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Die amerikanische Pulitzerpreisträgerin E. Annie Proulx erzählt in ihrem Roman die Geschichte einer Farmersfamilie. Man schreibt das Jahr 1944. Auf ihrer Farm in Vermont rackert sich die Familie Blood ab: Vater, Mutter, zwei Söhne und die halbwüchsige Tochter. Als der älteste Sohn, Loyal Blood, die Familie verläßt, beginnt die Farm zu verkommen. Der Vater erhängt sich schließlich, und der Rest der Familie verläßt Vermont nach dem Verkauf des Besitzes. Loyal, der ein unstetes Leben führt und nirgends seßhaft werden kann, weiß nichts von dieser Entwicklung. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht,…mehr

Produktbeschreibung
Die amerikanische Pulitzerpreisträgerin E. Annie Proulx erzählt in ihrem Roman die Geschichte einer Farmersfamilie. Man schreibt das Jahr 1944. Auf ihrer Farm in Vermont rackert sich die Familie Blood ab: Vater, Mutter, zwei Söhne und die halbwüchsige Tochter. Als der älteste Sohn, Loyal Blood, die Familie verläßt, beginnt die Farm zu verkommen. Der Vater erhängt sich schließlich, und der Rest der Familie verläßt Vermont nach dem Verkauf des Besitzes. Loyal, der ein unstetes Leben führt und nirgends seßhaft werden kann, weiß nichts von dieser Entwicklung. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, hin und wieder Postkarten an die Vermonter Adresse zu schicken. Antwort erhält er nie, er gibt auch nie seine eigene Anschrift an.
Autorenporträt
Edna Annie Proulx wurde 1935 in Connecticut geboren, begann Anfang der neunziger Jahre zu schreiben und wurde mit allen wichtigen Literaturpreisen Amerikas ausgezeichnet, dem PEN/Faulkner Award, dem Pulitzerpreis, dem National Book Award, sowie dem Irish Times International Fiction Prize. Annie Proulx lebt in Denver und Wyoming.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.1996

Harte Brocken
E. Annie Proulx verschickt Postkarten · Von Ingeborg Harms

Postkarten schreibt man über dem Herzen hin. Vielleicht werden sie hinter den Spiegel gesteckt. Dann werden sie vergessen. So wie die Postkarte einen Moment lang glänzt und eine Ewigkeit verstaubt, hat auch Amerika eine gleißende Oberfläche und darunter eine unendliche Verfallszeit. Der Roman "Postkarten" hat sich dem Nachleben der Hochglanzwurfsendung Vereinigte Staaten gewidmet, all dem, was nicht im Kino oder Fernsehen erscheint. E. Annie Proulx verschreibt sich dem sozialen Realismus. Ihr Interesse gilt den heruntergekommenen Farmen, den Wohnwagensiedlungen und den mit Backsteintapeten und zünftigen Hirschgeweihen ausstaffierten Drive-ins, der Felljägerei und den Uranschürfern, dem trampenden Indianer und den Hausfrauen auf dem Kirchenbazar.

Proulx macht die Geschicke einer Farmerfamilie aus Vermont zum Rückgrat ihrer Saga vom anderen Amerika. Ihre Erzählung setzt kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein und endet in den achtziger Jahren. Sie zeichnet einen kollektiven Fall ohne eigentlichen Aufstieg nach. Wenn es auch das Gesetz dieser Welt des Abfalls zu sein scheint, daß niemand es zu etwas bringt und keiner heil davonkommt, so gibt es in ihr doch eine Art Urverbrechen. Der Roman beginnt mit der so wilden wie grandiosen Schilderung der Dinge, wie sie dem jungen Loyal Blood in den Augenblicken nach dem Tod seiner Freundin Billy erscheinen. Ohne den genauen Verlauf zu durchschauen, erfährt der Leser doch so viel, daß Loyal das Mädchen beim Beischlaf am Wacholdergestrüpp getötet hat. Die Tat verändert seine Wahrnehmung in radikaler Weise. Als wären ihm im biblischen Sinne die Augen geöffnet worden, hat Loyals Sehschärfe erschreckend zugenommen. Jeder Mooshöcker, jede Steinmaserung, jedes Zucken einer Motte springt ihm ins Gesicht. Doch vor allem sieht Loyal jetzt überall Samen. Sie rasseln aus den Glockenblumenhüllen, hageln durch die Gräser, rieseln aus Seidenpflanzen und platzen aus einem reifen Kürbis hervor.

Als Loyal das Haus betritt, nimmt das Übel seinen Lauf. In der Küche sitzt Mink, Loyals Vater, mit einem T-Shirt, auf dem "Harter Brocken" steht. Seit einem Traktorunfall ist von ihm nicht mehr viel übrig. Seine Frau Jewell serviert mit "Händen wie Karottenbündeln" zeternd den Kartoffelbrei. Mernelle ist ihre großzahnige Tochter, die "Minks geduckte Haltung" hat. Loyals jüngerer Bruder Dub kommt zu spät zum Essen und findet ein blutiges Pflaster in seinem Brei. Die Mutter hat sich nur beim Kartoffelschälen geschnitten, ihm aber fehlt ein ganzer Arm. Der lebenslustige Dub hat die Welt erobern wollen und ist beim Schwarzfahren unter einen Zug geraten. Das macht Loyal zur einzigen vollwertigen Kraft auf der Farm. Als er seinen Weggang ankündigt, vernagelt der Vater die Haustür. Der Sohn geht durchs Fenster, und Mink erschießt postwendend die Holsteiner Kühe, die sich der Deserteur gehalten hatte.

