Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 6,80 €
  • Gebundenes Buch

In seinen autobiographischen Aufzeichnungen gibt Gerhard Kaiser ein Gegenbild zum herrschenden Klischee, seine Generation habe sich mit geschlossenen Augen für Restauration und Wirtschaftswunder einspannen lassen und erst die studentische Kulturrevolution von 1968 habe der inneren Demokratisierung den Weg geebnet. Roter Faden der Darstellung ist das Ineinander von Lebenspraxis, politischer Orientierung und wissenschaftlicher Reflexion. Schlaglichter fallen auf die Situation der DDR um 1950, insbesondere auf das Brecht-Theater, auf die Schule der Interpretation in Westdeutschland sowie auf die…mehr

Produktbeschreibung
In seinen autobiographischen Aufzeichnungen gibt Gerhard Kaiser ein Gegenbild zum herrschenden Klischee, seine Generation habe sich mit geschlossenen Augen für Restauration und Wirtschaftswunder einspannen lassen und erst die studentische Kulturrevolution von 1968 habe der inneren Demokratisierung den Weg geebnet. Roter Faden der Darstellung ist das Ineinander von Lebenspraxis, politischer Orientierung und wissenschaftlicher Reflexion. Schlaglichter fallen auf die Situation der DDR um 1950, insbesondere auf das Brecht-Theater, auf die Schule der Interpretation in Westdeutschland sowie auf die Kritische Theorie und die Psychoanalyse in ihrer Bedeutung für die Studentenrevolte. Gerhard Kaiser argumentiert leidenschaftlich und provokativ.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Vollkommen verwürzt
Als Lukács in Ostberlin Lokalverbot erhielt, verlor Gerhard Kaiser den Appetit auf Marxismus / Von Erhard Eppler

Dies ist eine reichlich subjektive Besprechung. Nicht sosehr, weil ich genauso alt bin wie der Autor, nämlich dreiundsiebzig. Auch nicht, weil wir, beide Flakhelfer, am Ende des Krieges Ähnliches erlebt haben, ich beim Heer, Kaiser wegen einer Krankheit beim Volkssturm. Nein, dieses Buch hat mich angerührt, weil mich, je länger ich las, das Gefühl beschlich: So hätte es dir auch ergehen können, hättest du nicht zu Beginn der fünfziger Jahre den Einstieg in eine Universitätslaufbahn verworfen, weil der Sog der Politik stärker war. Ich kann nicht kritisieren, sondern nur mitfühlen, wenn Kaiser über das Kriegsende schreibt: "Kaum einen gab es, der nicht mit Jammer und Schauder den Untergang Deutschlands erlebt hätte, selbst wenn er froh war, Terror und Verbrechen entronnen zu sein." Oder: "Daß nach relativ kurzer Zeit die Schulen und die Universitäten wieder ihre Arbeit aufnahmen, erschien uns wie ein Wunder und verdichtete sich zu einer Glückserfahrung." So war es.

Wer als alter Mann über sein Leben berichten will, muß auswählen, unendlich vieles weglassen. Das gilt sogar dann, wenn jemand, wie Kaiser, gar keine Autobiographie schreiben, sondern nur berichten will über die "Epochen" seiner "Wissenschaftsgeschichte" als Germanist. Daher erfährt der Leser schon in der Einführung, daß Kaiser sich beschränken will "auf die zwei entscheidenden Krisen", die - und das sagt schon manches aus über die Person Kaiser - auch Lebenskrisen waren. Die erste war Ende 1950 die Ablösung vom DDR-Marxismus, verbunden mit der Übersiedlung in den Westen, die zweite war die Studentenrevolte. Beides hat nicht nur den Literaturwissenschaftler, sondern auch den Menschen Gerhard Kaiser aufgewühlt, angefochten, verletzt - und reifer gemacht.

