Produktdetails
  • Verlag: Lane / Penguin UK
  • Seitenzahl: 149
  • Englisch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 176g
  • ISBN-13: 9780713995848
  • Artikelnr.: 58832379
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2002

Gottseidank kein Genie
Durch Erfahrung gefärbte Vorzüglichkeit: Der gefürchtete Polemiker Christopher Hitchens verehrt George Orwell
1994 war Tony Blair zum Vorsitzenden der britischen Labour Party gewählt worden. John Major, der konservative Premierminister, schien zu ahnen, welche Gefahr den Tories drohte. Ein Jahr später attackierte er auf dem Parteitag der Konservativen in Blackpool den Erfinder von „New Labour” auf eine ebenso raffinierte wie hinterhältige Weise: „Ich denke, die Labour Party hat ,1984‘ gelesen, das Buch, in dem zum ersten Mal der Begriff ,Doublethink‘ auftaucht. Sie erinnern sich: ,Doublethink‘ bedeutet, zwei einander widersprechende Überzeugungen zur gleichen Zeit zu vertreten – und an beide zu glauben. Der Begriff stammt von einem Sozialisten. Sein Name war George Orwell. Aber eigentlich war es nicht sein Name. Es war nur sein Künstlername. Sein richtiger Name war Eric. Und sein Familienname? Richtig: sein Familienname war Blair. Eric Blair. Er änderte seinen Namen. Über den Oppositionsführer kann ich dies nicht sagen. Er hat alles andere geändert. Seine Politik. Seine Prinzipien. Seine Philosophie. Seinen Namen aber hat er, soweit ich weiß, nicht geändert.”
Es war nicht das erste Mal, dass John Major sich auf Orwell berief. Als er die konservativen Euroskeptiker 1993 beruhigen wollte, auch im europäischen Einigungsprozess werde England auf immer England bleiben, beschwor er nicht nur grüne Vorstädte, warmes Bier, unheilbare Hundenarren und Shakespeare, sondern auch „Alte Jungfern, die im Morgennebel zur Heiligen Kommunion radeln”.
George Orwell, den John Major hier zitierte, hatte am Ende seiner Memoiren aus dem Spanischen Bürgerkrieg, „Homage to Catalonia”, die Erinnerung an die Heimat und damit an ein schläfriges Land beschworen, das im Bombenhagel des kommenden Krieges bald unsanft erwachen würde. Die grünen Wiesen und die braunen Pferde, die Barken auf den kleinen Flüssen, die Männer mit den Melonen auf dem Kopf und die Tauben auf dem Trafalgar Square, die Cricketspieler, die roten Busse und die blauen Bobbies – sie alle schliefen den „tiefen, tiefen Schlaf Englands”.
Orwell dagegen, einer der wachsten und wachsamsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, hatte längst vor dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, dieses Probelaufs zum Zweiten Weltkrieg, erkannt, dass das englische Establishment und das britische Empire eine politische Epoche verkörperten, die unweigerlich zu Ende ging. England würde dafür bestraft werden, dass es in seinen Kolonien eine schamlose Politik der staatlich geplanten Unterentwicklung betrieben hatte. Und welches Überlebensrecht besaß eine Gesellschaft, in der im Juni 1940 Lady Oxford klagen konnte, in London seien jetzt die meisten Menschen gezwungen, mit ihrem Koch ins Hotel zu ziehen? Orwell reagierte mit der Bemerkung, der englische Adel werde nie zur Kenntnis nehmen, dass 99 Prozent der Bevölkerung überhaupt existierten.
Kompromisslos aus Einsicht
Das 20. Jahrhundert ist die Epoche, in welcher der Verrat der Intellektuellen zur Epidemie wurde. Als George Orwell aber in seiner Schreckensutopie „1984” die Praxis des „Doublethink” (Zwiedenk) beschrieb, sprach er über eine Haltung, wie sie ihm fremder nicht sein konnte. Es fällt schwer, im 20. Jahrhundert an einen Künstler oder Schriftsteller zu denken, der mit gleicher Geradlinigkeit den Anfechtungen der verschiedenen Totalitarismen widerstand wie George Orwell. Wenn Christopher Hitchens in seiner Hommage daher vom „Sieg Orwells” spricht, ist dieser auf den ersten Blick ein wenig pathetisch klingende Titel eine Feststellung, keine Übertreibung.
