war."
Man kann diesen Sätzen vorhalten, zu glatt und sentimental und nostalgisch zu sein. Und wer mag, kann auch jetzt dieselbe Frage stellen wie Rezensenten beim Vorgängerroman "Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde": Braucht es wirklich noch Bücher über eine Jugend am Rande des Ruhrgebiets?
Aber es gibt eben genug Leute, die solch ein Buch brauchen, weil es sie in den Kopf ihrer Jugend zurückbringt. Denen das Melancholische und doch auch Euphorische und Möchtegern-Coole und Jugendpoetische dieser Sprache charmante Lesestunden beschert (ein Kuss im Antiquariat: "zwischen S wie Scarlatti und P wie Prokofjew", "zwischen all dem Wissen der Jahrhunderte, das nichts war im Vergleich zur Aufregung unserer Lippen"). Und manche Bücher müssen einfach geschrieben werden - Heidtmann stammt nun mal wie sein Romanheld von der Lippe nördlich von Bottrop, er wuchs in Schermbeck und Dorsten auf und steuerte wie Ben im Roman auf eine Ausbildung als Pianist und Germanist zu.
Wobei es in "Plötzlich waren wir sterblich" noch nicht so weit ist. Heidtmanns Held geht auch im neuen Band zur Schule, die aber nur noch am Rande auftaucht, weil die Geschichte - die keine wirkliche Geschichte ist, mehr eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen - durchweg um Bens Bandprojekt "Crazy Hearts", seinen Eifer als Klavierschüler, zwei Mädchen und die Angst vor der "Endstation Lippfeld" kreist.
Verluste werden zum Thema, und damit ist nicht nur die mit einem Faustschlag ihres neuen Partners Kai Hendricksen markierte Abkehr von Susanna oder die Trauer um den verstorbenen Freund Jan-Henri oder der Umzug der neuen Flamme Rebecca nach Berlin gemeint - sondern auch die Trennung von den Eltern, die eines Tages unausweichlich erfolgen muss, entweder durch den Auszug von Ben oder den Tod.
Umso rührender sind die Skizzen, mit denen Heidtmann den hart schuftenden Vater und die immer tiefer in Depressionen versinkende Mutter beschreibt. Die kleine Welt mit grünem Telefon, Ledergarnitur, Schwarzbrot und Rübenkraut. Die Scheibe Eis von der "Königsrolle", mit der der Vater, ein fast sprachloser Mann, anstelle vieler Worte seine Zuneigung zu den Söhnen ausdrückt. Einer Klavierdarbietung des Sohnes wohnen die Eltern bei, als sei sie allein schon der Beweis für den geglückten Klassenaufstieg (zumindest des Sohnes): "Dein Vater ist stolz auf dich, sagte mein Vater. Ich blieb gefasst und dachte, jetzt müsste eigentlich kommen: Deine Mutter natürlich auch. Und deine Mutter natürlich auch, sagte mein Vater."
Das Politische der Zeit geht Heidtmann hingegen ab. Es schimmert nur gelegentlich auf, wenn RAF-Schriften kursieren, kurz vor der Bundestagswahl 1976 eine CDU-Anzeige im heimischen Sozi-Blatt auftaucht oder Köpckes "Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau" die gedrückte Stimmung in Bens Zuhause auflöst: "Immerhin geschah in der Welt Schlimmeres als bei uns zwischen Schrankwandwand und Spiegelkommode. Anschläge, Hungersnöte, Massenkarambolagen. Was dagegen war die Weltverlorenheit meiner Mutter?"
Kein Problem. Noch steckt der Held im selbst gesponnenen Kokon aus Musik und Literatur und Verzweiflung am "Lippfelder Elend". Wenn er im nächsten Band herausschlüpft, spürt man von den politischen Debatten der Siebziger hoffentlich mehr. MATTHIAS HANNEMANN
Andreas Heidtmann: "Plötzlich waren wir sterblich". Roman.
Verlag Faber & Faber, Leipzig 2023. 256 S., geb., 24,- Euro.
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