Wasserspeicher, die von oben gut zu erkennen waren. Ich vermutete einen Ingenieur in ihm, aber er winkte ab, er sei Bauer im Ruhestand. Dieses Bewässerungssystem, ließ er mich im Ton der Bewunderung wissen, habe Franco gebaut: "Für Projekte dieser Dimension", fügte er hinzu, "braucht man einen Diktator. Normale Leute bringen so etwas nicht fertig."
Auf Diktatoren kommt Kevin Dutton, Professor für Psychologie am Cavella Research Center for Evolution and Human Sciences in Oxford, zwar erst wenige Seiten vor dem Ende seines neuen Buches über Psychopathen kurz zu sprechen. An meinen Sitznachbarn auf dem Flug erinnert er aber schon sehr viel früher. Ganz verliebt berichtet er von Menschen, die nach dem Phantombild des Mediziners Hervey Cleckley soziale Chamäleons sind und "nicht vertraut mit dem primären Fakten oder Daten dessen, wasnwir als persönliche Werte bezeichnen könnten".
Der Psychopath sei eine intelligente Person, charakterisiert durch Gefühlsarmut, fehlendes Schamgefühl, Egozentrik, oberflächlichen Charme, fehlende Schuldgefühle, Angstlosigkeit, Immunität gegen Bestrafungen, Unberechenbarkeit und Verantwortlichkeit, manipulatives Verhalten und viele kurzzeitige Beziehungen. Er hat nicht das geringste Interesse an der Freude oder dem Streben der Menschheit, zeigt Gleichgültigkeit gegenüber Schönheit und Hässlichkeit, Gut und Böse, ist für Liebe nicht empfänglich, während Schrecken und Humor ihn nicht berühren. Er versteht auch nicht die Rührung anderer, trotz scharfen Verstandes. Über alles redet er leichthin, ohne zu verstehen, dass er nichts versteht. Bei großer Kreativität und Fokussiertheit verfügt der Psychopath über besondere Skrupellosigkeit, in manchen Situationen, so Dutton, aber auch über besondere Empathie und außergewöhnlichen Altruismus. Am pathologischen Lügen erkennt man ihn.
Dutton erzählt nicht im zugleich leichten und ernsten Ton der großartigen angelsächsischen Populärwissenschaft, wie sie Michael Faraday einst begründete. Vielmehr stellt er seine eigene Lust an der Räuberpistole noch vor die Fakten. So erfährt man etwa, wie Dr. Helen Morrison mit dem Gehirn des Serienmörders John Wayne Gacy nach Hause fährt: Es schwappt auf dem Beifahrersitz in einem Konservenglas hin und her. Als eine der weltweit führenden Experten für Serienmörder hatte Morrison bei der Entnahme assistiert, nachdem sie zuvor im Prozess als Zeugin der Verteidigung aufgetreten war.
Gacy war danach hingerichtet worden, aber Morrisons Untersuchungen hatten keine Läsionen, Tumore oder andere Krankheiten feststellen können, die Gacy möglicherweise dazu veranlasst hätten, drei Dutzend junge Männer zu töten. Eines seiner Opfer, das Dutton beim Namen nennt, vermochte er so zu quälen, dass es um den Tod bat. Gacy, schreibt Dutton erheitert, habe irritiert erwidert, dazu noch kommen zu wollen. Worüber Dutton "später das Vergnügen hatte", mit Morrison bei einer Tasse Kaffee zu reden.
Der Blick des Psychologen auf den Menschen setzt sich mit medizinischer Pragmatik zwar wohltuend von den immer weltrettenden Sozialpädagogen ab - jeder kennt die befreiende Wirkung der kleinen Lüge im Alltag. Wer wollte schon im ewigen Terror der Tugenden leben, der gerade kein Weg zur Freiheit ist. Man darf auch Anhänger einer gewissen Gerissenheit sein oder wie Joseph Hellers Held Captain Yossarrián im Roman "Catch 22" feststellen, dass Menschen, die lügen, "im Ganzen erfinderischer, ehrgeiziger und erfolgreicher" sind als Menschen, die es nicht tun.
Entscheidend ist aber fraglos ein Maß. Man muss wirklich nicht an Angstlust erkrankt sein, um Duttons Geschmacklosigkeit zu erkennen. Wie ein Leben endet, das mit der einen oder anderen grundlosen Lüge beginnt, um sich von dort in die soziale und psychische Orientierungslosigkeit zu entwickeln, hat Siri Hustvedt in ihrem Roman "Was ich liebte" eindrucksvoll und notwendigerweise humorlos erzählt. Dieser Vergleich ist erlaubt, weil Dutton kaum versucht, eine Theorie zu entwickeln, die die Rolle der Pathologie in einer modernen Gesellschaft kenntlich machte. Daran ändert auch sein Treffen mit dem Evolutionspsychologen Steven Pinker nichts, der jüngst den Versuch einer umfassenden Geschichte der Gewalt vorlegte.
Primär möchte Dutton unterhalten. Dafür versucht er zu schockieren, was nach Camus die Strategie des Künstlers ist, der nicht zu überzeugen vermag. Man erfährt jedoch manch Interessantes, zum Beispiel dass man unter einer Depression aufmerksamer ist oder Psychopathie heute mit einem Magnetfeld erzeugt werden kann - die Reaktionen auf visuelle Anregungen sexueller oder gewalttätiger Natur beweisen es. Empathie ist in den letzten drei Jahrzehnten gesunken, der Narzissmus gestiegen.
Dutton ist weder Historiker noch Soziologe, er fragt nicht nach Begründungen aus diesen Disziplinen. Bei einem Einsatz im Irak hilft aber zweifellos ein Prise Psychopathie, wie der britische Soldat Andy McNab erklärt: "Wenn du dich in einer gefährlichen Situation befindest, musst du abdrücken, bevor der andere Typ es tut. Und wenn du abgedrückt hast, ziehst du weiter. So einfach ist das. Warum dastehen und darüber nachdenken, was du getan hast? Wenn du das machst, läufst du Gefahr, dass das Letzte, was dir durch den Kopf geht, eine Kugel aus einem M16 ist." Dutton nennt das "supernormal", einen Zustand besonderer Klarheit.
Die Schwäche von Duttons Blick, der ihn vermuten lässt, dass Psychopathen in der modernen Gesellschaft nicht nur Rückenwind haben, sondern an manchen Stellen geradezu notwendig sind, zeigt sich im Vergleich mit der Vormoderne: Die von Steven Pinker nachgewiesene einst höhere Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, aber auch schon größere Not oder nur das Führen einer Familie mit zwölf Kindern verlangten Menschen eine rauhere Mentalität ab, als wir sie uns heute leisten können.
Das scheint Dutton zu bedauern, denn er schließt mit einem Gedicht von Don Marquis über eine Motte, die sich in eine Flamme stürzt. Er beneidet sie um die Leidenschaft, mit der sie aufs Verschmoren bedacht war. Na also: Hatte man schon eingangs vermutet, es mit einem Werk der Katastrophenlust zu tun zu haben - mit Lebensüberdruss. Aber der ist nicht so aufregend, wie der knallige Umschlag behauptet, sondern ermüdend.
RALF BÖNT
Kevin Dutton: "Psychopathen". Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann. Aus dem Englischen von Ursula Pesch.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013. 320 S., br., 14,90 [Euro].
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