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"Wenn ich könnte, ich würde Wanzka zum Bundespräsidenten wählen", schrieb ein bekannter Genetik-Professor im Feuilleton der Berliner Zeitung 1993. Der Mann hatte offenbar gute Gründe, die Titelfigur des 1968 in der DDR erschienenen Romans für das hohe Amt zu reklamieren. Denn Gustav Wanzka war unbestechlich. In DDR-Zeiten erst Neulehrer aus Überzeugung, dann Schulleiter und Schulrat und von den Amtssesseln wieder zurück in den praktischen Schuldiesnt, hat der besessene Pädagoge, mitunter gegen alle geltenden Regeln, ungewöhnliche Begabungen und Erziehungsmuster gefördert und das erstarrte…mehr

Produktbeschreibung
"Wenn ich könnte, ich würde Wanzka zum Bundespräsidenten wählen", schrieb ein bekannter Genetik-Professor im Feuilleton der Berliner Zeitung 1993. Der Mann hatte offenbar gute Gründe, die Titelfigur des 1968 in der DDR erschienenen Romans für das hohe Amt zu reklamieren. Denn Gustav Wanzka war unbestechlich. In DDR-Zeiten erst Neulehrer aus Überzeugung, dann Schulleiter und Schulrat und von den Amtssesseln wieder zurück in den praktischen Schuldiesnt, hat der besessene Pädagoge, mitunter gegen alle geltenden Regeln, ungewöhnliche Begabungen und Erziehungsmuster gefördert und das erstarrte System der Volksbildung aufzubrechen versucht. Mit seinen Geschichten aus dem Schulalltag einer mecklenburgischen Kleinstadt hat Wellm seinerzeit heftiges Pro und Kontra ausgelöst. Die Besitzer von normierten Weisheiten nannten den Autor empört einen 'Nestbeschmutzer'. Für die Entwicklung der DDR-Literatur muß 'Pause für Wanzka' als einer der Schlüsselromane angesehen werden.
Autorenporträt
Alfred Wellm wurde 1927 in Neukrug (bei Elblag/Polen) geboren. Erzähler und Verfasser zahlreicher Kinder- und Jugendbücher.

Nach Kriegsdienst zunächst Landarbeiter, 1946 Neulehrer, später Schuldirektor und Schulrat. Seit 1963 freier Schriftsteller.

Weitere Werke: 'Kaule' (1962); 'Das Pferdemädchen' (1974); 'Pugowitza oder Die silberne Schlüsseluhr' (1975), Roman; 'Morisco' (1987), Roman.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003

Fünfunddreißig Jahre zu lange vergessen
Wie Alfred Wellms Roman "Pause für Wanzka" die Verlogenheit des DDR-Schulsystems entlarvte / Von Frank Pergande

Vor fünfunddreißig Jahren erschien in der DDR Alfred Wellms Roman "Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar". Heute sollten das Buch jene zur Hand nehmen, die wegen der schlechten Ergebnisse deutscher Schüler beim Pisa-Test empfehlen, vom DDR-Schulsystem zu lernen. "Pause für Wanzka" ist eine so radikale wie wunderbar geschriebene Abrechnung mit der sozialistischen Schule, die ausschließlich auf das Kollektiv setzte und nur einheitliche Ziele in Erziehung und Bildung zuließ. Die jede Begabung vernichtete, wenn sie sich nicht angepaßt verhielt.

Alfred Wellm hatte die Verlogenheit dieses Schulsystems selbst erlebt. Seine Geschichte war also authentisch. Das erklärt die explosionsartige Wirkung des Romans bei seinem Erscheinen. Das DDR-Bildungsministerium sprühte Gift. Die Lehrerschaft protestierte. Das Buch konnte nur veröffentlicht werden, weil Walter Ulbricht es so wollte - allerdings ebenfalls aus vergifteten Motiven.

"Pause für Wanzka" erzählt von einem Lehrer kurz vor der Pensionierung. Der Schulrat möchte noch einmal zurück an eine Schule. Zunächst einmal muß er sich mit diesem Wunsch im SED-Apparat durchsetzen. Schließlich gerät er an die Schule einer kleinen Stadt und erlebt dort, wie herz- und hirnlos Anweisungen - eben noch waren es seine Anweisungen gewesen - von den Lehrern abgearbeitet werden. Es gibt viele Posten, die abzurechnen sind. Aber keinen gibt es für die, wie es im Roman heißt, "Liebung der Kinder". Der ehemalige Schulrat trifft in seiner Klasse auf Klausgünther, den vorbildlichen, aber langweiligen Schüler, der wie eine Maschine funktioniert. Und auf Norbert, der nicht viel von Pflicht und Disziplin hält, aber eine offensichtliche Begabung für die Mathematik hat.