Christopher Hitchens ist ein gefürchteter Polemiker. Menschen guten Willens („The Missionary Position: Mother Teresa in Theory and Practice”) und Politiker wie Bill Clinton und Henry Kissinger gehören zu seinen Opfern. Aber so, wie sein Zorn keine Grenzen kennt, ist auch seine Verehrung grenzenlos. Dass „Orwell’s Victory”, ein dünnes aber gewichtiges Buch von gerade 150 Seiten, sich dennoch spannender liest als eine Heiligenlegende, liegt an den Gegnern Orwells. Sie attackiert Hitchens mit Spott und Wut und die meisten von ihnen, darunter Raymond Williams und Claude Simon, bleiben auf der Strecke.
Auch wenn Hitchens für einen Polemiker ein wenig zu schematisch verfährt – von den Rechten und Linken bis zu den Feministinnen und Dekonstruktivisten werden die Gegner Orwells vor das Literaturgericht seines Bewunderers zitiert und ohne Bewährung abgeurteilt – hat er ein beeindruckendes Pamphlet geschrieben. Mit Orwell wird ein Autor lebendig, dessen Weitsicht fast erschreckend anmutet und dessen kompromisslose Aufrichtigkeit wirkt als sei sie nicht von dieser Welt. In seinem brillanten Versuch zu einer Ehrenrettung Jean Paul Sartres („Le Siècle de Sartre”) kommt Bernard-Henri Lévy nicht umhin, Orwell als das Vorbild eines Intellektuellen zu zitieren, der sich auch heute noch kaum einer Zeile schämen müsste, die er einmal geschrieben hat. Es genügt, den Namen Orwell zu nennen, um deutlich zu machen, dass wir damit ein moralisches Universum betreten, das nur von einer Handvoll Intellektueller bevölkert wird, zu denen Sartre keinesfalls zählt.
Warum aber ist Orwell nicht langweilig wie die „reine, weiße, durch nichts gefärbte Vorzüglichkeit” (Fontane)? Weil er keine Haltungen verkörpert, die ihm gleichsam von Natur mitgegeben wurden, sondern weil er kompromisslos Einsichten vertritt, zu denen er sich mühsam durchgerungen hat. Orwell war kein Anti-Imperialist, als er nach Burma ging, aber vor Ort lernte er, das Empire zu verabscheuen; Orwell war kein geborener Anti-Faschist, aber die erste Bekanntschaft mit dem Faschismus genügte, um ihn von nun an vor jeder Form der Kollaboration zu schützen; Orwell wusste wenig von Stalin, doch genügten seine Erfahrungen auf Seiten der spanischen Republikaner, um ihn dem Stalinismus gegenüber auf immer immun zu machen.
War George Orwell, wie Robert Conquest 1969 in einem Gedicht schrieb, ein „moralisches Genie”? Genies wirken auf den Durchschnittsmenschen eher abschreckend: er kann sie verehren, ihnen nacheifern kann er nicht. Als moralisches Genie hätte Orwell die weitreichende Wirkung nicht erzielen können, die ihn im 20. Jahrhundert zu einem singulären Intellektuellen macht. Lionel Trilling hat die überzeugendste Erklärung für die Wirkung George Orwells gegeben. Orwell war wirksam, gerade weil er kein moralisches Genie war. Orwell wirkt bis in die Gegenwart weiter, weil er dem Leser das Gefühl vermittelt, er hätte ähnlich handeln können wie er selbst.
WOLF LEPENIES
CHRISTOPHER HITCHENS: Orwell's Victory. Allen Lane/The Penguin Press, London 2002, 150 Seiten, £ 9.99.
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