Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 18,00 €
  • Gebundenes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Hatje Cantz Verlag
  • Seitenzahl: 158
  • Deutsch, Englisch
  • Abmessung: 306mm x 246mm x 24mm
  • Gewicht: 1322g
  • ISBN-13: 9783775709309
  • ISBN-10: 3775709304
  • Artikelnr.: 24798429
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2000

Die Bewohner der Nahkampfzone
Wo man den Ernstfall und den Einsatz übt · Von Stewart O'Nan

"Red Land - Blue Land" erinnert ein wenig an die Romane und Erzählungen von J. G. Ballard - an seine sorgfältig kultivierte Liebe zur Ödnis, an sein Faible für Bereiche, die von der menschlichen Intelligenz erschaffen worden sind, sich dem menschlichen Leben gegenüber aber abweisend verhalten - Orte, wo die Doppelillusion des technischen Fortschritts und der liberalen Gefühlsseligkeit zusammenbricht, wo die Menschheit ihrer Einbildungen entkleidet ist und sich nur noch von Ruinen und animalischer Wildheit umgeben sieht. Der Leser, der Claudio Hills Fotos von simulierten Schlachtfeldern zum ersten Mal sieht, hält über den leeren Beschusszonen und den künstlichen, von Puppen bevölkerten Dörfern inne und denkt: Wie unheimlich. Wie seltsam. Wer ist auf diese bizarre Idee gekommen?

Ursprünglich war es das preußische Kriegsministerium, folgt man Rolf Schönlaus einleitendem Essay "Vom Niemandsland zum Sperrgebiet", der die Entwicklung der sandigen Senne-Landschaft von dünn besiedeltem Bauernland zu abgeriegeltem Truppenübungsgelände nachzeichnet. Das Ministerium begann Ende des neunzehnten Jahrhunderts das Land um das Örtchen Haustenbecker herum aufzukaufen. Im Ersten Weltkrieg diente ein Teil des Territoriums als Kriegsgefangenenlager, später auch als Ferienlager für Jugendliche. Ende der dreißiger Jahre wurde der Tiger-Panzer an der Senne getestet, und als die Engländer das Areal nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen, benutzten sie die Anlagen ebenfalls und inszenierten Militärübungen des Kalten Krieges im so genannten Russischen Dorf (wo es natürlich keine realen Russen gab - aber im nahe gelegenen Stalag 326 waren fünfundsechzigtausend gestorben, die in einem Massengrab endeten).

Seit dem Ende des Kalten Krieges haben Truppen, die zum Einsatz nach dem Kosovo, nach Kuweit und Nordirland flogen, zuerst hier trainiert und die flache Heide mit ihren gepanzerten Fahrzeugen erobert, um dann vorsichtig durch die unwirklichen Straßen von "Tin City" und durch die Nahkampfzone ("Close Quarters Battle Range") vorzurücken - um von Haus zu Haus ein Dorf zu säubern und dabei bemüht zu bleiben (wie Polizeirekruten während der Ausbildung), nicht jene plötzlich hochschnellenden Zielscheiben und steif gekleideten Puppen abzuschießen, die Zivilisten darstellen sollen.

Hils trennt seinen Fotoessay "Red Land - Blue Land" in drei Teile, wobei die Trennung der Topographie entspricht; er beginnt - wie eine Invasionsarmee - weit draußen in der Landschaft. Wie bei jedem einstigen Schlachtfeld herrscht über allem der große Gegensatz zwischen der fortdauernden Stille der Natur und der Zerstörungskraft des Menschen. Der Sand ist von Panzerketten zerwühlt; ein Betonbunker liegt aufgesprengt da und zeigt seine rostigen Metallstreben. Doch ist alles ruhig. Die Sonne scheint, das Gras steht hoch, Blumen blühen üppig einen Stacheldrahtzaun entlang. Kämpfer sind nirgendwo zu sehen, als sei der Krieg schon fünfzig Jahre vorbei.

Der Abschnitt über das Dorf bringt den Krieg näher. Tin City existiert ausschließlich zu dem Zweck, erobert zu werden. Während die Fassaden der Hohlblockgebäude für jede europäische Stadt stehen könnten, verweist jene Konfiguration, die Hils hier dokumentiert, ausdrücklich auf Nordirland: Wir sehen eine O'Connell Street, Murphys Autowerkstatt, eine Frittenbude und IRA-Graffiti an den Wänden; es gibt sogar eine zugemauerte Sackgasse wie in Belfast. Ein schwarzer Wachtturm erhebt sich über die Mitte des Dorfes, innen sammelt eine Monitorenwand die Videobilder der verstreuten Kameras, an welchen man den Vormarsch der Soldaten ablesen könnte. In einer Telefonzelle führt eine Puppe ein Gespräch. Die Kamerabilder sind menschenleer, sie warten wie leere Seiten, leere Bühnen.