Der Lehrer Wanzka pflegt einen unkonventionellen Unterricht. Einmal läßt er alle Fenster öffnen, damit seine Schüler dem Regen zuhören. Für solche Eigenmächtigkeiten indes ist an der sozialistischen Schule kein Platz. Wanzkas Klasse gilt bald als undiszipliniert; er selbst gerät im "Lehrerkollegium" ins Abseits. Er verteidigt seinen Schüler Norbert, als der einer Lehrerin in die Hand beißt. Norbert sind sozialistische Persönlichkeiten egal. Lieber fängt er Mäuse, die er gefangenen Eulen zum Fraß vorwirft. Wanzka beginnt, ihm Privatunterricht zu erteilen. Als er Norbert zur Mathematik-Olympiade schicken will, macht ihm das Lehrerkollektiv einen Strich durch die Rechnung. Auch darf Norbert, den Wanzka für sich "den Konsequent" nennt, nicht zur Erweiterten Oberschule, dem DDR-Gymnasium. Wanzka resigniert und geht in den Ruhestand.

Alfred Wellm, Jahrgang 1927, war nach dem Krieg ein sogenannter "Neulehrer" geworden. Bald schon war er zum Schulleiter aufgestiegen und wurde 1950 jüngster Kreisschulrat der DDR. Wellm begann, Kinderbücher zu schreiben. Wie sein Held Wanzka sehnte er sich zurück in die Schule. Er wurde in das mecklenburgische Mirow versetzt. In "Pause für Wanzka" heißt es: "Die Schule Mirenberg steht schräg auf die Straße zu. Zwei lange Fensterreihen. In der Mitte das Portal. Sechs blinde Säulen aus grauem Putz. Und ein angedeuteter Altan über der Tür. Oben steht in großer Schrift: Gegründet 1820. Abgebrannt am 21. Januar 1848. Wieder hergestellt durch Georg G.H.v.M." Die Buchstaben stehen für den Großherzog von Mecklenburg-Strelitz. Wellm beschreibt das Schulgebäude in Mirow, in dem derzeit eine Außenstelle des Neustrelitzer Gymnasiums Carolinum untergebracht ist. Die Einheimischen nennen das Haus "Unteres Schloß" - um es von dem eigentlichen Mirower Schloß auf der Schloßinsel unterscheiden zu können, einem Gebäude von 1760. Im Vorgängerbau des "Unteren Schlosses" wurde 1744 die strelitzsche Prinzessin Sophie Charlotte geboren, die spätere Ehefrau von Georg III. und englische Königin.

Wellm nennt seinen literarischen Schulort "Mirenberg": eine Zusammenziehung von Mirow und dem benachbarten Wesenberg. Der Name Wanzka stammt von einem Dorf, in dem es ein Kloster gab und noch heute eine Klosterkirche. Auch das Flüßchen Domjüch, das als Domjücher Mühle im Roman eine Rolle spielt, gibt es in der Nähe von Neustrelitz, ebenso wie den Domjücher See. Einige der Kollegen aus Mirow haben sich später in Wellms Roman wiederzuerkennen geglaubt. Sie wollten das Buch auf dem Schulhof verbrennen, was der Kreisschulrat in letzter Minute verhindern konnte.

Der Roman hatte aber noch viel mächtigere Gegner. Diese saßen im Volksbildungsministerium. Dort war auch Margot Honecker, seit 1963 als Ministerin. Sie hatte die Veröffentlichung des Buches verhindern wollen, das ihrer Auffassung von Einheitlichkeit in Erziehung und Bildung nicht entsprach. Und schon gar nicht wollte sie öffentliche Kritik an der Schulpolitik. Sie vermochte sich jedoch nicht durchzusetzen, vermutlich aus einem banalen Grund: Ulbricht wollte offenbar der Volksbildungsministerin ihre Grenzen aufzeigen und ihrem Mann Erich gleich mit, der ihm zu mächtig geworden war.

Wellm hatte seit 1963 an "Pause für Wanzka" gearbeitet und sich vom Schuldienst beurlauben lassen. Er konnte es sich leisten, da er schon einige erfolgreiche Kinderbücher geschrieben hatte. Wellm arbeitete lange an seinen Büchern, immer wieder ermutigt von Erwin Strittmatter. In den Akten der DDR-Staatssicherheit hieß es später über Wellms Bekanntschaft mit Strittmatter: "Hierzu kann gesagt werden, daß er mit diesen Kontakten gegenüber anderen Personen nicht prahlt."

