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Night Train ist die kompakt konstruierte, düster-romantische Geschichte von der polizeilichen Ermittlung eines Selbstmords; sie fügt sich den Gesetzen des Detektivromans und dringt zugleich tief in die Fragen der menschlichen Motivation vor.

Produktbeschreibung
Night Train ist die kompakt konstruierte, düster-romantische Geschichte von der polizeilichen Ermittlung eines Selbstmords; sie fügt sich den Gesetzen des Detektivromans und dringt zugleich tief in die Fragen der menschlichen Motivation vor.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2000

Falsche Fragen
Ein Junge gibt sich auf
Nichts ist in Ordnung, aber alles geht seinen Gang. Mag sein, dass ein junger Mann, gerade mal achtzehn Jahre alt, nachts von einem Zug überfahren worden ist oder sich vielleicht sogar vor diesen Zug geworfen hat, dann fällt womöglich eine Party aus, aber mehr wird nicht passieren, weil mehr wahrscheinlich gar nicht passieren darf.
Night train erzählt eine düstere Geschichte; sie beginnt mit einem Begräbnis und erzählt im Rückblick, was den Helden in den Tod getrieben hat. Luke ist eigenbrötlerisch, aber auch einfühlsam. Er könnte viel erreichen und wirft anscheinend alles weg: sein Talent, seine Gedichte, die teure Ausbildung an Privatschulen. Niemand, am wenigsten er selbst, versteht warum. Er provoziert, er beschimpft einen Lehrer, von dem jeder weiß, dass er ein „Dreckschwein” ist, und wird von zwei Schulen verwiesen. Ist er also der Held des Tages oder nur ein Dummkopf? Luke hat niemanden, mit dem er reden kann. Nicht mit Cora, der Freundin, die ihn manchmal verleugnet, weil sie ihn strapaziös findet; nicht mit seinem Vater, der sich von seinem Sohn abgewandt hat und nicht mehr mit ihm spricht. Er weiß nur, dass ihn alle bei seinem Absturz beobachten: ein paar gehässige Lehrer, und eine Familie, die ratlos beim Abendessen sitzt.
Judith Clarke macht es dem Leser nicht leicht; sie bietet Luke nicht als armes Opfer und damit als billige Identifikationsfigur an. Dieser Junge ist schwierig – und diejenigen, mit denen er zusammenstößt, haben Gründe für ihr Verhalten. Aber sie machen sich die falschen Sorgen und stellen die falschen Fragen. Das macht den Roman so abgründig. Lehrer und Eltern wollen, dass der Junge funktioniert. Aber braucht man wirklich nur die, die einen Parcours von Prüfungen absolvieren, um später dann Belohnungen für ihre Leistungen einzustreichen? Was ist mit denen, die wenigstens einmal, koste es was es wolle, jemand anderem, womöglich jemand stärkerem unverhohlen ihre Meinung sagen? Luke hat sich für letzteres entschieden und danach aus Scham über die Folgen seinem Vater nicht mehr in die Augen sehen können. Er hat – vielleicht nur ein dummer Zufall – nie erfahren, dass er unter den ehemaligen Mitschülern daraufhin wie eine „Legende” angesehen wurde. Aber von da an ist alles zu spät. Still und leise rutscht er ab, macht sich die Zweifel seiner Umgebung immer mehr zu eigen und sucht nach einem einzigen Zeichen dafür, dass er kein Versager mit gestörter Wahrnehmung ist. In dem Moment aber, in dem er den Beweis dafür erhält, dass er Recht hat, ist er fast schon tot. (ab 13 Jahre)
MICHAEL SCHMITT
JUDITH CLARKE: Night train. Aus dem Englischen von Salah Naoura. Klopp Verlag 1999. 180 Seiten, 19,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Des Teufels Nachtzug
Martin Amis seziert ein schwarzes Loch / Von Martin Halter

Wenn Engel, mit "Schluchzscannern und Heuldetektoren" ausgerüstet, über die Städte flögen, würden sie überall Männer aufspüren, die im Schlaf weinen: So traurig begann Martin Amis' letzter Roman "Information", und so deprimierend enden alle seine Geschichten. Die Erde ist ein kalter Planet, der durch ein leeres All torkelt, in dem jede bessere menschliche Regung erfriert. Die Geschichte der Kosmogonie, auch das war eine Information Amis', ist eine fortschreitende Erniedrigung. Nur schlechte Schriftsteller machen das Universum kleiner als es ist. Die anderen halten seine Größe und Unbarmherzigkeit aus.

