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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2020

Ihre Punktum-Sätze dulden keinen Widerspruch
Unter den Füßen Sand und Späne: Marina Zwetajewas "Lichtregen" stellt die autobiographische Prosa der Dichterin vor

"Wir gehen auf keine Reisen - duundich." Diese Zeile, von der diesjährigen Büchner-Preisträgerin Elke Erb ins Deutsche übertragen, leitete einst die Bekanntschaft mit der Dichterin Zwetajewa ein. Mehr noch, sie schärfte Auge, Ohr und Verstand. Ein winziger Verzicht auf biedere Getrenntschreibung - und schon rückte Erb der lautlich verschmolzenen Aussprache des russischen "ty da ja" auf die Pelle.

Der Bewunderung gesellte sich rasch der Wille zu selbiger hinzu, sicher auch angestachelt durch den Generalverdacht: Die Lyrikerin ist doch nur verkannt und unterschätzt, weil Frau. Der Lilith Verlag hatte 1984 die "Erzählung von Sonecka" herausgebracht, in der Übersetzung von Margarete Schubert. Erworben und gelesen, das war eins. Nur blieb der Eindruck blass.

Warum? Da schrieb eine Frau aus eigener bisexueller Erfahrung heraus und fand einige bezwingende Bilder. Warum haftet dem Text dann etwas so verschwurbelt Schales an? Weitere Erzählungen und Gedichte schürten die Ratlosigkeit. Abhilfe sollte ein genauerer Blick in die Biographie schaffen.

Von wegen "keine Reisen"! Zwetajewa hat ihr halbes Leben im Ausland verbracht, freilich teils durchs Exil bedingt. Sie wurde 1892 geboren, als Tochter eines Selfmade-Akademikers und einer Pianistin: Ihr Vater, noch aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen, hatte sich zum Kunstprofessor hochgearbeitet und das Puschkin-Museum gegründet, ihre Mutter entstammte dem deutsch-polnischen Adel. Beste Voraussetzungen für das junge Talent. Zwetajewa sprach fließend Russisch, Französisch und Deutsch, später sollte sie aus weiteren Sprachen übersetzen. Selbst wer sie ablehnt, bescheinigt ihrer Lyrik Musikalität. Bereits 1910 veröffentlicht sie ihren ersten Gedichtband ("Abendalbum"), 1912 heiratet sie Sergej Efron, der im Bürgerkrieg als Offizier für die Weiße Armee kämpft und anschließend nach Prag flieht. Zwetajewa geht erst nach Berlin, später nach Prag, von dort aus siedelt sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern nach Paris über, sehnt sich aber stets nach Russland. "Dort würde man mich nicht drucken - aber lesen, hier werde ich gedruckt - aber nicht gelesen." Sergej wechselt irgendwann die Seiten und arbeitet für den sowjetischen Geheimdienst, 1939 kehrt er nach Russland zurück. Erst folgt ihm die Tochter Ariadna, überzeugte Kommunistin, dann Marina mit dem Sohn Georgi, genannt Murr. Zwetajewa wählt 1941 den Freitod, Ariadna wird ins Lager gesteckt, Sergej erschossen, Murr fällt im Zweiten Weltkrieg.

Wie könnte das tragische Familienschicksal den Bewunderungswillen nicht neu wecken? Der Griff nach dem zweiten der auf vier Bände angelegten Gesamtausgabe bei Suhrkamp ist beherzt. Er versammelt Porträts zu den Schriftstellern Waleri Brjussow, Ossip Mandelstam, Maximilian Woloschin, Andrej Bely, Konstantin Balmont, Michail Kusmin, Boris Pasternak, Rilke und Alexander Puschkin, zur Malerin Natalja Gontscharowa sowie literaturtheoretische Schriften. Noch von der Biographie inspiriert, fällt die Wahl für den ersten Text auf Gontscharowa.

Die beiden Frauen lernen sich in Paris persönlich kennen, daher ist zunächst das Atelier dran. "Der Fußboden. Wenn Weite und Licht den Eindruck von Öde schufen, so ist der Boden - völlige Öde, die Öde selbst. Ganz abgesehen schon von seiner Gegenstandslosigkeit (nichts, außer einem wesenhaften Nichts) - die physische Empfindung von Sand, von Spänen unter den Füßen." Warum "pustynja" hier nicht mit "Wüste", sondern mit "Öde" wiedergegeben wird, sei dahingestellt. "Ich kenne auch singenden Sand, unter den Füßen pfeifend wie zerreißende Seide, Sand von anderen Gestaden des Ozeans, doch - Stille - das ist nicht Abwesenheit von Lauten, vielmehr Abwesenheit überflüssiger Laute, Anwesenheit wesenhafter Geräusche - das Rauschen des Blutes in den Ohren (das Mücken-s-s-s), des Windes im Laub, in diesem Moment, da ich an der Schwelle der Werkstatt stehe, das Rauschen von wirbelndem Wasser in der Dampfheizung - dem mächtigen Ofen, der wärmenden Sonne dieser Öde", in der sie sogleich "eine ganze Reihe von Oasen, kleinen farbigen Inselchen, Kleinmeeren, Kleinseen, Meere für Kleine, Schüsselchenmeere" entdeckt.