Proulx' grotesker Realismus porträtiert die Verlierer des Nachkriegsaufschwungs, den unelastischen Bauernsinn, der mit den Veränderungen nicht zurechtkommt. Dub erhält als Invalide keine Arbeitsstelle, weil man statt seiner lieber einen Kriegsversehrten nimmt. Mink fällt nichts Besseres ein, als sein verschuldetes Anwesen anzuzünden. Der dilettantische Versicherungsbetrug kommt schnell heraus. Sein klügerer Nachfolger verkauft das Land parzellenweise an Wohnwagenbesitzer und macht so einen stattlichen Gewinn. Fast keine der Figuren, zwischen denen die Postkarten, die am Anfang der Kapitel abgebildet sind, hin und her gehen, ist den Anforderungen der Moderne gewachsen.

Während seiner lebenslangen Flucht vor einer Tat, die nie herauskommt, begegnet Loyal vielen Lebenskünstlern. Doch nur die Abgebrühtesten überleben. Man könnte "Postkarten" eine Anthologie bizarrer Tode und Verstümmelungen nennen. Ein Vietnam-Veteran lebt während eines Buschbrands noch einmal auf und fällt aus dem Jeep, als er versucht, ein brennendes Dornenknäuel mit dem Fahrtwind zu ersticken. Ein ostfriesischer Minenarbeiter verliert bei einem Stolleneinbruch die Fußsohle, weil er zu lang im kalten Wasser stehen mußte. Einer von Loyals flüchtigen Freunden unterhält ihn einen Nachmittag damit, auf wie viele Arten man sich durch eine Schrotflinte zu Tode bringen kann. "Früher nannte man es zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit", erklärt er, "aber ich war immer der Meinung, daß so ein Verhalten angesichts der Umstände von beträchtlicher Klarsicht zeugt."

Nach und nach wird die Romanwelt enger, aus der einsamen Farm wird ein stinkender, durch Lautsprecher regierter Campingplatz, die Autobahnen sind verstopft, Fernsehgeräte stehen auf jedem freien Platz, in den Wäldern finden sich neben den von verlumpten Sammlern heißbegehrten Brontosaurierknochen auch die von unbequem gewordenen mexikanischen Fremdarbeitern. Und doch klagt der Roman nicht den Spätkapitalismus an. Wenn man hinter seine Fassade schaut, so findet sich nicht nur Zivilisationsmüll, sondern auch der giftige Abfall der Natur.

Der letzte Besitzer der Blood-Farm ist ein heroinsüchtiger Städter. In einer endlosen Litanei zählt er sich selbst die unerträglichen Geräusche auf, unter denen er in seinem Wohnmobil leidet. Neben den Flugzeugen und tropfenden Wasserhähnen, den Kirchenglocken vom Band, dem Elektrowecker und der Wasserspülung quälen ihn auch das Zwitschern der Vögel, das Prasseln des Regens, die Mücken, Grillen, Zikaden und Kojoten. Natur und Kultur sind ein verhängnisvolles Bündnis eingegangen: "Er fuhr immer wieder an ausgebrannten Wohnwagen vorbei, an Drahtrollen, einem torkelnden Mann mit Haaren wie Zementbrocken, die Hose urindurchnäßt. Die Bäume waren wie Röhren. Der Himmel war ein Röntgenbild."

Proulx zeichnet das Ende der amerikanischen Pionierwelt nach. Das jungfräuliche Land hat sich aufgelöst, und seine emsigen Verderber haben noch immer nicht entdeckt, wonach sie suchten. Die konzeptionelle Konsequenz des Buches besteht darin, daß systematisch eine Panne auf die andere folgt, wie man es sonst wohl nur vom Slapstick kennt. Doch "Postkarten" ist an keiner Stelle komisch. Trotz seiner zärtlichen Aufmerksamkeit und unverblümten Präzision haftet dem Roman eine gewisse Verbissenheit an, die auf dem Rücken der Handlung alle Sünden des Jahrhunderts transportiert. Es entsteht der Eindruck, als habe die Autorin ihrem Werk die vereinten schwarzen Listen von Greenpeace, Amnesty International und Wild Life Watch zugrunde gelegt und aus diesem düsteren Archivholz dann mit trotziger Genugtuung ihre herben Antihelden geschnitzt.

Gelegentlich entgleist der strenge Strich der psychologischen Sozialreportage. Dann flackern Bilder von großer Originalität und überwältigender Anmut auf. Loyal hat jedesmal einen epileptischen Anfall, wenn er es mit einer Frau versucht. Für eine Weile ist er einem trunksüchtigen Astrologen nahe gewesen, bis dessen Gattin ihn wieder hinauswirft. Auf nächtlicher Fahrt im Transporter, der zugleich sein Haus ist, beginnt er zu grübeln: "Die Sterne durchfluteten ihn mit einer Sehnsucht nach Ben, dem großen Liebhaber kalter Punkte. War inzwischen vermutlich tot. Die Sterne standen nicht still; sie bebten, als lägen sie in schwarzem Gelee."

E. Annie Proulx: "Postkarten". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Hofmann. List Verlag, München und Leipzig 1996. 408 S., geb., 39,80 DM.

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