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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2012

Ein Referätchen, ein Väterchen und ein Bömbchen

Vor hundert Jahren erschien der erste Band von Andrej Belyis Roman "Petersburg". Eine Diagnose der ersten russischen Revolution des Jahres 1905 - und der terroristischen Mentalität. Vor allem aber ein großes episches Experiment, das geduldige Leser verdient, die auch einmal zurückblättern. Und am Ende ein Weltbuch über Europa und Asien.

Von Lorenz Jäger

Der Romancier Andrej Belyi glaube "an die Magie der Worte", stellte Trotzki, damals noch sowjetischer Kriegskommissar, in einer vernichtenden Kritik dieses Schriftstellers fest. Die Formulierung findet sich in dem Essayband "Literatur und Revolution". Und so viel daran ist richtig, dass kaum jemals die epische Prosa so sehr vom Dichterischen bestimmt war. Belyi hatte als Lyriker begonnen. "Petersburg" schildert einen Zeitraum von kaum mehr als zehn Tagen zwischen Ende September bis Mitte Oktober des Jahres 1905, im Hintergrund steht das flammend rot brennende Land, das seine erste, dann bald scheiternde Revolution erlebt.

Aber wie ist das Buch gemacht? Man liest einen Roman der Echos und der Gedankenflucht. Der Worte, nein der Phrasen, die ebenso unausweichlich-enervierend wiederkehren wie die Melodie des "Bolero" von Maurice Ravel, immer neu, immer rauschender und schriller instrumentiert. Es sind die Phrasen der Revolution, des alten Regimes und der Reaktionäre, die Phrasen der Liebe. Auch die Phrasen der Humanität, wie sie dem alten Senator Ableuchow naheliegen: "Trotz allem, humanitäre Grundsätze brauchen wir: der Humanismus ist eine große Sache, unter Qualen errungen von Geistern wie Giordano Bruno, wie . . ." Nur dass er diese menschenfreundlichen Maximen durch Importerleichterungen für amerikanische Krawatten fördern will. Aber so abgerissen wie der Senator reden alle in diesem Buch; Gedanken zerfasern noch in dem Augenblick, da man zu ihnen ansetzt. Selbst das sinnlose Mümmeln des Alten "mme . . . me" ebenso wie seine leere Beschäftigung des Bleistiftspitzens wird auskomponiert.

Und so ist es nur folgerichtig, dass der Sohn des Senators, der faulenzende Student Nikolaj Appollonowitsch Ableuchow, die entgegengesetzten Lehren vertritt. Moderne Erkenntniskritik ist seine Sache; Kant, gelesen mit Hermann Cohen; auch Nietzsche mit seiner Ablehnung des Mitleids. Einmal hat der Tunichtgut in einem Zirkel "ein Referätchen gehalten, das alle Werte zertrümmerte". Die "Partei", von der wir niemals Genaueres erfahren, trägt ihm auf, das Väterchen, das kurz vor der Ernennung zum Minister steht, mit einem Bömbchen zu töten. Es steckt mit einem Uhrwerk in einer Sardinenbüchse. Es tickt, und selbst dieses Geräusch wird zum Namen halluziniert: "Pep Peppowitsch Pep".

Wer eine erste Formel für Andrej Belyi sucht, könnte sagen: Schicke den Lord Chandos, den Hofmannsthalschen Helden der Sprachkritik, dem die Worte im Munde zerfallen wie Pilze, in den Petersburger Sowjet des Jahres 1905 - in dem Trotzki eine große Rolle spielte - und lass ihn aufzeichnen, was er hört. Und gib ihm einen Regisseur von Slapstick-Filmen an die Seite. Aber so nah kommt der Roman doch nie an die Zentralen der Revolution heran; nur die Resultate berichtet er: "Die Landleute hatten längst aufgehört die mürbe Erde zu furchen; hingeworfen hatten die Landleute Eggen und Pflüge; unter den Hütten scharten die Landleute sich zu kümmerlichen Häuflein zwecks vereinter Besprechung der Zeitungsnachrichten; sie kommentierten und disputierten, um als einiger Haufe dann plötzlich zu stürmen zum säulengeschmückten Herrenhaus, das sich spiegelte in Wolga-, in Kama- oder selbst Dneprfluten; all die langen Nächte leuchteten über Russland die blutigen Röten der Dorfbrände und wurden bei Tag zur Schwärze von Rauchsäulen."

Die meisten Figuren, auf die wir treffen, sind an der Zirkulation der Bombe beteiligt. Da ist Nikolaj Stepanytsch Lippantschenko, der eigentliche böse Geist des Unternehmens, ein reiner Terrortechniker; da ist die dümmlich-aufreizende Offiziersgattin Sofja Petrowna Lichutina, die den Brief mit dem Parteiauftrag an den Senatorssohn weitergibt, den sie wiederum von der militanten Studentin Warwara erhalten hat. Alexandr Iwanowitsch Dudkin, auch er ein Mann der Partei, aber sozusagen mit wachsender Krankheitseinsicht (er liest die Apokalypse, die Offenbarung des Johannes), übergibt das Bündel mit der Bombe. Schließlich ist da der dubiose Pawel Morowkin, der sowohl für die Geheimpolizei wie für die "Partei" arbeitet. Am Ende explodiert die Bombe zwar - der Senator selbst hatte sie gedankenverloren mit in sein Zimmer genommen -, aber es bleibt beim Sachschaden, wenn man nicht in Rechnung stellt, dass unterwegs alle Beteiligten an ihrem menschlichen Kern Schaden genommen haben. "Man verhaftete irgendwen; und dann - ließ man ihn mangels Beweisen frei; Beziehungen wurden spielen gelassen; und die Sache wurde vertuscht. Man rührte niemand mehr an."

