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Der Vater: ein glühender Bolschewik der ersten Stunde. Der Sohn: ein Dissident, der mit seiner Frau nach Israel emigrieren will. Die Geschichte der Familie Slepak spiegelt die tragische Geschichte der russischen Juden in diesem Jahrhundert. "Eine ergreifende Familienchronik und eine Nachhilfestunde in russischer Revolution." (Focus)

Produktbeschreibung
Der Vater: ein glühender Bolschewik der ersten Stunde. Der Sohn: ein Dissident, der mit seiner Frau nach Israel emigrieren will. Die Geschichte der Familie Slepak spiegelt die tragische Geschichte der russischen Juden in diesem Jahrhundert. "Eine ergreifende Familienchronik und eine Nachhilfestunde in russischer Revolution." (Focus)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.1999

Rettung vor der Hinrichtung
Chaim Potok erzählt von den "Novembernächten"

Zivilcourage, die physische und psychische Kraft, einem fanatischen Mob, einer brutalen Staatsmacht die Stirn zu bieten, noch dazu einer so heimtückischen wie der sowjetischen, ist eine bewundernswerte Fähigkeit. Von ihr erzählt Chaim Potoks düstere Dokumentar-Epopöe, sit venia verbo. Es ist die Geschichte Tausender russisch-jüdischer Refjusniks, die es gewagt haben, eines der repressivsten Systeme der Welt herauszufordern, eine Tat, für die sie mit bitteren Leiden zu bezahlen hatten, die aber nachweislich dazu beigetragen hat, die Gewaltherrschaft zu brechen und zu stürzen.

Dazu mußte der Chronist weit ausholen. Ohne den virulenten Judenhaß der Russen, die Einpferchung von Millionen Juden in den Ansiedlungsrayon, einen relativ engen Gebietsstreifen im Westen des Zarenreiches, die blutigen Pogrome um die Jahrhundertwende, die einen Massenexodus nach Westeuropa und Amerika zur Folge hatten, ist alles Folgende nicht zu verstehen, die große Hoffnung vieler Juden auf die Revolution, ihre Beteiligung an der Machtübernahme durch die Bolschewiken, ihre starke Präsenz in der sowjetischen Führungsschicht, die ihrerseits den Antisemitismus der unterdrückten Bevölkerung nur noch schürte. Deswegen widmet Potok auch ein Viertel seines Buches der Geschichte des Vaters der Slepak-Familie, die stellvertretend für alle Dissidenten steht, denen er ein Denkmal setzen will.

Die Biographie Solomons, des ersten Slepak, ist allein schon ein atemberaubender Abenteuerroman. Vaterlos, in bitterer Armut aufgewachsen, reißt er schon als Dreizehnjähriger aus, schlägt, bettelt, arbeitet sich nach Polen, Deutschland, Paris und schließlich nach Brooklyn durch, wo damals so viele seinesgleichen in den dürftigsten Verhältnissen lebten und sich in den Schinderfabriken, den berüchtigten "Sweatshops", ihr Leben schwer erschufteten.

Kein Wunder, daß der junge Mann sich radikalisiert, sich der revolutionären Bewegung anschließt, bei der Nachricht vom bolschewistischen Umsturz über Kanada und Ostasien in seine Heimat zurückkehrt und in Sibirien den Kampf gegen die Feinde der Revolution aufnimmt. Er wird von der Weißen Armee gefaßt, zum Tode verurteilt, am Tag vor seiner Hinrichtung unerklärlicherweise zu lebenslänglicher Zwangsarbeit amnestiert. Er organisiert die Strafgefangenen, bricht aus, sammelt weitere Mannschaften, stößt auf andere revolutionäre Truppen, beseitigt deren Befehlshaber und wird zum bolschewistischen Kommandeur eines riesigen sibirischen Gebiets. Nach dem Sieg und der Konsolidierung der kommunistischen Herrschaft wird er durch hohe Posten belohnt, unter anderen als Diplomat in China, wo sein Sohn Wolodja zur Welt kommt.

Diese Vorgeschichte ist wichtig, um zu verstehen, daß Wolodja, von dem der Rest des Buches handelt, als Kind eines fanatischen Gläubigen an die kommunistische Heilslehre und der sowjetischen Oberschicht aufwächst, die beste Ausbildung genießt. Sein späteres Dissidententum kann sich so nur sehr langsam unter inneren Widerständen entwickeln, da es sich nicht nur gegen die monströse Regierung, sondern auch gegen den eigenen Vater richtet.

