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Produktdetails
  • Verlag: Verlag Karl Alber
  • ISBN-13: 9783495479094
  • ISBN-10: 3495479090
  • Artikelnr.: 08445093
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.07.2008

Suche nach Wirklichkeit
Eine Beziehungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie
Die Geisteswissenschaften legen in jüngster Zeit viel Wert auf ihre historisierende Bestandssicherung. Noch vor gut zwei Jahrzehnten begründete Odo Marquard die „Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften” defensiv mit ihrer fortschrittskompensierenden und traditionsvergewissernden Funktion. Der Gegenwind, der ihm damals ins Gesicht blies, hat sich gelegt. Heute überfrachtet niemand mehr die Geisteswissenschaften mit einer Übererwartung an Sinnstiftung. Es scheint, dass Marquards moderate Sicht der Dinge mittlerweile common sense geworden ist: Philosophen, Historiker, Politologen oder Kulturwissenschaftler haben Abschied vom Anspruch auf Welterklärung genommen. Stattdessen inventarisieren sie das Arsenal ihrer Theoriegeschichte und bemühen sich um praktische Anschlussfähigkeit.
Eine schillernde Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, die sich auf das Disziplinübergreifende im großen Stil verstand, trägt ihren Anspruch bereits in der Selbstbezeichnung „Philosophische Anthropologie”. Sie wandte sich wieder dem Wesen des Menschen in seiner natürlichen Bedingtheit zu. Im Jahr 1928 waren es die ambitioniert betitelten Entwürfe zweier Kölner Philosophen, die heftig um ein Originalitätspatent konkurrierten: Helmuth Plessners „Stufen des Organischen und der Mensch” sowie Max Schelers „Die Stellung des Menschen im Kosmos”. Während der NS-Diktatur veröffentlichte dann Arnold Gehlen mit „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt” (1940) den vielfach aufgelegten Bestseller dieser Denkrichtung – mit spärlichen Hinweisen auf den bereits 1928 verstorbenen Scheler und ohne Erwähnung des emigrierten Plessner.
Es scheint größenwahnsinnig
Dies sollte in den Nachkriegsjahren, als Plessner und Gehlen die Disziplin wechselten und zu den prägenden Gründerfiguren der bundesrepublikanischen Soziologie avancierten, für anhaltendes Konfliktpotential sorgen. Der Dresdener Soziologe und Plessner-Kenner Joachim Fischer hat nun eine faszinierende intellektuelle Beziehungsgeschichte dieses philosophisch-anthropologischen Denkansatzes vorgelegt. Seine mit beachtlicher Zeitverzögerung publizierte Dissertationsschrift ist die eigensinnige Arbeit eines akademischen Individualisten und liegt schon aufgrund ihres Umfangs, der ausgreifenden Themenstellung und der Fülle an verarbeiteter Literatur weit jenseits der normalen Maßstäbe, die man an akademische Qualifikationsarbeiten stellen kann. An der Seite Karl-Siegbert Rehbergs, des letzten Gehlen-Schülers und alleinigen Herausgebers von dessen Gesamtausgabe, fungiert Fischer zugleich als Erbwalter und postumer Mittler zwischen den Begründern der Philosophischen Anthropologie.
Jenseits von Neukantianismus und Heideggerscher Existenzphilosophie verschrieb sich die Philosophische Anthropologie einer empirisch stichhaltigen Bestimmung des Menschen. Heute würde man ein solches Theorieprogramm vermutlich größenwahnsinnig nennen. Damals ging es Scheler und Plessner gerade um eine Abkehr vom Erbe des Idealismus hin zum Realismus, ja um die „Suche nach Wirklichkeit”, wie die Formel des eng mit Gehlen assoziierten Helmut Schelsky später lautete. „Empirische Philosophie” sollte ein Gegengewicht zu deutschen Traditionen von Tiefe, Innerlichkeit und Eigentlichkeit schaffen. Auf den Spuren von Nietzsche begriff man den Menschen als das „nicht festgestellte Tier”. Alle drei – Scheler, Plessner, Gehlen – waren Begriffsvirtuosen, deren suggestive Kreationen sich ergänzten. Scheler definierte den Mensch als „ewigen Protestanten gegen alle bloße Wirklichkeit” und „Neinsagenkönner”, der sich gleichzeitig durch seine spezifische „Weltoffenheit” auszeichnete. Bei Plessner wurden die „exzentrische Positionalität” und die „natürliche Künstlichkeit” des Menschen zu Schlagworten. Gehlen indes betonte das Mängelwesen Mensch, das sich in der Kultur eine „zweite Natur” schafft, um für Entlastung und Kompensation seiner Defizite zu sorgen.
