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Produktdetails
  • Verlag: Edition Temmen
  • Seitenzahl: 415
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 1166g
  • ISBN-13: 9783861083146
  • Artikelnr.: 24440060
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.1996

Sozialismus noch einmal gerettet
Der "Prager Frühling" und die Panzer des Warschauer Pakts

Jan Pauer: Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes. Hintergründe - Planung - Durchführung. Edition Temmen, Bremen 1995. 415 Seiten, 40 Abbildungen, 58,- Mark.

Der Verfasser gehörte 1968, mit 18 Jahren, zu den Aktivisten des "Prager Frühlings". Pauers Arbeit wirkt zwiespältig: Zwar ist das Thema spannender als ein Kriminalroman. Nimmt man mit dem Autor die an Kants "Ewigen Frieden" angelehnte Definition von Marx für die Außenpolitik zum Maßstab ("die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen"), so war der Prager Coup des Warschauer Pakts Regierungskriminalität satt: "Vertragsbruch", "militärische Aggression gegen ein verbündetes Land, das kalkulierte Risiko eines Blutbades an der Zivilbevölkerung sowie die Verhaftung, Entführung und politische Erpressung der höchsten Amtsträger der CSSR, die zu freundschaftlichen Verhandlungen erklärt wurden". Von den historischen Voraussetzungen bleibt vor allem der Massenterror gegen ein Volk haften, das von Hause aus russenfreundlich war: Obwohl die KPC bei ersten freien Nachkriegswahlen mit 38 Prozent der Stimmen stärkste Partei wurde, traf der stalinistische Terror rund zwei Millionen Opfer - mit Familienangehörigen über die Hälfte der Bevölkerung!

Aber die sozialistische Sozialisation, die trotz ideologisch entgegengesetztem Vorzeichen noch durchschlägt ("Lageeinschätzung", "einschätzbar", "massenhafte Diskussionen", "Perspektive einer Bewahrung der Substanz des Reform- und Demokratisierungsprozesses"), Waten im Archivmaterial und Verzicht auf erhellende Untergliederungen machen Teil I unlesbar: Endloses Referieren von Verhandlungsprotokollen in schleppender indirekter Rede verbreitet die Spannung von ZK-Sitzungen, wo bekanntlich nur der Klassenfeind nie schlief. Im Grau der Tiraden mit ermüdenden Wiederholungen gehen wirkliche Sensationen unter, so die "Konferenzen" von Cierna und Bratislava: Sie entpuppen sich als Tribunale zur politischen Einstimmung, sollte die militärische Intervention für den Kreml doch notwendig werden.

Wer bis zur Mitte durchhält, wird reich belohnt, denn mit der Militäraktion wird die Darstellung plastischer: Von innen bereiteten die vielzitierten "gesunden Kräfte" im Partei- und Staatsapparat als "fünfte Kolonne" den Schlag konspirativ vor. Äußerlich klappte zwar die "größte militärische Aktion seit dem Zweiten Weltkrieg" in Europa mit einer halben Million Mann. Politisch aber scheiterte sie am spontanen Widerstand der Nation: Im Einklang mit ihr verurteilten Medien, Partei, Parlament, Regierung, Gewerkschaften einmütig die zweite militärische Okkupation ihres Landes in 30 Jahren. Ihr moralischer Druck (Breschnew: "Straße") war so stark, daß keine "revolutionäre" Quisling-Regierung zustande kam. Statt dessen verkrochen sich die Kollaborateure in der Sowjetbotschaft, trauten sich nicht, sich zu ihrem erstmals abgedruckten "Einladungsbrief" zu bekennen. Der scharfmacherische Gomulka umriß das Dilemma: "Wir haben sie vollkommen mit unserer militärischen Aktion überrascht, und sie haben uns mit ihrer politisch-propagandistischen Aktion überrascht."

Aus der selbstgemachten "politischen Sackgasse" befreite die Sowjets der General-Staatspräsident Svoboda mit seinem Flug nach Moskau.