"Es wäre vielleicht hilfreich, wenn wir wüßten, woraus wir sind, was uns in die Lage versetzt weiterzumachen und wohin wir zurückkehren werden": Amis verweigert die Antwort auf die Fragen, die er stellt. Darin gleicht er dem Satan der schwarzen Romantik, der nur ein höhnisches Gelächter für die winselnden Kreaturen übrig hatte. In Amis' Romanen irren transzendental Obdachlose, Junkies, manisch-depressive Mörder und Selbstmörder auf der Suche nach Trabanten, Frauen und dem verlorenen Paradies durch Straßenschluchten und Designerwohnungen. Und finden sie auch ein Bett, dann reiben sie sich in sexuellen, physischen und literarischen Zweikämpfen auf und pumpen sich in ihrer Verzweiflung - triumphieren doch meistens die Schurken und Dummköpfe - mit Drogen, Hormonen und Zynismus voll.

Wenn der Roman "Information", die Satire auf die Hahnenkämpfe des Literaturbetriebs, so viel schwarzgallige Melancholie verströmte, muß ein Buch wie "Night Train", das alle Anforderungen eines Kriminalromans erfüllt, ohne einer zu sein, ein literarischer film noir sein. Mike Hoolihan ist trotz ihres Namens kein Mann. Aber der vom Leben und Alkohol gezeichneten Mittvierzigerin - "grobes blondes Haar, Boxertitten und blasse blaue Augen im Kopf, die alles schon gesehen haben" - ist nichts Männliches fremd. Nur ihr Instinkt ist weiblich. Sie sieht aus wie eine russische Lastwagenfahrerin, und sie hat die breiten Schultern, die nikotindunkle Stimme und die Denkungsart eines Mannes. Polizisten sind ihre Familie, und das einzige, woran sie glaubt, sind Zoten und rauhe Stammesriten.

Mike Hoolihan ist kein Cop, sondern "Polizist". Das unterscheidet sie von den nicht minder tough auftretenden Detektivinnen, mit denen Mystery-Ladies wie Sara Paretsky, Linda Barnes oder Sue Grafton die Männerdomäne des hard boiled-Krimis dem Feminismus erschlossen. Außerdem ist das Mannweib eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Jeder Nachtzug, der durch ihre Träume rumpelt, ob in der Blues- oder Soulversion oder auf Schienen, erinnert sie an die Stunden, als sie Alkoholikerin auf Entzug war und sich ihre Liebhaber wahllos von der Straße auflas. Jetzt hat sie sich leidlich erholt, auch dank Tobe, der dumpf neben ihr lebt. Verbrechen können sie nicht erschüttern. Im Gegenteil, das Wühlen in Schmutz und Niedertracht gibt ihr Kraft zum Überleben. Ihre moralischen Ansprüche sind "verzweifelt bescheiden". Mike hat alles gesehen, Mörder und Selbstmörder, Amokläufer und Kinderschänder. Selbstmord ist "eine dreckige konfuse Sache" - und übermenschlich groß. Morde brauchen keine Motive (Motive gibt es nur im Fernsehen), aber Selbstmorde.

Jennifer Rockwells Selbstmord wird Mikes schwerste Prüfung werden. Es ist ein acte gratuit, ohne Motiv und mit beispielloser Brutalität am eigenen Leib exekutiert. Jennifer war die Tochter von Mikes Vorgesetztem und Ersatzvater Colonel Tom, nah wie eine verlorene Schwester und fern wie eine unbekannte Galaxie: schön, beliebt und begehrt, erfolgreich als Astrophysikerin und Ehefrau. Sie hatte Stil, Intelligenz, Humor und ein "Talent zum Glücklichsein", und wenn sie an etwas litt, dann allenfalls am "Paradiessyndrom" oder an "mentaler Hypochondrie".

Doch sie schoß sich drei Kugeln in den Kopf, und als wäre diese Selbstzerstörung nicht rätselhaft genug, hinterließ sie verschlüsselte Botschaften, als wollte sie die ohnehin labile Mike verstören. Wie Nicola Six, die jungfräuliche Kassandra aus Amis' apokalyptischem Roman "1999", inszenierte sie ihren Selbstmord als Mord, um die Nachwelt ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht zu überführen. Die Aufklärung des Falles erschüttert Mike Hoolihan nicht nur in ihrem Berufsethos, sondern auch in ihrem existentiellen Kern.

