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Daß Alexander Puschkin der größte russische Dichter aller Zeiten war, ist bekannt. Aber wer war Puschkin wirklich? Was macht seine Bedeutung aus, und was hat ihm selbst etwas bedeutet? Andrej Bitow, der sich in seinen Romanen und in Essays wie nur wenige andere russische Schriftsteller dem Phänomen Puschkin angenähert hat, findet ganz eigene Zugänge: Als dem abergläubischen Dichter bei der illegalen Rückkehr aus der Verbannung nach St. Petersburg ein Hase über den Weg läuft (in Rußland ein Vorbote kommenden Unheils wie hierzulande eine schwarze Katze), entschließt er sich zur Umkehr - die ihm…mehr

Produktbeschreibung
Daß Alexander Puschkin der größte russische Dichter aller Zeiten war, ist bekannt. Aber wer war Puschkin wirklich? Was macht seine Bedeutung aus, und was hat ihm selbst etwas bedeutet? Andrej Bitow, der sich in seinen Romanen und in Essays wie nur wenige andere russische Schriftsteller dem Phänomen Puschkin angenähert hat, findet ganz eigene Zugänge: Als dem abergläubischen Dichter bei der illegalen Rückkehr aus der Verbannung nach St. Petersburg ein Hase über den Weg läuft (in Rußland ein Vorbote kommenden Unheils wie hierzulande eine schwarze Katze), entschließt er sich zur Umkehr - die ihm das Leben rettet, denn in St. Petersburg fand nur wenig später der Dekabristenaufstand statt, nach dessen Niederschlagung zahlreiche Freunde Puschkins hingerichtet oder nach Sibirien deportiert wurden. Diese durch das Auftauchen des Hasen bewirkte Umkehr des Dichters wurde für ihn in doppelter Hinsicht bedeutungsvoll: Kurz danach, noch im Dezember 1825, schrieb Puschkin eine an Shakespeare orientierte Parodie, "Graf Nulin", sowie die durch die Lektüre von Goethe angeregte "Szene aus dem Faust", mit denen er sich endgültig von seinen romantischen Vorbildern löste und sich in die Weltliteratur einschrieb.
Autorenporträt
Bitow wurde 1937 in Leningrad geboren, veröffentlichte seit 1959 Erzählungen, Essays, Romane sowie Reiseberichte. 1990 erhielt er den russischen Puschkin-Preis. Mit dem Roman Das Puschkinhaus ist Bitow 1978 (dt. 1983) weltweit bekannt geworden. In deutscher Sprache erschienen darüber hinaus Das Licht der Toten (1990), Mensch in Landschaft (1994), Puschkins Hase (1999) und Armenische Lektionen (2002). Bitow starb am 3. Dezember 2018 in Moskau.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.1999

Der Schicksalshase
Andrej Bitow schlägt Haken mit Puschkin / Von Ralph Dutli

Am 6. Juni wird der russische Klassiker Alexander Puschkin seinen zweihundertsten Geburtstag verpaßt bekommen, und man darf schon jetzt auf allerlei Jubiläumsgymnastik für den hierzulande noch immer unbekannten und gleichwohl hochtrabend als "Goethe des Ostens" betitelten Dichter gespannt sein. Wenn man einem zeitgenössischen russischen Schriftsteller den Vorwurf nicht machen kann, er springe auf den zufälligen Jubiläumszug auf, so ist es Andrej Bitow. Im Schaffen des 1937 in Leningrad geborenen Autors lebt Puschkin ein geheimnisvolles Nachleben aus und taucht bei ihm in zahlreichen Zitaten und Anspielungen auf. Er ist für Bitow unzweifelhaft die allererste literarische und kulturelle Instanz.

Bitows bekanntestes Werk trägt den in Rußland vielgeliebten Dichter bereits im Titel: "Das Puschkinhaus". Der in den sechziger Jahren entstandene Roman erschien zuerst 1978 in den Vereinigten Staaten, 1983 auf deutsch und erst 1989 im auf- und abgetauten Rußland Gorbatschows. Der glücklose, "nichtexistente" Held des Romans, Ljowa Odojewzew, stirbt darin sogar den Duelltod Puschkins nach und umklammert noch das Museumsstück einer doppelläufigen Pistole.