Wolodja und Mascha Slepak, die den Arztberuf ergreift, wachsen in einem atheistischen Staat auf, ohne Kenntnis der jüdischen Tradition, die verpönt ist. Judentum spielt in ihrem Leben nur eine negative Rolle als hemmendes Element in ihren Karrieren. Vorzüglich ausgebildet, wie sie sind, finden sie aber immer noch gute Positionen. Der relativ hohe Lebensstandard ist Voraussetzung für ihre geistige Entwicklung, für ihre Fähigkeit, Radios so zu verändern, daß sie ausländische Sendungen hören, Nachrichten über stalinistische "Säuberungen" und Massenmorde bekommen, von denen die Durchschnittsbürger nichts wissen oder auch nichts wissen wollen, mit vertrauten Freunden Sommerferien in abgelegenen Gebieten zu verbringen, wo Meinungsaustausch und Gespräche ohne Furcht vor Entdeckung möglich sind.

Langsam wächst die Einsicht heran, in einem verbrecherischen Staat zu leben, und ebenso allmählich das immer weniger abweisbare Bewußtsein der eigenen jüdischen Identität. Endlich kommen die aufgestauten Emotionen zum Ausbruch, es kommt zum radikalen Zerwürfnis mit dem Vater und, was noch schwerer wiegt, mit dem Staat: Sie beantragen ein Ausreisevisum nach Israel, ein Entschluß, der ihr Leben und das ihrer Kinder von Grund auf ändern wird.

Mit minutiöser Akribie beschreibt Chaim Potok den jahrzehntelangen Leidensweg, der auf diesen ersten schicksalsschweren Schritt folgt, den Verlust der Arbeit, die bürokratischen Schikanen, die Verhaftungen und Verprügelungen, die Schwierigkeiten, die den Söhnen daraus erwachsen, das Pariatum, in das die Familie gerät, die Demonstrationen, die dauernde Bewachung und Beschattung, die Brutalität des KGB, die erzwungene Trennung von den Kindern, aber auch das Anwachsen der Dissidentenbewegung, die Aufmerksamkeit des Auslands, die moralische und materielle Hilfe von Menschen vieler Länder, den sich allmählich einstellenden Einfluß auf die hohe Politik, die Stärkung des Selbstbewußtseins, des jüdischen Zugehörigkeitsgefühls, die ungeahnten Kräfte, die aus dem Inneren kommen, die Unbeugsamkeit, die volle Menschwerdung.

Nach Jahren eines Leben in der Marginalität geschieht das Unvermeidbare: Verhaftung, Prozeß, Verurteilung, Verbannung, Transport in die unwirtlichste Ecke Sibiriens. Die Schilderungen des Elends, der Krankheiten, der Entbehrungen, der Qualen, der Zwangsarbeit, die Wolodja wahrscheinlich ohne die Treue seiner Frau, die sein Exil freiwillig teilte, nicht überlebt hätte, sind in ihrer Kraft und Anschaulichkeit eines Dostojewskij würdig. Geschwächt, aber ungebrochen kehren die beiden Menschen nach abgebüßter "Strafe", nicht für irgendein Verbrechen, sondern lediglich für den elementaren Wunsch, an einem Ort ihrer Wahl zu leben, nach Moskau zurück. Noch Jahre wird es dauern, und dann kommt, längst nicht mehr erhofft, die ersehnte Ausreiseerlaubnis.

Es ist ein großes Verdienst Potoks, daß er das Israel, in dem die Slepaks heute leben, und das Amerika, in dem er selbst lebt, nicht als Paradies darstellt, sondern als problematische Gesellschaften. Um so heller leuchtet sein musterhafter Bericht eines Kämpfers gegen Unrecht und für Menschenwürde, ein Buch nicht nur für deutsche Leser, die darin mutatis mutandis die Geschichte ihres eigenen Landes gespiegelt finden werden, sondern für jeden, der wissen will, daß man sich auch einer schlimmen Gewalt widersetzen kann. EGON SCHWARZ

Chaim Potok: "Novembernächte. Die Geschichte der Familie Slepak". Aus dem Amerikanischen von Gabriele Pauer. Paul Zsolnay Verlag, Wien, München 1998. 389 S., geb., 45,- DM.

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