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Die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche standen am Beginn der "friedlichen Revolution" von 1989. In Leipzig spielt auch dieser Roman Erich Loests. Er erzählt von einer Familie, deren Mitglieder unterschiedlicher politischer Auffassung sind: Der Vater, inzwischen verstorben, war General der Volkspolizei, der Sohn bekämpft als Offizier der Staatssicherheit die oppositionellen Kräfte der Stadt, die Tochter engagiert sich in der kirchlichen Friedensbewegung und wird aus der SED ausgeschlossen. Die Handlung des Romans führt auch zurück in die Vergangenheit, in die dreißiger, fünfziger und…mehr

Produktbeschreibung
Die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche standen am Beginn der "friedlichen Revolution" von 1989. In Leipzig spielt auch dieser Roman Erich Loests. Er erzählt von einer Familie, deren Mitglieder unterschiedlicher politischer Auffassung sind: Der Vater, inzwischen verstorben, war General der Volkspolizei, der Sohn bekämpft als Offizier der Staatssicherheit die oppositionellen Kräfte der Stadt, die Tochter engagiert sich in der kirchlichen Friedensbewegung und wird aus der SED ausgeschlossen. Die Handlung des Romans führt auch zurück in die Vergangenheit, in die dreißiger, fünfziger und sechziger Jahre, denn das, was 1989 geschah, hat damals seinen Ursprung.
Autorenporträt
Erich Loest, 1926 in Mittweida (Sachsen) geboren, war 1944/45 Soldat, danach Hilfsarbeiter, später bei der "Leipziger Volkszeitung". Seit 1950 freischaffender Schriftsteller, 1957 aus politischen Gründen verhaftet und zu einer siebenjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. 1981 verließ er die DDR und gründete im Dezember 1989 den Linden-Verlag, Leipzig. Er lebte in Leipzig. 2009 wurde Erich Loest mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet und 2010 mit dem Kulturgroschen für sein herausragendes kulturpolitisches und schriftstellerisches Engagement. Der Autor verstarb im September 2013.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.1995

Kirchenschwester, Stasi-Bruder
Ohne Gewähr: Erich Loests "Nikolaikirche" schreibt Geschichte

Als am 9. Oktober 1989 in Leipzig 70000 Menschen aus dem Windschatten ihres DDR-Daseins traten, saß Erich Loest in Bad Godesberg am Fernseher und mochte sich gesagt haben: Daß ich das noch erleben darf! Im Jahr 1981 war er aus der DDR ausgereist, was für ihn hieß, er mußte Leipzig verlassen. Er werde immer über diese Stadt schreiben, hatte er im Westen erklärt, wo er 1984 auch seinen großen Leipzig-Roman "Völkerschlachtdenkmal" veröffentlichte. Ein Völkerschlachtdenkmal in Kerzenform war dann auch ein rührendes Geschenk, das Loest in Leipzig gemacht wurde, als er endlich wieder einreisen durfte. Der es ihm überreichte, war IM gewesen. Noch im Dezember 1989 mischte sich Erich Loest unter die Montagsdemonstranten, und der Lokalpresse erklärte er: "Die Stoffe liegen doch auf der Straße."

Ob er schon damals daran dachte, die Geschichte dieser Herbstrevolution einmal aufzuschreiben, weiß man nicht. Vorerst erwartete ihn eine ganze Bibliothek von Stasi-Akten, die über ihn angelegt worden waren. Diese Lektüre mag eine Ursache dafür gewesen sein, daß er seinen Roman über die Herbstrevolution, den er dann doch schrieb, nun in weiten Strecken aus der Sicht der Stasi erzählt hat.

Konrad Weiß hat ihm deshalb schon vorgeworfen, der Titel "Nikolaikirche" sei irreführend, denn die Opposition, die sich seit 1982 dort zu den montäglichen Friedensgebeten sammelte, bliebe konturenlos. Statt dessen macht sich über zu viele Seiten ein gewisser Bacher breit. Wie es dieser Stasi-Hauptmann fertigbringt, die Liebe der jungen, in einer kirchlichen Umweltgruppe engagierten Französischdozentin Claudia Engelmann zu entfachen, bleibt eines der vielen Geheimnisse der konstruierten Handlung. Denn Bachers Charme hat nicht viele Worte: "Was trinkst du, einen Weißen aus Bulgarien oder einen rumänischen Roten? Natürlich hab ich Korn da und dieses Gesöff aus Neubrandenburg, Torwächter." Mit dieser Sprechblase wollte sich Erich Loest vielleicht als Kenner des DDR-Alltags ausweisen. Als solcher hatte er sich 1978 in seinem Roman "Es geht seinen Gang" bewiesen. Eine "Verzerrung der Wirklichkeit" war ihm damals von staatstreuen Kritikern vorgeworfen worden. Tatsächlich gibt es jedoch kein bis ins Detail stimmigeres Buch über die DDR der siebziger Jahre.