Daß mit Puschkin mehr gemeint sei als ein simpler Klassiker, den man eben mal herzitiert, suggerierte Bitow immer wieder. Rußland verkörpert sich für ihn - o frommer poetischer Wunsch! - in der russischen Literatur. Das "Haus Rußland", dieses inzwischen von Politikern abgegriffene Klischee, hatte Bitow in seinem Roman längst feierlich und fürsorglich umgetauft: "Die russische Literatur wie Petersburg (Leningrad) wie Rußland - all das ist, so oder anders, das Puschkinhaus."

Nun liegt unter dem Titel "Puschkins Hase" und rechtzeitig zum baldigen Jubiläum eine Handvoll Texte vor, die auf durchtriebene Weise um Puschkin kreisen. Es sind Erzählungen und Essays, Fakten und Fabeln verwirbelnde Etüden und schalkhafte Spielereien, Spiegeleien. Es ist, auch dank Rosemarie Tietzes federnder und gewandt-ironischer Übersetzung, ein vergnügliches Buch. Doch dies als kleine Warnung: Ein Puschkin für Anfänger ist das nicht unbedingt und gewiß kein schlichter Leitfaden ins Herz des Unbekannten. Braucht es ja auch gar nicht zu sein. Viel eher ist es die Erkundung der Privatmythologie eines Schriftstellers, sprunghaft, assoziativ und höchst subjektiv. Aber nach der Lektüre darf man sich fragen, was einem Klassiker Besseres passieren könnte als dieses prickelnde Nachleben unter der Feder eines späten Nachfahren.

In jedem der sieben Texte erscheint der Hase. Er ist geradezu der Held des Buches: ein Schicksalshase und Unglücksbote, der Glück bringen wird. Der "schwarze Hase" ist das russische Äquivalent unserer "schwarzen Katze". Es ist ein von Puschkin beglaubigter, historischer Hase, der Bitow umtreibt. Ein Hase soll im Dezember 1825 dem abergläubischen Dichter über den Weg gelaufen sein, als er unerlaubterweise von Michailowskoje nach Sankt Petersburg unterwegs war. Die Erscheinung des seinen Weg kreuzenden Hasen habe ihn zur lebensrettenden Umkehr bewogen. Denn auf dem Senatsplatz der russischen Hauptstadt machten Puschkins Freunde, die Dekabristen, gerade Aufstand gegen die Autokratie des Zaren. Die Rebellion wurde niedergeschlagen, die Anführer gehenkt, der große Rest zu langjähriger Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert.

Der Hase war, laut Bitow, eine Art Mittler für Rußlands Weg in die Welt, welche die Weltliteratur bedeutet. Durch die Umkehr blieben Puschkin runde elf Jahre, um sich in die besagte Weltliteratur zu katapultieren. Mit seinem Poem "Die Zigeuner" hatte Puschkin sein frühes Vorbild Byron bereits überflügelt, mit seinem Drama "Boris Godunow" ein Stück "in shakespeareschem Geiste" geschaffen. Kaum war er nach dem Hasen-Abenteuer zurück auf seinem Erbgut Michailowskoje, schrieb er mit seinem "Graf Nulin" eine Parodie auf Shakespeare und schüttelte damit auch diesen übermächtigen Schatten ab. In der genialen Leichtigkeit seiner "Neuen Szene aus dem Faust" schließlich versuchte Puschkin, mit dem letzten lebenden Genie, mit Goethe, gleichzuziehen. Der Hase ließ Puschkin gleichsam zu Puschkin werden. Die Wende der Kutsche war eine "geistige Wende, die wir (das russische Volk) seinerzeit einzig und allein in Puschkin erreicht haben". Nicht zufällig plädiert Bitow dafür, dem Hasen ein Denkmal zu errichten, und zwar an der Stelle, wo er aus dem Gebüsch am Wegrand hoppelte: "Für Meister Lampe / Das dankbare Rußland".