Fischers theoriescharfe und kategorisch insistierende Analyse verfolgt die Entstehung, Konsolidierung und die Wirkungen des philosophisch-anthropologischen Denkansatzes über die drei Protagonisten hinaus. Der intellektuell wendige Plessner wird zur Schlüsselfigur, auch weil er wesentliche Denkmotive Schelers adaptierte und schneller publizierte als der arrivierte Ordinarius. Den Vorwurf des Plagiats mildert Fischer wie im Falle Gehlen, von dem sich wiederum Plessner gedanklich beraubt fühlte, dahingehend ab, dass eine bestimmte geistesgeschichtliche Lage ähnliche Erkenntnisinteressen hervorbrachte. Angesichts der Erfahrung moderner Krisenzeiten vergewisserte sich die Philosophie der gattungsmäßigen Fähigkeiten, in der Industriegesellschaft zu bestehen. Es war deswegen folgerichtig, dass Plessner und Gehlen ihre Forschungen später um eine soziologische Dimension erweiterten und der Philosophischen Anthropologie eine beachtliche Präsenz in den Debatten der sich formierenden und rapide wachsenden Soziologie sicherten.
Jürgen Habermas war ein überaus kritischer, aber gelehriger Leser Gehlens, der ihn für die Sachzwänge der modernen Zivilisation sensibel machte und ihm den angelsächsischen Pragmatismus nahe brachte; für Ralf Dahrendorfs Rollentheorie war die Auseinandersetzung mit Plessnerschen Motiven maßgeblich. Auch Luhmanns Verschwinden des Menschen aus der Soziologie lässt sich kurioserweise auf die Philosophische Anthropologie zurückführen, die in der von Fischer präsentierten Form wie die Spinne im Netz die Fäden zu einem „Stück intellektueller Gründung der Republik” verwoben hat. Über solche vielfältigen Filiationen und Rezeptionsprozesse innerhalb der Sozialwissenschaften informiert Fischer urteilssicher und originell.
Trotz des grundlegenden Verdienstes, ein bedeutendes Kapitel deutscher Ideengeschichte aufbereitet zu haben, sind leise Zweifel an der postulierten theoretischen Einheitlichkeit anzumelden. Wenn man den Rahmen so weit spannt, hat alles irgendwie mit Philosophischer Anthropologie zu tun, sogar die Kritische Theorie oder die neoaristotelische praktische Philosophie geraten ins Blickfeld. Dabei drohen die inneren Widersprüche gesellschaftsanalytischer, normativer und politisch-theoretischer Art unter den Tisch zu fallen. Der Remigrant Plessner und der ehemalige NS-Parteigenosse Gehlen ziehen völlig unterschiedliche Konsequenzen aus ihrer Anthropologie. Während der liberale Plessner das spielerische Element moderner Zivilisation und die Rollendifferenzierungen in der demokratischen Öffentlichkeit bejaht, verteidigt der Institutionalist Gehlen Askese und „Zucht” – er vermag die gewonnenen Freiheitsräume durch die Entlastung technischer Apparaturen allenfalls individuell, nicht aber politisch zu deuten.