Die Moskauer "Verhandlungen" vom 23. bis 26. August verliefen unter denkbar ungleichen Bedingungen: Die Sowjets besaßen die militärische Übermacht und das Monopol an Informationen, die sie dem widerspenstigen Flügel der CSSR-Delegation nur zur Desinformation weitergaben, versetzt mit Lügen und Drohungen. Dagegen waren die Reformkommunisten entführt, an Händen gefesselt, nur für "Verhandlungen" freigelassen. Ihr Status blieb ungeklärt - Geisel oder Verhandlungspartner. Sie wußten nichts über die Lage, durften sich nicht frei bewegen oder miteinander besprechen. Frantisek Kriegel, die bête noire der Sowjets, wurde gar nicht erst zugelassen, weil er standhaft gegen "Verhandlungen" und Unterschrift blieb. Die versammelten Tschechoslowaken durften das Diktat nur unterschreiben und politisch umsetzen, es aber noch nicht einmal öffentlich machen. Alles blieb "streng geheim", aus Angst vor dem Volk der CSSR: Kafka hätte das Drehbuch zu diesem gespenstischen Politik-Thriller nicht besser schreiben können.

Gnadenlos beuteten die Sowjets politische Differenzen in der CSSR-Delegation aus. Die entschiedenen Reformer verteidigten ihre Politik, ließen sich aber allmählich in einen erzwungenen Konsens einbinden, Alexander Dubcek erst im letzten Augenblick. Alle standen unter enormem Druck, das Schicksal von Imre Nagy's nach Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 vor Augen. Immer wieder beschworen die Sowjets den drohenden "Bürgerkrieg", lasteten ihn aber vorbeugend den Reformern an, sollten sie nicht kooperativ "helfen". Die verdeckten Kollaborateure unter Vasil Bilak setzten ihre konspirative Kapitulation fort. Dazwischen stand Svoboda: Der überzeugte Altkommunist stellte seine "internationalistische" Loyalität für die Sowjetunion über die für sein eigenes Land. Sein hohes Prestige neutralisierte allmählich das Zögern der Reformer.

Zuletzt bleibt nur noch die Frage, wie die Sowjets die Kurve zur "Normalisierung" und Legitimierung ihrer Invasion schaffen würden. Hier zerstört der zornige junge Mann von Prag 1968 den "Svoboda-Mythos" und jede Gloriole um Reformkommunisten durch eine "funktionale" (ein Lieblingswort des Autors) Analyse: Auch als Reformer blieben sie Kommunisten und wurden keineswegs Demokraten, sondern unterwarfen sich zuletzt doch Moskau. Nach ihrer Freilassung und Rückkehr inszenierten sie schrittweise die "Autorestauration" als "politische Restauration in Gestalt der eigenen Führung". In einer Mischung von "Selbsttäuschung und Täuschung" der Öffentlichkeit über den wahren Charakter der Moskauer Bedingungen gelang ihnen schrittweise die Demobilisierung des Volkswiderstandes. Ihr großes Prestige war für die ihnen zugedachte Funktion unerläßlich. 1969 verschwanden sie in der Versenkung, wie von Moskau vorgesehen, als erpreßte und damit kompromittierte Erfüllungsgehilfen.

So wurde der Sozialismus, wie Breschnew mehrfach betonte, noch einmal gerettet - scheinbar: Die Unterdrückung einer Reform von oben 1968 und von unten in Polen 1980/81 besiegelte nur die Reformunfähigkeit des Sowjetkommunismus in seinem Ausgangsland selbst 1991. Das Ende des europäischen Kommunismus öffnete die Türen auch zu Geheimdokumenten, die das jetzt vorliegende Buch erst ermöglichten.

Seine Ergebnisse wären noch überzeugender, wäre gelegentliche staatsanwaltliche Personalisierung unterblieben. Der Verlag hätte intellektuelle Gastfreundschaft bis zur Ausmerzung landesüblicher Stilschwächen treiben können, die wissenschaftliche Sachprosa aufblähen - unnötige Passiva, "bezüglich", "dabei", das Pathos rollender Mehrfach-Genitive.

IMANUEL GEISS

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