Hat Belyi eine Theorie der Revolution, und sei es auch nur eine unausgesprochene? Vor allem leben all diese Menschen in einem geistigen Chaos. Die Offiziersgattin Lichutina hat soeben das Kommunistische Manifest von Marx und Engels studiert und zerbricht sich nun an einem theosophischen Traktat den Kopf. Dudkin hatte noch kürzlich eine satanistische Lehre von der Zerstörung der Kultur entworfen. Zum zweiten aber haben die gesellschaftlichen Konflikte einen Grad der Vernichtungsintensität erreicht, der allen Beteiligten schon im ersten Moment als unausweichlich einleuchtet. Als der Senator an die Fabrikbevölkerung der Petersburg vorgelagerten Inseln denkt, ahnt er, dass in dem "vieltausendköpfigen Menschenschwarm" schon die Revolver herumgereicht werden, und er weiß nur eine Antwort: "Zerquetschen, zerquetschen! Sie an die Erde schmieden." Ohne zu wissen, mit wem er es zu tun hat, erkennt er aus der Kutsche den Blick Dudkins. Dieser wiederum hat den Senator erkannt; so, wie er mit seinen großen Ohren in den Karikaturen der "roten Blättchen" dargestellt wurde: "Mein Unbekannter von der Insel hasste Petersburg seit langem: dort, von dort erhob sich Petersburg in einer Woge von Wolken . . ., dort, so schien es, schwebte jemand Böses und Dunkles. Und sein Atem schmiedete mit dem Eis der Granite und Steine die ehemals grünen und üppigen Inseln fest." Es ist der alte Ableuchow, "in irrem Schweben mit Fledermausflügeln". Die Blätter fallen. "Mein Unbekannter wusste alles genau. Die gefallenen Blätter waren für so manchen die letzten Blätter."

Belyi ist in mancher Hinsicht ein Nachfahr von Gogol und Puschkin. Die beiden Brennpunkte des Geschehens, der Newskij-Prospekt und das Reiterstandbild Peters des Großen, waren schon literarisch kanonisiert, als Belyi sie in seinem Roman zu einer neuen Bedeutungssteigerung brachte. "Petersburg" ist für unser Bild der Stadt so wichtig wie Döblins "Alexanderplatz" für Berlin oder der "Ulysses" für Dublin. Das Vordringen des revolutionären Elements zeigte sich für Belyi im Straßenbild. Wo eben noch Zylinder und Melonen herumliefen, tauchen die "mandschurischen Mützen" auf. Sie haben eine konische Spitze - chinesischen Helmen abgeschaut - und seitlich herunterklappbare Ohrenschützer, auch einen Schirm, den man nach vorn stülpen oder hochgeschlagen tragen kann. Es sind eigentlich schon die Budjonnyj-Mützen der späteren Roten Armee, nur ohne Stern.

Es mag den heutigen Leser erstaunen, wie angelegentlich der Roman über die asiatische Gefahr räsoniert und das mongolische Element der russischen Geschichte zum Schreckbild macht. Nur versteht man das Jahr 1905 nicht, wenn man es nicht als Einheit von innen- und außenpolitischer Krise erkennt. Erst am 5. September ging der russisch-japanische Krieg im Friedensvertrag von Portsmouth zu Ende, der alte Ableuchow "reichte seine Hand jener Schicksalshand, die soeben die Konditionen eines außerordentlichen Vertrags unterschrieben hatte: der Vertrag wurde unterschrieben in . . . Amerika." So gehört zum Bild des geistigen Chaos auch die Furcht vor einer Auferstehung fernöstlicher Götzen im russischen Reich.

Der Roman, der am letzten Tag des September begonnen hatte, endet im Grunde zehn Tage später mit der Explosion. Aber dann hören wir noch, dass der junge Ableuchow "all die Tage" danach an einem "Nervenfieber" darniederliegt, und so kann man sagen, dass die innere Chronologie auf Andrej Belyi zuläuft, der 1880 am 14. Oktober (nach altem Kalender) geboren wurde.

War es Trotzkis Eitelkeit, die ihn den Rang eines Revolutionsromans verkennen ließ, in dem er nicht vorkam? Neben ihm waren führende Mitglieder des Petersburger Sowjets Alexander Helphand, der sich später als Waffenhändler großen Stils in der Türkei einen Namen macht, bevor er in den Korruptionsskandalen der frühen Weimarer Republik eine Rolle spielte. Zudem Viktor Semenon, Boris Goldmann, Timofei Smirnow und Ewgeni Frenkel. Nach den Erinnerungen von Lenins Witwe Nadeschda Krupskaja wurde Goldmann wahnsinnig und erschoss sich nach einer psychiatrischen Behandlung. Trotzki wurde Jahrzehnte später das Opfer eines Terrorapparates, den er selbst aufgebaut hatte. Von den anderen verliert sich jede Spur. Andrej Belyi war doch ein Realist.

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