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Produktdetails
  • Verlag: Königshausen & Neumann
  • 1994.
  • Seitenzahl: 263
  • Deutsch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 408g
  • ISBN-13: 9783884798782
  • ISBN-10: 3884798782
  • Artikelnr.: 05457654
Autorenporträt
Hans Joachim Kreutzer ist emeritierter Professor für Deutsche Philologie der Universität Regensburg und war von 1978 bis 1992 Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.1995

Gegenstrebige Fügung
Hans Joachim Kreutzer über Musik und Literatur · Von Hans Zender

Wie fast überall in der akademischen Welt sind auch im Bereich der Kunstwissenschaften interdisziplinäre Bemühungen rare Ausnahmen. Dabei muß es in einem Jahrhundert der Grenzüberschreitungen und Neudefinitionen geradezu als Voraussetzung für das Verständnis von Kunst gelten, komplexe künstlerische Erscheinungen von mehreren Seiten gleichzeitig zu betrachten. Was "Farbe" für Schönberg, was "Klang" für Kandinsky bedeutet, wäre nur von einem Kunstwissenschaftler zu klären, der sich in der Geschichte der Malerei ebensogut auskennt wie in der Musik; die Idee des Zimmermannschen Pluralismus bleibt unverständlich ohne genaue Kenntnis des Werkes Ezra Pounds; eine Cage-Interpretation ohne einige Vertrautheit mit der Mentalität des Zen wird immer unzureichend bleiben müssen.

Man wird Mühe haben, im zwanzigsten Jahrhundert bedeutende Künstler ausfindig zu machen, die sich in ihrem Denken ausschließlich auf die eigene Kunst beziehen. Was wäre Messiaën ohne die Ornithologie auf der einen, die Theologie auf der anderen Seite? Was Boulez ohne Mallarmé und René Char, Scelsi ohne Tibet und den amerikanischen abstrakten Expressionismus? Dazu kommen die Doppelbegabungen: Klee und Mark Tobey waren ausübende Musiker, Pound komponierte, Michaux ist als Dichter wie als Maler anerkannt; Arp, Picasso, Schwitters, Kagel, Schnebel. Der Katalog wird immer größer, und gerade die letztgenannten Namen weisen darauf hin, daß es nicht nur um Kontakte zwischen den fest etablierten Künsten geht, sondern auch um Zwischenfelder und Grenzbereiche, um Hybriden und Chimären.

In der Vergangenheit ist das Bild zwar nicht so verwirrend wie im zwanzigsten Jahrhundert, aber doch keineswegs so klar, wie die Wissenschaftler es gerne hätten. Nicht nur Goethe fühlte sich zumindest bis zur Mitte seines Lebens ebenso als Maler wie als Dichter; viele der romantischen Künstler kultivierten eine künstlerische Doppel- oder Mehrfachexistenz. Und von alldem abgesehen, spielen in der gesamten europäischen Musikkultur künstlerische Erscheinungen eine Rolle, welche überhaupt nicht als rein musikalische Formen erfaßt werden können: jede liturgische Musik bis hin zum Bachschen Kantatenwerk, Madrigal- und Liedkompositionen und vor allem die Oper. Wollte man dem Anspruch, den diese künstlerischen Phänomene stellen, als Wissenschaftler gerecht werden, so müßte man über eine ähnliche Komplexität an Wissen verfügen, wie sie die Künstler an schöpferischer Intuition hatten - oder man müßte systematische Teamarbeit betreiben.

Ein Buch, das mutig und mit bewundernswürdiger Genauigkeit hier ansetzt und durch seine Qualität Zeichen setzt, ist das Werk des Literaturwissenschaftlers Hans Joachim Kreutzer: "Obertöne: Literatur und Musik". Die Gefahr aller interdisziplinärer Bemühungen dürfte wohl in falschen Vereinfachungen, vorschnellen Gleichsetzungen oder verschwommener Terminologie liegen; von alledem nichts bei Kreutzer. Als Musiker muß ich ihm bescheinigen, daß er keine einzige Formulierung über Musik gebraucht, welche auf einen Fachmusiker jenen spezifischen Eindruck macht, der aus einer Mischung von Begeisterung für Musik und unzureichendem Wissen davon resultiert. Die Musik ist ja, nach Mendelssohns Diktum, präziser als die Wortsprache und nicht etwa, wie es die romantische Gefühlsästhetik uns weismachen will, unterhalb der Bewußtheit des logischen Denkens angesiedelt; an diesem Faktum scheitern so manche Bemühungen, über Musik zu sprechen.