Normative Blässe
Um es mit Odo Marquard auf den Punkt zu bringen: Gehlen weiß „zwar zu begründen, warum der Mensch kein Tier ist, nicht aber, warum er kein Unmensch sein dürfe”. Diese normative Blässe der Philosophischen Anthropologie wird unterstrichen in der eigentümlichen Geschichtslosigkeit ihrer Aussagen, die sie zeitweise zur Denkfigur der Kristallisation eines historischen Endzustandes führte. Plessners Sonderwegsdeutung der verspäteten deutschen Nation wiederum hat nichts mit seiner Anthropologie zu tun. Auch dies zeigt die Abnutzungserscheinungen eines überdehnten Theorieprogramms. Vielleicht geht es weniger darum, mit Fischer einen gemeinsamen theoretischen „Identitätskern” zu retten (was nur mit größtem Abstraktionswillen möglich scheint), sondern vielmehr um die inspirierenden Seitenstücke, die wir in Plessners liberaler Soziologie der modernen Zivilisation oder Gehlens Institutionentheorie finden. Fischers beeindruckende Gesamtschau lädt auch dazu ein und setzt ein Gespräch großer Geister des 20. Jahrhunderts imponierend in Szene. JENS HACKE
JOACHIM FISCHER: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Verlag Karl Alber, Freiburg/München, 2008. 684 S., 48 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2009

Menschenskinder

Seine Darstellung der philosophischen Anthropologie sei von einer "gewissen Sammelleidenschaft" diktiert. Es handle sich um keine mentalitätsgeschichtliche, ideologiekritische oder kultursoziologische Studie. Man finde in ihr keine "eigene Interpretation" zur zeitgeschichtlichen Einordnung des Gegenstandes. Sie mache auch "nicht den geringsten Versuch einer eigenen Kritik, Fortentwicklung oder sachaufschließenden Bewährung", und es würden "keinerlei Anschlußmöglichkeiten an aktuelle Debatten" vorgeführt. Einem so selbstkritischen Autor lässt sich vertrauen. Akribisch beleggesichert werden die wissenschaftlichen Lebenswege von Scheler, Gehlen, Plessner und in geringerem Maße von Rothacker, Portmann und Schelsky nachgezeichnet und mit extensiven Zitaten ihre Schriften referiert. Eine Schule im engeren Sinne sei aus diesen Denkern nicht geworden, weil Scheler Plessners "Stufen des Organischen" als Plagiat seiner "Stellung des Menschen" bezeichnete, Gehlen den Emigranten Plessner ignorierte und Plessner Gehlen die Akkommodation an den Nationalsozialismus nicht verzieh. Vor allem war "nichts so folgenreich für die Geschichte des Denkansatzes", wie dass Scheler 1928 starb. Trotzdem könne man von einer eigenen Richtung "Philosophische Anthropologie" sprechen, wenn man nämlich Plessners Exzentrische Positionalität als Kernbegriff nehme. Den Geist im "Entsprechungsverhältnis zwischen Organismus und Umwelt" zu verorten, das hatten freilich bereits Lebensphilosophie und Pragmatismus vorgeführt, so dass der Begriffsrechtstitel zwischen zu schwacher Institutionalisierung und zu allgemeiner Übereinstimmung dünn bleibt. (Joachim Fischer: "Philosophische Anthropologie". Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Karl Alber Verlag, Freiburg 2008. 684 S., geb., 48,- [Euro].) gf.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Faszinierend und imponierend findet Jens Hacke die von Joachim Fischer aufgeschriebene intellektuelle Beziehungsgeschichte zwischen Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen. Daran, dass hier ein akademischer Individualist am Werk ist, hat Hacke keinen Zweifel, das Buch, meint er, sprengt sämtliche normalen Maßstäbe. Fischers Anliegen sieht Hacke darin, zwischen den Begründern der Philosophischen Anthropologie zu vermitteln und darüber hinaus die weiteren Wirkungskreise ihres Denkens nachzuvollziehen. Hacke attestiert dem Autor diesbezüglich theoriescharfe und insistierende analytische Fähigkeiten sowie Urteilssicherheit und Originalität. Dass Fischers Arbeit auf eine theoretische Einheitlichkeit abzielt, verursacht dem Rezensent allerdings leichtes Magendrücken. Innere Widersprüche und die unterschiedlichen Konsequenzen, die Gehlen und Plessner aus ihrer Anthropologie ziehen, meint er, fallen dabei unter den Tisch. Lieber als auf Identitäten richtet Hacke den Blick auf die "Seitenstücke" bei Plessner und Gehlen. Auch dazu inspiriert ihn der Band.

© Perlentaucher Medien GmbH