Zwanzig Jahre später gab es Ananas in Büchsen in sogenannten Delikatläden kaufen konnte. Und "Schinkenröllchen mit Meerrettich", wie Loest in seinem neuen Roman wiederum treffend beschrieben hat. Es ging seinen Gang mit der DDR. Doch daß es manche Bürger bis zu einem VW Golf und zwei Farbfernsehern gebracht hatten und dennoch ausreisen wollten, mochte der Autor so nicht stehenlassen. Es stand aber so im offenen Brief eines Ausreisewilligen, der sich im Mai 1988 an die "Zweckgemeinde" der Leipziger Nikolaikirche wandte, um sich selbst als "Anpasser" anzuklagen und doch auch Hilfe zu erbitten. Wie andere Dokumente auch hat Loest dieses Zeitzeugnis in seinem Roman eingearbeitet. Doch den VW Golf und einen von zwei Farbfernsehern ließ er weg.

Diese kleine künstlerische Freiheit ist bezeichnend für das Bild, das Erich Loest von der DDR-Gesellschaft der achtziger Jahre entwirft, die er nicht mehr aus eigenem Erleben kannte. Er macht sie ärmer, als sie war. Das trifft nicht nur für das "Schmalzfleisch aus bundesdeutscher Staatsreserve" zu, das es im HO-Laden auf Zuteilung gegeben haben mag, aber vom "blanken Gold" für "einen Leipziger Winter" konnte deshalb anno 1988 nicht die Rede sein. Die DDR-Bürger waren satt, als sie die DDR satt hatten. Sie bildeten auch ein komplizierteres Allgemeinwesen, als es Loest in seiner Familiengeschichte in Szene setzte.

Der Bruder Stasi-Hauptmann, die Schwester in der Kirchengruppe, ein Sohn bei der Bereitschaftspolizei, eine Tochter im Abrißhaus bei den Aussteigern - alle dabei. Doch die Hauptfigur der achtziger Jahre, die in Zehntausenden Leipziger Familien vorkam, taucht in Loests Besetzung nur als Schemen auf: der "Antragsteller auf Ausreise in die BRD". Ohne die Ausreisewelle jedoch wäre das trotzige "Wir bleiben hier!" nicht zustande gekommen, das zuerst zur Plattform einiger weniger in den kirchlichen Basisgruppen wurde und dann am 9. Oktober in Leipzig von Zehntausenden skandiert wurde.

Diesen historischen Augenblick gestaltet Loest in einem Showdown, in dem er noch einmal alle handelnden Personen aufblendet, die erfundenen wie die stark an realen Vorbildern angelehnten. Wiederum montiert er Dokumente in seine Prosa wie etwa die Lageberichte der Volkspolizei, die als "Direktschaltungen" mit O-Tönen aus den Kirchen, die so nicht möglich waren, ins Stasi-Hauptquartier übertragen werden. Aus dem Off ertönt der berühmt gewordene Aufruf von sechs Leipziger Prominenten, der damals als Endlosschleife über den Stadtfunk gesendet wurde. Einen Stasi-General erinnert das an die Petition einiger DDR-Schriftsteller gegen die Biermann-Ausbürgerung.

Doch was empfanden die befreit und doch führungslos dahinmarschierenden Massen, als ihnen immer wieder Gewandhauskapellmeister Masur aus den Lautsprechern versicherte, daß man sich mit ganzer Kraft und Autorität für den "freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus" einsetzen werde? Wuchs ihnen da nicht ein Moderator zu, ehe die Opposition, die irgendwo in den Reihen mitmarschierte, überhaupt zu den Massen gesprochen hatte? Loest macht kaum von seinem Phantasie-Recht Gebrauch, jenen historischen Moment, der reich an gegensätzlichen Empfindungen war und bis heute geblieben ist, tiefer zu erhellen. Immerhin läßt er Rechtsanwalt Schnuck, dessen reales Vorbild der IM-Bürgerrechtler und spätere Vorsitzende des "Demokratischen Aufbruchs" Wolfgang Schnur ist, noch am Abend des 9. Oktober in der Leipziger Stasi-Zentrale vorstellig werden. "Kann ich bei Ihnen die ,Tagesthemen' sehen?" fragt er den Stasi-General lax, nachdem der endlich ahnt, welchen Sendboten er da vor sich hat.

Die Szene ist frei erfunden. Doch ähnlich mysteriös, nur eben authentisch liest sich die Abschlußmeldung des Lageberichts der Polizei, die Loest nicht in sein Szenario aufnahm. Sie konstatierte gegen 20.27 Uhr die "Auflösung des Demo-Zuges" und schätzte ein, daß sich das Dialog-Versprechen, das über den Stadtfunk verbreitet wurde, als "wirksam" erwiesen habe. Wie dieser Aufruf, an dem ein IM mitwirkte, nun wirklich zustande gekommen war, hat auch Erich Loest nicht herausgefunden.

Wäre das seine Aufgabe gewesen? Als Romancier nicht. Doch da er sich darauf einließ, seinem Roman halbauthentischen Charakter zu verleihen, wofür er dokumentarisches Material einbaute, muß man sein Buch schon anhand der Quellen gegenlesen dürfen. Da stellt sich dann heraus, daß Loest so manche Klippe umschiffte, die von den Historikern erst noch kartographiert werden will. SIEGFRIED STADLER

Erich Loest: "Nikolaikirche". Roman. Linden-Verlag, Leipzig 1995. 528 Seiten, geb., 48,- DM.

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