Wir erleben heute einen in der Menschheitsgeschichte einmaligen Rückgang des bäuerlichen Lebens und der ländlichen Kulturen. Die Kleinbauern geben ihre Höfe auf und ziehen in die Städte. Diese aktuelle Migrationswelle hat eine bisher wenig beachteteVorgängerin im südbündnerischen Calancatal. Seit einigen hundert Jahren sind grosse Bevölkerungsteile aus den Tälern der Alpensüdseite in die städtischen Zentren abgewandert. Als Folge des Zusammenbruchs der Berglandwirtschaft vollzieht sich ein grundlegender Landschaftswandel: Wiesen und Weiden werden wieder von Wald überwachsen, Alpwege verschwinden, Landwirtschaftsgebäude zerfallen. Doch nur in wenigen Regionen ist dieser Vorgang auf so dramatische Weise sichtbar wie im Calancatal, wo die vorliegenden Fotografien von Oliver Gemperle entstanden sind. Neben dem dokumentarischen Wert dieser Aufnahmen steht für den Fotografen im Vordergrund, dass die Bilder die Vergänglichkeit und das an sich unsichtbare Wesen der Zeit visualisieren. Das fotografische Inventar der verlassenen Orte des Calancatals lotet dadurch gekonnt die Schnittstelle zwischen Dokumentar- und Kunstfotografie aus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2010Der Triumph der geduldigen Natur
Im Zeitalter der wuchernden Neubaugebiete stehen Ruinen hoch im Kurs. Inzwischen beginnt man sich auch für das zu interessieren, was von den Behausungen einfacher Menschen übriggeblieben ist. Der Fotograf Oliver Gemperle hat diesen ein ganzes Buch gewidmet. Die Grenze zwischen Architektur- und Landschaftsfotografie überschreitend, zeigt es aufgegebene Almgebäude im Val Calanca, einem der ganz wenigen Schweizer Täler, in dem der Massentourismus noch nicht Fuß gefasst hat und entsprechend noch nicht jeder Stall in ein Wochenend-Rustico umgebaut wurde. Alle Aufnahmen sind doppelseitig und füllen das ganze Format aus, so dass nur noch eine winzige Ortsangabe Platz findet - eine Umkehr der Werte. Die Nichtinszenierung des Fotografierten scheint Programm. Ein allzu ausgeprägter Gestaltungswille stünde im Widerspruch zum Gegenstand des Buchs, nämlich der Tatsache, dass die Natur die Regie übernommen hat und sich die vom Menschen geschaffenen Formen langsam wieder einverleibt. So kann der Bildband auch als Dokumentation des Weiterschreitens der Zeit gelesen werden. Als erster Band davon zumindest. Denn die Val Calanca ist beileibe kein Sonderfall in den Alpen, wie der ansonsten brillante Begleittext nahelegt. Ein in jeder Hinsicht sperriges Weihnachtsgeschenk, mit dem man nicht jedem eine Freude machen wird.
fitz
"Calanca. Verlassene Orte in einem Alpental" von Oliver Gemperle. Benteli Verlag, Sulgen 2010, 168 Seiten, 63 doppelseitige Farbabbildungen. Gebunden, 54 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Zeitalter der wuchernden Neubaugebiete stehen Ruinen hoch im Kurs. Inzwischen beginnt man sich auch für das zu interessieren, was von den Behausungen einfacher Menschen übriggeblieben ist. Der Fotograf Oliver Gemperle hat diesen ein ganzes Buch gewidmet. Die Grenze zwischen Architektur- und Landschaftsfotografie überschreitend, zeigt es aufgegebene Almgebäude im Val Calanca, einem der ganz wenigen Schweizer Täler, in dem der Massentourismus noch nicht Fuß gefasst hat und entsprechend noch nicht jeder Stall in ein Wochenend-Rustico umgebaut wurde. Alle Aufnahmen sind doppelseitig und füllen das ganze Format aus, so dass nur noch eine winzige Ortsangabe Platz findet - eine Umkehr der Werte. Die Nichtinszenierung des Fotografierten scheint Programm. Ein allzu ausgeprägter Gestaltungswille stünde im Widerspruch zum Gegenstand des Buchs, nämlich der Tatsache, dass die Natur die Regie übernommen hat und sich die vom Menschen geschaffenen Formen langsam wieder einverleibt. So kann der Bildband auch als Dokumentation des Weiterschreitens der Zeit gelesen werden. Als erster Band davon zumindest. Denn die Val Calanca ist beileibe kein Sonderfall in den Alpen, wie der ansonsten brillante Begleittext nahelegt. Ein in jeder Hinsicht sperriges Weihnachtsgeschenk, mit dem man nicht jedem eine Freude machen wird.
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"Calanca. Verlassene Orte in einem Alpental" von Oliver Gemperle. Benteli Verlag, Sulgen 2010, 168 Seiten, 63 doppelseitige Farbabbildungen. Gebunden, 54 Euro.
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