Kreutzer muß wohl ein heimlicher Musiker sein oder wirklich hervorragende Berater gehabt haben, denn bei ihm ist alles hieb- und stichfest. Er bringt dann aber auch als Literaturkundiger für seine Themen eine Fülle von Kenntnissen mit, die ein Musiker normalerweise nicht hat; damit bereichert er nicht nur unser Detailwissen, sondern er gibt eine Anleitung, die Gebäude der abendländischen Künste in einer größeren strukturellen Tiefe zu erforschen, als es die säuberlich getrennten Kunstwissenschaften bisher leisteten.

Kreutzer betrachtet das Verhältnis von Literatur und Musik zwischen der Zeit Bachs und der Moderne. Dabei tastet er sich auf zwei verschiedenen Wegen vorwärts: Einerseits untersucht er die von Musikern verwendete Literatur; so die Kantatentexte Bachs, die Libretti der Mozart-Opern, die von Schubert vertonte Lyrik, schließlich die von Ingeborg Bachmann für Henze hergestellte Fassung des "Prinzen von Homburg". Andererseits forscht er nach den vielfältigen Spuren, welche Musik in der Literatur hinterlassen hat - Mörikes Mozart-Novelle ist hier ein besonders liebevoll ausgebreitetes Musterbeispiel.

Natürlich kann es sich immer nur um eine Auswahl handeln; immerhin kann der Leser spannende "Feedbacks" zwischen den Künsten nachvollziehen, wie etwa die Begeisterung Klopstocks über den Händelschen "Messias", die in einer eigenen Übersetzung des englischen Originals kulminierte, welche wiederum die Händel-Rezeption in Deutschland entscheidend beeinflußte; oder die Vorliebe Schuberts für unter Literaten als "mittelmäßig" geltende Poeten, welche in einem seltsamen Spannungsverhältnis zu seiner hochbewußten Auswahl großer Lyrik, vor allem der Goethes, steht, aber wiederum - durch die Wirkungsgeschichte des Schubertschen Liedwerks - den betreffenden Dichtern eine postume Bedeutung beschert hat, welche zeigt, daß die Künste nicht nur durch ihre internen Kriterien erfaßt werden können - bestes Beispiel ist Wilhelm Müller, der Dichter der "Winterreise".

Spätestens hier beginnt der faszinierte Leser sich zu fragen, warum der so vielseitig orientierte Kreutzer seinen Fleiß immer wieder auf die Gebiete konzentriert, die schon so oft und gründlich beackert worden sind, anstatt ihn auf bisher entschieden vernachlässigte Stellen zu richten. Es gibt kaum Werke des zwanzigsten Jahrhunderts, welche die Musik so verändert haben wie Weberns beide Kantaten und sein "Augenlicht". Was sagt ein Literaturkundiger zu der Dichterin Hildegard Jones, die nach Weberns eigenem Ausspruch alles in Sprache gefaßt hat, was der Musiker Webern vor seinem geistigen Auge sah? Was bedeutet die Erfindung des Schönbergschen Sprechgesangs für das gegenseitige Verhältnis von Literatur und Musik - da doch hier das Wort nicht vollständig von der Nachbarkunst aufgesogen wird, sondern seine Eigenkraft ungeschmälert mit der der Musik messen kann, wodurch im Kern so etwas wie eine "multimediale" Welt entsteht? Wie wiederum verhält sich der - Schönberg entgegenlaufende - sprachzerstückelnde, in Nonos Punktualismus gipfelnde Umgang mit dem Wort zu den Strömungen der experimentellen Literatur?