Jennifer war so perfekt, daß ihr Leben - und ihr Tod - wie eine Provokation für die Schwester erscheinen muß: Sie besaß einen schönen Körper, hatte einen richtigen Liebhaber, einen verständnisvollen Vater, Freunde und Freude an ihrem Beruf. Mike besitzt nichts von alledem. Eifersucht, Neid und latenter Haß beflügeln ihre Ermittlungen, und sie findet in Verhören Indizien, die Jennifers Selbstmord in einem anderen Licht erscheinen lassen: Die Mustergattin hatte sich kurz vor ihrem Tod einem Lackaffen an den Hals geworfen, die Wissenschaftlerin ein wichtiges Experiment verpfuscht und das vor Gesundheit strotzende Glückskind aus Angst vor einer Psychose Lithium geschluckt. So weit wäre "Night Train" ein konventioneller Desillusionsroman: die Geschichte von den bröckelnden Fassaden des Glücks.

Aber Amis geht weiter. Alle Spuren und Hypothesen, die Jennifers Selbstmord - oder war es Mord? - erklären könnten, sind falsch: Finten, irreführende Fährten, raffinierte Köder, vielleicht Selbsttäuschungen oder Lügen. Dem Versteckspiel des Opfers entspricht die notorische Unzuverlässigkeit der Erzählerin. Alle Spuren führen ins Nichts, alle Fingerzeige ins Leere. Als der Fall geklärt scheint, steht Mike erneut am Nullpunkt. Der Selbstmord bleibt unerklärlich, ein Stachel im Fleisch der "Polizei", an dem Detective Hoolihan zugrunde gehen wird.

In fast jedem Roman von Martin Amis gibt es Zweikämpfe auf Leben und Tod, und oft enden sie mit dem Selbstmord des Unterlegenen. In "Information" war das Duell zwischen einem Hans im Glück des Literaturbetriebs und seinem tolpatschigen, erfolglosen Rivalen eine Schmierenkomödie. Dieses Mal hat niemand Grund zum Lachen.

Ein Astrophysiker erklärt Mike, warum Stephen Hawking, dem an den Rollstuhl gefesselten Krüppel, der nur mit Computern kommunizieren kann, die große "Sehung" gelang: "Hawking hat die schwarzen Löcher begriffen, weil er sie anstarren konnte. Schwarze Löcher bedeuten absolutes Vergessen. Bedeuten Tod. Und Hawking hat sein ganzes Erwachsenenleben lang den Tod angestarrt." Das mag erkenntnistheoretischer Mumpitz sein, aber es beschreibt Amis' Weltsicht.

"Night Train" ist nur dem Umfang nach ein kleiner Roman. Anders als bei früheren Pausenfüllern zwischen seinen großen Romanen zeigt er hier keine Anzeichen nachlassender Kraft. Die Erzählung, ein Tagebuch mit eingestreuten Verhörprotokollen, ist ein Stück hochkonzentrierter, kompakter Prosa. In knappen Dialogen und lakonischen Kommentaren zeigt Amis Abgründe auf und umreißt Charaktere, und er arbeitet dabei subtile Verwerfungen zwischen Geschlechtern, Rassen und Klassen heraus. Seine Sprache ist schnoddrig, rüde, voller Rassismen, Kraftausdrücke und Zynismen. Nicht immer will der derbe Polizeijargon mit Mikes intellektuellem Ehrgeiz zusammenstimmen. Der Übersetzer Joachim Kalka versucht erst gar nicht, diese Ungereimtheiten zu glätten. Aber die Revier-Sprüche klingen auf deutsch nicht gut und wollen nicht zu den Tagebucheintragungen Mikes ("Das menschliche Projekt implodiert, krümmt sich nach innen") passen. Solche Widersprüche sind vielleicht unvermeidlich, wenn eine einfache Polizistin Professoren in die Mangel nehmen will - oder ein metaphysischer Thriller sich als Polizeiroman tarnt. Martin Amis kümmert das wenig. Der Pathologe beim Jüngsten Gericht richtet sich eine schöne Leiche und den Leichnam eines Genres her, um beide mit Präzision und Kälte zu sezieren.

Martin Amis: "Night Train". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 173 S., geb., 34,- DM.

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