Es versteht sich allenfalls aus dem Schock um 1945, daß der Sproß eines konservativ-deutschnationalen Bürgerhauses sich dem Marxismus-Leninismus zuwandte. Es war Georg Lukács, der ihm den Weg dorthin ebnete. Dessen Schriften kursierten nicht nur an der Humboldt-Universität, sie waren auch Mode im braven Tübingen, sogar in dem inzwischen berühmten Beißner-Seminar. Lukács, das war Marxismus für Anspruchsvolle, für Feinschmecker. Kein Wunder, daß die langsame Demontage des brillanten Ungarn durch die Stalinisten einer der Gründe war, die zu Kaisers Trennung von der DDR und ihrer Ideologie führten. Ein anderer: Der argwöhnisch beobachtete Neumarxist aus bürgerlichem Hause, der inzwischen die Privilegien des wissenschaftlichen Nachwuchses genoß und mit zweiundzwanzig Jahren zum Theaterkritiker der "Berliner Zeitung" avanciert war, mußte die Lobeshymnen auf den genialen Sprachwissenschaftler Josef W. Stalin abstoßend peinlich finden.

Daß sich der Dreiundzwanzigjährige mit seiner Frau an Weihnachten 1950 nach Westberlin absetzte, verbindet ihn mit Millionen anderer Deutscher. Ihm eigen waren Gewissensskrupel, die weniger dem System und der Ideologie als einigen Menschen galten: "Viele Jahre noch habe ich fast jede Nacht im Traum gefangen vor einem Tribunal aus Lehrern und Studiengefährten von drüben gestanden und mich als Verräter anprangern lassen müssen."

Diese "Verräterträume", berichtet Kaiser, lebten wieder auf, als die revoltierenden Studenten Freiburgs sich des inzwischen wohletablierten Ordinarius für Neugermanistik annahmen. Sie müssen dies besonders bösartig und erbarmungslos getan haben, und dafür gab es Gründe. Der wichtigste war, daß dieser reaktionäre Ästhet, der seinen Respekt vor und seine Liebe zu den großen Texten nicht verbarg, etwas von dem Marxismus verstand, von dem sie schwafelten. Kaiser hatte sich zwar in zwei Jahrzehnten seine eigene literaturwissenschaftliche Methode erarbeitet, eine Mischung aus einfühlender Interpretation und geistesgeschichtlicher Deutung, aber er hatte in der DDR bis zum Überdruß die Literatur als Zeichen und Mittel des Klassenkampfes vorgeführt bekommen. Daher wagte es dieser arrogante Kerl auch noch, mit Marx-Zitaten den Fanatikern entgegenzutreten, die ihre angelesene Mischung aus Marx, Marcuse, Adorno und Reich vor staunenden Kollegen ausbreiteten.

Wieder muß ich sagen: Ich kann mitfühlen. Als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit war ich, gerade weil ich als links galt, ein besonders infamer Kapitalistenknecht, der die Ausbeutung der Dritten Welt mit humanitären Phrasen verschleierte. Ich war, wie Kaiser, einer, den man entlarven mußte. Bei manchen Konservativen war dies nicht nötig. Noch zu Beginn der achtziger Jahre habe ich an der Freien Universität in Berlin erfahren, zu welch widerlichen, im Grunde faschistischen Methoden die letzten, nur noch vom Haß getriebenen Ausläufer der Studentenbewegung fähig waren.

Ich kann auch mitfühlen, wenn Kaiser mit einer beträchtlichen Dosis selbstkritischer Ehrlichkeit berichtet, wie schwer es ihm fiel, mit dem Zerrbild seiner selbst fertig zu werden, das ihm da entgegentrat: "Ich habe am allermeisten daran gelitten, daß propagandistisch aus mir ein Mann hergestellt wurde, den ich selbst verabscheut hätte, wäre ich ihm begegnet." Das kann einem nicht nur an der Universität passieren. Vielleicht waren unsere Professoren vor 1968 etwas verwöhnt. Ich weiß nicht, ob Kaiser bei alledem gelernt hat, was ich lernen mußte. Es ist nicht nur sinnlos, es kann tödlich werden, sich gegen solche Zerr- und Feindbilder zu wehren: "Seht, ich bin ja gar nicht so, ich bin doch ganz anders!" Das feuert die Meute nur an. Überleben, zumindest in der Politik, kann da nur, wer die Kraft findet, so zu tun, als ginge ihn dies alles gar nichts an, seine Arbeit tut, als gäbe es die Zerrbilder gar nicht. Dann erledigen sie sich mit der Zeit. Wer sie zurechtrücken will, ist verloren. Mag sein, daß Kaiser dies zu spät bemerkt hat. Sonst hätte er den Beleidigungsprozeß nicht geführt, den er heute bedauert. Und sonst würden seine bedrückenden Schilderungen nicht verraten, wie wenig seine Wunden vernarbt sind. Professoren sind eben auch Menschen. Aber vielleicht ist dieses Buch gerade deshalb ein Dokument für das, was die Studentenrebellion auch aus sensiblen, klugen, gesprächsfähigen Professoren machen konnte.