Derart assoziativ geht es weiter, doch Zwetajewas Gedankenfluss mäandert stets zielsicher zu ihr. Konnte Patrick Süßkind mit seinem "Parfüm" noch olfaktorische Reize liefern, dass die Nasenflügel eine ganze Weile gebläht blieben, rührt sich hier trotz hundert Seiten nicht der Wunsch, ein Bild Gontscharowas zu betrachten. Das ist kein Einzelfall. Zwetajewa verführt nie zur Lektüre der von ihr gepriesenen Autoren, geschweige denn des von ihr geschmähten Brjussow.

Ilma Rakusa spricht in ihrem Nachwort von der "aphoristischen Kompaktheit und apodiktischen Klarheit" Zwetajewas und findet diese bestechend, zitierfähig gar. Doch wird nicht andersrum ein Schuh daraus? Apodiktische Klarheit - das sind Punktum-Sätze, die keinen Widerspruch dulden. Das ist keine Einladung zum Dialog, sondern deren Gegenteil. Das ist Ausladung.

Ein ganzes Potpourri antiintellektueller, mystifizierender Aussagen illustriert das. Brjussow "fehlte die Grundlage, um Dichter zu werden (nämlich: als solcher geboren zu sein)", über Rilke möchte sie nicht "reden, dadurch schließe ich ihn aus und entfremde ihn, mache ihn zu etwas Drittem, zu einem Ding, über das man spricht, außerhalb meiner selbst", ein Buch über ihn wäre zwar denkbar, allerdings ein "Buch des Seins, seines Seins jedoch, des - in ihm - Seins", und auch das erst, wenn sie ihm "zugewachsen" ist. Um es klarzustellen: Hier liegt keine schlechte Übersetzung vor. Als Kulmination vielleicht das Bekenntnis: "Der Text schreibt, mit meiner Hilfe, sich selbst."

Das streitbare Naturell Zwetajewas hat gewiss sympathische Aspekte. Ihre Kompromisslosigkeit, gelegentlich sogar ihre Punktum-Attitüde. Gegen die gängige Meinung verteidigt sie in den Pariser Emigrantenkreisen die Lyrik Majakowskis und wettert gegen die "Vernichtung der Kunst", die Tolstoi von hoher moralischer Warte aus fordert, obwohl - oder gerade weil - sie ihn als Künstler schätzt. Kunst darf für sie nicht zur Erfüllungsgehilfin der Politik werden.

Ein Essay bietet sicher Freiheiten, doch bereits im Nachwort fällt die strikte Unterscheidung zu den Erinnerungen weg, weil sie stilistisch nicht nachvollziehbar ist. Zwetajewa gelingen zwar einige recht gute Passagen, so in "Ein Abend nicht von dieser Welt" über eine Dichterlesung 1916 in St. Petersburg, wo sie im melancholischen Rückblick festhält: "Aus einer Welt, in der manch einer meine Gedichte brauchte wie Brot, kam ich in eine Welt, in der keiner Gedichte braucht, weder meine noch andere, oder höchstens als Dessert, wenn einer denn ein Dessert wirklich - braucht." Am Ende monologisiert sie sich jedoch zu einer gleichsam zugeschlagenen Tür. Das war's für den Dialog, wie ihn sich Montaigne für den Essay wünschte. Rakusa räumt ein, Zwetajewa gehe es nicht um Fakten, sondern "um eine Erfindung der Wahrheit - zwecks poetischer Wahrhaftigkeit", der Lyriker Wladislaw Chodassewitsch bescheinigt ihr eine renitente Abscheu vor Überarbeitung, sie selbst kokettiert nach dreißig Seiten über Pasternak: "Ich schließe. Verzweifelt. Denn ich habe nichts gesagt. Nichts - gar nichts -, weil vor mir das Leben steht, und ich finde keine Worte dafür."

Es bleibt die Bewunderung für einige Gedichte Zwetajewas. Doch es hilft nichts: Der Wille, das Gesamtwerk zu schätzen, fehlt. Und die Biographie ist keine Kronzeugin für Literatur, weder für ihre guten noch für ihre schlechten Werke.

CHRISTIANE PÖHLMANN

Marina Zwetajewa: "Lichtregen". Essays und Erinnerungen. Gesammelte Werke, Bd. 2. Aus dem Russischen von Nicola Denis, Elke Erb u. a. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 928 S., geb., 44,- [Euro].

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