Henze/Bachmanns "Prinz" in Ehren, aber ist das Verhältnis der großen kompositorischen Neuerer dieses Jahrhunderts zur Literatur wirklich schon geklärt? Bergs zu Büchner und Wedekind; Strawinskys zu Gide, Ramuz, Auden; Zimmermanns zu Lenz; Feldmans zu Beckett? Mozarts Spuren in der Trivialliteratur sind sicherlich reizvoll, aber wie wäre es einmal damit, die Spuren von Trivialmusik (etwa Sullivan oder Flotows "Martha") im "Ulysses" von James Joyce aufzusuchen? Hier macht Kreutzers Buch Appetit auf Fortsetzung.

Im Zentrum des Buches steht ein Essay über Hölderlin und die Musik. Kreutzer gelingt der Nachweis eines auf den ersten Blick verblüffenden Paradoxons: Hölderlin war zwar - als Klavierspieler und noch mehr auf der Flöte - ein offenbar hervorragend ausgebildeter Musiker; in seinem Werk aber finden sich keinerlei Erwähnungen großer Komponisten oder charakteristischer Musikformen der eigenen Zeit. Gleichzeitig hallen insbesondere seine hymnischen Dichtungen wider von Vokabeln, die nicht die Bilder der sichtbaren Dinge, sondern den Klang, den Gesang, die Harmonie, das Tönen der Welt evozieren. Kreutzer stellt die kühne These auf, Hölderlins Musikvorstellung sei so tief gewesen, daß sie sich mit der individualistischen Ausdrucksmusik seiner Zeit nicht begnügen konnte, sondern die Musik als ein geistiges Schwingen begriff, das in der antiken Vorstellung der Sphärenharmonie einst einen gültigen Ausdruck gefunden hatte.

Dabei stößt Kreutzer auf ein interessantes Problem. Bis zur Zeit der späten hymnischen Entwürfe - also des Homburger Folioheftes - scheint Hölderlin eine Vorstellung von "Harmonie" gehabt zu haben, welche im großen und ganzen jener der deutschen Klassik entsprach; danach jedoch zerbricht diese irgendwie "symmetrische", auf Ausgleich bedachte (der Musiker würde sagen: alles in Konsonanzen auflösende) Harmonie unter dem Ansturm einer zermalmenden Existenzerfahrung. Der Ton der späten Hymnen wird immer orgiastischer, von Vernunft und sprachlicher Logik kaum mehr entschlüsselbar. Kreutzer, der ein sicheres Gefühl für die einzigartige Tiefe gerade der späten Entwürfe hat, sucht nach dem philosophischen Paradigma für diese Dichtungen und ist auch auf der richtigen Spur: Heraklit.

Er scheint aber gerade jenes der Heraklitschen Fragmente nicht zu kennen, das seine eigenen Gedanken in erstaunlicher Weise bestätigt: "Harmonia palintonos", die Harmonie ist eine gegenstrebige Fügung "wie die von Bogen und Leier"; die "Harmonie der Welt" enthüllt sich als die existentielle Spannung zwischen Leben und Tod, zwischen Konstruktion und Destruktion; und genau in dieser veränderten Harmonievorstellung nehmen die späten Hymnen eine Vorstellung von Musik voraus, welche erst von den großen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts realisiert worden ist.

Kreutzers Buch setzt Maßstäbe, aber es eröffnet vor allem neue Perspektiven: nämlich interdisziplinäre Dialoge ernsthaft zu beginnen, und zwar auf dem vom Verfasser etablierten Niveau. Außerdem rufen die von Kreutzer beleuchteten geschichtlichen Einzelpunkte nach einer Zusammenschau des Verhältnisses von Literatur und Musik in der europäischen Tradition, wobei der Frage nicht mehr ausgewichen werden kann: Inwieweit ist die strikte Trennung der beiden Künste für ein forschendes Verstehen überhaupt sinnvoll, da die übergreifenden Phänomene womöglich wichtiger sind als die sich gegeneinander abgrenzenden. - Dieses Buch ist für alle Kunstfreunde interessant und gehört in die Bibliothek jedes Musik- und Literaturwissenschaftlers.

Hans Joachim Kreutzer: "Obertöne: Literatur und Musik". Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1995. 263 S., br., 48,- DM.

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