Man mag Kaisers gescheite Auseinandersetzung mit Marcuse, Freud, Adorno, Benjamin in einer wissenschaftlichen Biographie für zu breit halten. Für Kaiser waren und sind diese keine Gedankenspiele, da ging und geht es um die geistige Selbstbehauptung, aber auch darum, wie begabte junge Leute sich in Ideologien verrennen konnten, die alle demokratischen Anstandsregeln obsolet erscheinen ließen.

Zum Schluß fragt sich Kaiser, was denn aus dieser seltsamen Revolution geworden ist, die ja - marxistisch gesprochen - jenseits des ökonomischen Unterbaus stattfand. Er weist auf einen Zusammenhang hin, dem ich nicht widersprechen kann: "Die revolutionäre Unbedingtheit ist umgeschlagen in die radikale Unverbindlichkeit. Das finster entschlossene ,Es muß anders werden' heißt nun, in eine andere Tonart übertragen, ,Anything goes'." Sollte es wirklich so sein, daß, als die Träume Träume blieben, nichts oder nur Zynismus übrigblieb?

Kaiser ist vom Marxisten zum Christen geworden. Ich verstehe gut, daß er keine sentimentale Bekehrungsgeschichte erzählen will, auch, daß er sein Christentum nicht aufdringlich zur Schau stellt. Aber wer so wie Kaiser glaubhaft machen kann, daß die Beschäftigung mit Literatur für ihn immer auch die Person trifft und verwandelt, müßte wohl auch erklären, wie sein Glaube sich ausgewirkt hat auf sein Geschichtsverständnis, auf seine Fragen an die Literatur. An dieser Stelle hat er nicht ganz so geredet, daß ich ihn sehe.

Gerhard Kaiser hat ein Leben lang für Germanisten geschrieben. An wen wendet sich dieses Buch? An die Germanisten und die Gebildeten unter ihren Verächtern? Die müssen schon ziemlich gebildet sein, wenn sie nicht manchen Satz zweimal lesen wollen. Wahrscheinlich schreibt Kaiser besseres Deutsch als manche seiner Kollegen. Aber aus der Haut des Professors kann er nicht fahren. Das ändert nichts daran: Hier liegt ein Dokument vor allem über die Studentenrevolte vor, niedergeschrieben mit Herzblut von einem Intellektuellen, der Nazismus und Kommunismus am eigenen Leib erfahren hatte und nun hilflos vor einer Bewegung stand, deren unbestreitbar totalitäre Züge ihm manchmal den Blick verstellen für das, was viele der Jungen antrieb, abseits aller pseudomarxistischen Sektierereien. Daher empfehle ich die Lektüre nicht nur Leuten, denen es ähnlich hätte ergehen können, sondern vor allem denen, die damals von der anderen Seite der Barrikade ihre faulen Tomaten warfen.

Gerhard Kaiser: "Rede, daß ich dich sehe". Ein Germanist als Zeitzeuge. Deutsche Verlagsanstalt, München 2000. 228 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Seltsam: Ein Rezensent zeiht sich selbst der Subjektivität. Rezensent Erhard Eppler jedenfalls sollte ganz entspannt mitfühlen, "so war es" sagen und des Autors Sicht der Dinge gut und richtig finden dürfen. Dergleichen passiert schließlich. Einzig der Schluss wirkt etwas irritierend, ernüchternd sozusagen: "An wen wendet sich dieses Buch?" fragt Eppler da und sorgt sich allen Ernstes, dass jemand an Kaisers hohem Stil Anstoß nehmen könnte. Das sticht ins Auge, wirklich.

© Perlentaucher Medien GmbH"