Im Jahr 1967 lieferte Wellm endlich das Manuskript beim Aufbau-Verlag ab. Dort jedoch hatte man Bedenken. Vor allem der hoffnungslose Schluß durfte nicht so bleiben. Wellm schrieb also ein weiteres Kapitel, in dem ein Berliner Mathematik-Professor bei einem Test die Begabung des Konsequenten Norbert erkennt und ihn an allen Gremien vorbei auf einer Schule für Hochbegabte unterbringt. Das Kapitel wirkt wie angeklebt. Wellm wollte es so. Es paßt nicht zu der Geschlossenheit der vorausgehenden Erzählung, die eher eine Novelle als ein Roman ist. Das Buch erschien Ende 1968. Die "Deutsche Lehrerzeitung", eine Art Hauspostille von Margot Honecker, startete eine Kampagne gegen den Autor.

An Wellm gingen diese Auseinandersetzungen nicht spurlos vorüber. 1971 wurde seine Ehe geschieden. Wellm zog sich in das Güstrower Schloß zurück, wo er fortan eine Kammer bewohnte - eine Erfahrung, von der er später in seinem letzten Roman "Morisco" erzählte. "Pause für Wanzka" wurde ein großer Erfolg und erreichte in der DDR eine Auflage von einer Viertelmillion Exemplaren. Wellm wurden verschiedene Literaturpreise zugesprochen. Die Wirkung des Romans vor allem unter den Funktionären in der Volksbildung war auch noch in den siebziger Jahren derart groß, daß immer wieder der Versuch scheiterte, das Buch zu verfilmen. Frank Beyer wäre der Regisseur gewesen, Jurek Becker der Drehbuchautor. Aus dem Bildungsministerium hieß es nur: "Die im Buch propagierte Bildungskonzeption stimmt nicht mit unseren Idealen und unserer Entwicklung überein. Die Bildungsprobleme des Buches sind nicht die unserer Volksbildung."

Erst im letzten Jahr der DDR zeigte das Fernsehen eine Verfilmung von Vera Loebner mit Kurt Böwe in der Rolle des Wanzka. Das künstliche Ende des Romans wurde weggelassen. In einer tristen Schneematschlandschaft verabschiedet sich Wanzka von seinem begabten Schüler. Diese Szene hätte vermutlich erneut heftige Debatten entfacht. Aber der Film kam zu spät. Die DDR ging gerade unter und mit ihr der Film.

Schon vor "Pause für Wanzka" hatte Wellm an einem anderen Roman geschrieben. "Pugowitza oder Die goldene Schlüsseluhr" ist ebenfalls autobiographisch. Mitte der siebziger Jahre erschien das Buch, übrigens zuerst im Kinderbuchverlag, obgleich es kein Kinderbuch ist. "Morisco" kam 1987 heraus. Später sagte Wellm über das Buch, er habe sein Wende-Buch vor der Wende geschrieben. In "Morisco" ist der Ich-Erzähler ein Architekt, der seinen Aufstieg im sozialistischen Städtebau nimmt, eines Tages aber Arbeit und Ehe hinter sich läßt, um in einem Schloß zu leben, das mit bescheidenen, am Volkswirtschaftsplan vorbeigeschmuggelten Materialien gerade mühselig restauriert wird. Er überdenkt sein Leben, ohne Hoffnung, ohne Illusion.

Wellm lebte nach seinen Tagen im Schloß von 1976 an in einem denkmalgeschützten Bauernhaus in Lohmen bei Güstrow. Er war bemüht, wie seine Staatssicherheits-Akten sagen, "antiquierte Gegenstände hineinzubringen". Er durfte in den Westen reisen: "Charakterlich wird Wellm als konsequent, selbstkritisch, freundlich und verständnisvoll eingeschätzt." Die sozialistischen Lehrer aber wollten nichts mit ihm zu tun haben: "Im Lehrerkollegium der POS Lohmen wird Wellm geringgeschätzt." Zu den Zuträgern der Staatssicherheit gehörte nicht nur der Schriftsteller Joachim Wohlgemuth, der in der Nähe von Mirow lebte und unter dem Namen einer seiner Figuren "Paul Fiedler" Berichte über Wellm schrieb. Auch Dorfbewohner und die Verkäuferin im "Intershop" gaben Auskunft. Vor zwei Jahren ist Alfred Wellm gestorben. "Pause für Wanzka" gehörte zu den acht Bänden der "DDR-Bibliothek", die nach 1989 die besten Werke der DDR-Literatur noch einmal veröffentlichte.

In Mirow versucht heute ein Verein, eine Schule für musikalisch hochbegabte Kinder als Teil des Gymnasiums Carolinum aufzubauen. Das Land Mecklenburg-Vorpommern, dem das Ensemble auf der Schloßinsel gehört, kümmerte sich lange Zeit nicht um diesen Schatz. Inzwischen unterstützt es die Schulpläne. Dennoch ist die Zukunft des Projekts ungewiß. In diesen Tagen soll wenigstens damit begonnen werden, das Rondell zwischen dem Schloß und dem sogenannten Kavaliersgebäude gegenüber nach historischem Vorbild wiederherzustellen.

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