Neben der häsischen Mythologie gibt es einen handfesten Brocken Science-fiction in dem Buch. Dessen Herzstück ist die Erzählung "Ein Photo von Puschkin (1799 bis 2099)". Zwar ist sie bereits 1985 entstanden, und 1990 war sie auch auf deutsch in Bitows Erzählband "Das Licht der Toten" zu lesen. Doch erst jetzt, im Hinblick auf die Feierlichkeiten zum zweihundertsten Geburtstag, entfaltet sie ihre wahre Bedeutung. Der Leser wird darin in die Zukunft und in die Vergangenheit geschickt. Im Jahre 2099, zum dreihundertsten Geburtstag Puschkins also, äußert ein "Jubiläumssowjet" vor vertrottelten Literaturfunktionären den Wunsch, ein Foto von Puschkin und die Aufzeichnung seiner Stimme zu besitzen. Puschkins Duelltod im Jahre 1837 ereignete sich - welch ein Pech! - nur wenige Jahre vor dem Auftauchen der ersten Fotografien in Rußland.

Das technische Gerät stellt im Jahr 2099 kein Hindernis dar. Schnell ist eine Zeitrakete zur Hand, und als Chrononaut wird der junge Igor Odojewzew erkoren, ein erblich vorbelasteter Puschkinist. Er ist ein Nachkomme jenes Ljowa Odojewzew, der in Bitows "Puschkinhaus" die Duellpistole noch mal betätigt hatte (der Leser reist also auch in Bitows Werk ein bißchen hin und her). Er soll in die Puschkin-Zeit zurückgeschickt werden und sich "mit versteckter Kamera" auf die Fährte des großen Dichters begeben. Doch Igor ist kein glücklicherer Held als sein Vorfahr Ljowa. Zwar trifft er tatsächlich auf Puschkin: "Plötzlich sah er, was er wollte: Puschkin! Der lungert auf dem Fensterbrett des Hotels Galiani, in Twer also, und ißt Pfirsiche . . . Da schaut Puschkin zu ihm rüber und spuckt mit dem Pfirsichkern."

Igor erfährt die "absolute Einsamkeit" des Zeitreisenden und scheitert bei seinem Projekt, Puschkin fotografisch auf die Schliche zu kommen, seiner durch die Linse habhaft zu werden. Gerade das Grandiose erlebt er als "unbeweglich und tot", während das Lebendige "zu flackern und zu flimmern begann und sich dem Blick entzog". Der Wissende sieht nur, "was seine Zeit wußte". Die Spielzeuge aus der Science-fiction-Kiste sind letztlich machtlos, die zeitlichen Gräben nicht zu überwinden. Der Zeitreisende gerät noch einmal in die große Petersburger Flutkatastrophe von 1824 und endet - wie Puschkins Jewgenij im "Ehernen Reiter" - im Wahnsinn. Bitow ist eben bei allem Schalk und aller Experimentierlust ein melancholischer Autor. Daß seine meisterliche Erzählung als Vorbeugemaßnahme alles läppische Jubiläumstreiben ad absurdum führt, ist nicht ihr kleinster Vorzug.

Am Schluß sinniert der Autor auch noch über die Bedeutung des Namens Puschkin nach. Darin stecken sowohl "Kanonen" (russisch "puschki") als auch der "Flaum" und das "Fläumchen" ("puch" und "puschok"), und das Wort "Puschkin" verwandelt sich "in einen Hauch, wird zu unserem Atem". Im großen Klassiker scheint es den harten und den zarten Kern zu geben. Demnächst werden die Jubiläumskanonen losknallen. Man wünscht Puschkin das zarte Fell des hakenschlagenden Hasen. Bitows Buch wird eine der schönsten Geburtstagsgaben sein.

Andrej Bitow: "Puschkins Hase". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999. 194 S., geb., 38.- DM.

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