Endlich zeigt Hils uns die Bewohner der Nahkampfzone - in einem Abschnitt, der den ironischen Titel "People" trägt. Diese "Leute" sind Puppen, mit Perücken und Kleidern in den überholten Moden der siebziger und achtziger Jahre - sie stehen und sitzen in Haltungen herum, die das normale Leben ihrer Umgebung simulieren sollen. Wie alle Zivilisten, die den Soldaten nur im Wege sind, sind sie im tiefsten Sinne des Wortes "Passanten" - ihr Auftauchen ist beiläufig, kontingent. Mit leeren Gesichtern warten sie in ihren Wohnungen und in der Kneipe und an der Pommes-frites-Theke, der Invasionstruppe auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. In mehreren Fällen hat es Übergriffe auf die Frauen gegeben.

Die Wirkung der Fotoessays ist beunruhigend, aber es ist dies eine Beunruhigung, die dem Leser nicht unvertraut sein wird. Die Kettenspuren von Pattons Panzerdivision zieren immer noch die Wüste von Arizona, und weite Teile des amerikanischen Westens dienen immer noch als Testzonen für Sprengkörper und als Friedhöfe der Flugzeuge, die im Kalten Krieg ihre Einsätze geflogen haben. Die Details der von Hils festgehaltenen Nahkampftopographie in der Close Quarters Battle Range sind achtlos und grobschlächtig, vergleicht man sie mit den liebevoll eingerichteten Häusern (in denen das Essen auf dem gedeckten Tisch stand) der frühen Atombombenversuche in Nevada (liebevoll zitiert in Brad Pitts und Juliette Lewis' schlechtem Road Movie "Kalifornia").

Von den fünfziger Jahren bis heute haben Autoren und Regisseure von Science-Fiction wie Rod Serling und George A. Romero leergefegte postapokalyptische Welten vorgeführt, Simulationen des Lebens, an denen sich nicht nur Soldaten und Raumschiffkapitäne zu bewähren hatten, sondern normale Zivilisten. Hils' Perspektive ist insofern nicht neu oder einzigartig - er ergreift nur die Möglichkeit, einen Traum oder Albtraum zu dokumentieren, den viele teilen. Seltsam, wie vertraut das alles ist.

Ästhetisch gesehen begegnen wir hier einem hohe Grad von Nostalgie - die wartenden Puppen haben etwas rührend Altmodisches, und obwohl wir wissen, dass diese Art Krieg keineswegs vergangen ist, sondern allzu real, besteht die Gefahr, dass wir ironisch reagieren, mit einem Achselzucken: Wie eigenartig, wie reizvoll. Ein einziger direkter Blick in Straßenhöhe auf Sarajevo oder Grosny genügte, uns von dieser Reaktion zu kurieren und zu unterstreichen, wie absurd so eine säuberlich kontrollierte Übungssituation ist, wie unvorbereitet die Soldaten immer noch sein werden, die aufbrechen in das Chaos des Krieges.

Aber vielleicht ist das die Pointe dieser Bilder. Hier beginnt der Krieg: an einem Ort, wo gewissermaßen Offiziere und Soldaten sich an die unmöglichen Dinge gewöhnen, die sie anderen werden antun müssen (gewissenhaft sind sie, denn sie versuchen immerhin, die Zivilisten nicht zu töten - obwohl das natürlich vorkommen kann). Selbst wenn es eine Pantomime ist, eine Geisterbahn, nur ein Spiel, so lernen hier doch Männer die Kontrollmechanismen, die notwendig sind, um Krieg zu führen. Ist die Ausbildung unzureichend, dann nicht deshalb, weil die Soldaten ihre Übungen nicht ernst genommen haben, sondern wegen der Natur des Krieges. Das macht Hils' Bilder in "Red Land - Blue Land" vielleicht so beunruhigend: die Andeutung, dass unter unseren Zivilisationsritualen nicht nur die Möglichkeit des Entsetzlichen lauert, sondern seine Unvermeidlichkeit, und dass wir uns darauf seit Jahren vorbereitet haben.

Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka.

Claudio Hils: "Red Land - Blue Land". Texte von Anna M. Eifert-Körnig und Rolf Schönlau. Deutsch-Englisch. Verlag Hatje/Cantz, Ostfildern-Ruit 2000. 160 S., 71 Abb., geb., 78,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Fotograf Claudio Hils stand vor der Schwierigkeit zu einem alten Thema etwas Neues beizutragen: Kriegsschauplätze fotografisch festzuhalten. Nach Rezensent Andreas Langen ist es ihm gelungen. Mit dokumentarischer Nüchternheit und dramaturgischer Perfektion setze Hils das Truppenübungsgelände im ostwestfälischen Sperrgebiet Sennelager ins Bild. Langen erzählt, wie Hils jahrelang mit versteckter Leidenschaft unter dem Vorwand biologischen Interesses immer wieder das Gebiet durchstreifte, in dem seit 1892 Soldaten verschiedenster Nationen und Mächte den "Ernstfall" proben. Schließlich erreichte Hils sein Ziel: Das Herz der Anlage, genannt Tin City, eine für den Straßenkampf simulierte Stadt aus Kulissen. Langen lobt Hils für seine scharfe Beobachtungsgabe und die "perfekte Komposition" seines Bildessays.

© Perlentaucher Medien GmbH