehmenden Alter immer mehr Todeserfahrung. Das qualvolle Hinsterben des Freundes Michael Vyner erlebt Henze aus nächster Nähe. Das bedeutende "Requiem" ist sein Nachruf auf den englischen Weggefährten.

Erlittene Ambivalenzen und Grenzerfahrungen gehen in Henzes Musik ein. Auch sie ist widersprüchlich - der beabsichtigten Verständlichkeit, sogar für den ungeübten Hörer, widerspricht die komplexe Verschränkung von Ebenen, Künsten, Techniken, Materialien. In seinem Buch gibt Henze über seine ästhetischen Positionen wie die Hintergründe der Werkentstehnung Aufschluß, wie er es schon länger in Aufsätzen oder Arbeitstagebüchern - etwa über die Oper "Die Englische Katze" von 1978 bis 1982 oder das "Requiem" (1990 bis 1992) - gewohnt war. Wenn er sich Zeit zum Reflektieren nimmt, ist er ein brillanter Denker, der seine Analyse einschließlich formaler und klanglicher Erwägungen treffsicher versprachlicht. Außerhalb der Musikdeutung, etwa bei Naturschilderungen, gelingen ihm sogar unverbrauchte poetische Bilder.

Doch mit zunehmender Seitenzahl werden die Reisebilder immer skizzenhafter, atemloser, schrumpfen zum bürokratischen Daten-Diarium. Begegnungen, Ereignisse, Reisen, Kontroversen, Krisen werden abgehakt in einem Vollständigkeitszwang, der oft auch seine Musik, schaffensmanisch hervorgeschleudert, überquellen läßt.

In seinem sinfonischen Schaffen ist die magische Neunzahl erreicht. Anna Seghers' "Das siebte Kreuz" ist die Vorlage. Ob ihn dies verstört, verschweigt er, selbstgewiß an sich selbst zweifelnd, in seinem Rechenschaftsbericht, der - so einseitig auch immer - mindestens fünfzig Jahre Musikgeschichte voller Abgrenzungen und divergierender Einflüsse abdeckt. Dies vor allem macht den Rang von Henzes "psychopolyphoner" Selbst- und Weltbeschau aus. Spannend sind die "autobiographischen Mitteilungen" allemal - nicht zuletzt in ihrer musikalischen Erzählweise aus verschiedenen verschränkten Sprachklängen, Dichtegraden, Linien, Konsonanzen und Dissonanzen, Tempi und Spannungsverhältnissen. Ohnehin sind für Henze, die "ostwestfälische Herbstzeitlose", Sprachklang und Klangsprache zwei Seiten einer Medaille.

Hans Werner Henze: "Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen".S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 627 S., geb., 68,- DM.

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"'Reiselieder' sind diese 'autobiographischen Mitteilungen' allemal, denn Henze ist viel unterwegs, in allen Erdteilen, oft in Sachen seiner Musik, immer wieder aber auch als Tourist." (Frankfurter Rundschau)