Produktdetails
  • Verlag: Knopf
  • ISBN-13: 9780375709685
  • Artikelnr.: 22407768
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2002

Chaos und Visionen: Soviel New York war nie

Zu gern würde man bisweilen, was sich dem Zufall des Alphabets verdankt, als schicksalhafte Fügung betrachten. So beginnt das Register dieses wahrhaft opulten Bands zur Geschichte New Yorks mit dem Geistlichen Lyman Abbot, der nur einmal darin auftaucht, mit einem kurzen Zitat, das mit den beiden Fragen schließt: "Was sollen wir mit unseren Großstädten tun? Was werden die Städte mit uns machen?" Gestellt immerhin bereits in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Und es endet mit der Vokabel: Zwillingstürme.

Wohl nie zuvor wurde New York so umfassend dargestellt wie in dieser "illustrierten Geschichte von 1609 bis heute", die wiederum auf einer sechsteiligen Fernsehserie aufbaut. Die Stadt wird hier betrachtet als politische Idee, als wirtschaftliches Problem, auch als Kunstwerk. Denn das Buch will seinem banalen Untertitel zum Trotz mehr sein als eine Chronik, und es begnügt sich trotz eines wahrhaft inflationären Umgangs mit Bildmaterial keineswegs mit dem Blick auf die Fassaden. Hinter jeder Abbildung wird vielmehr eine Geschichte freigelegt. Unser Bild zeigt das Empire State Building aus der Perspektive jener Luftpassagiere aus Europa, die in den dreißiger Jahren nach ihrem Transatlantikflug mit dem Zeppelin an der Spitze des Gebäudes hätten andocken sollen. Es waren sogar Zollschalter im obersten Stockwerk eingerichtet; doch wegen größerer Probleme wurde der Betrieb schon nach dem zweiten Landeversuch eingestellt.

F.L.

"New York - Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute" von Ric Burns, James Sanders und Lisa Ades. GEO-Buch im Verlag Frederking & Thaler, München 2002. 602 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Gebunden, 50 Euro. ISBN 3-89405-612-6.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2002

Die Hauptstadt aller Monomanen
Ric Burns hat aus seiner Dokumentarserie über New York ein opulentes Buch gemacht
Das Merkwürdigste an der Geschichte New Yorks ist wohl, dass sie mit der Entdeckung eines der besten natürlichen Häfen der Welt beginnt. Warum sprengte man nicht einfach einen aus der Küste? Sobald nämlich Henry Hudson 1609 auf der Suche nach China die Bay entdeckt hatte, scherte man sich nicht mehr um die Natur. Von nun an erzeugte die Kombination aus sozialem und wirtschaftlichem Laissez-faire und mit Brachialgewalt realisierten Utopien eine Dynamik, wie sie nie zuvor eine Stadt erlebt hatte.
Das im beschaulichen Dorf New York am Reißbrett entworfene Straßenmuster für die zukünftige Millionenmetropole, die Brooklyn Bridge, die Wolkenkratzer: das alles war nicht das Werk von Pragmatikern, sondern von Visionären, Monomanen –  begnadeten Spinnern, die testeten, zu welchen Leistungen menschliche Schöpferkraft fähig ist. Wie schockierend und erfrischend, heute, da die letzten Reste von Authentizität verehrt werden wie Reliquien, noch einmal diese Geschichte vom Triumph der Künstlichkeit zu lesen. Selbst „Landschaft” wie im Central Park oder im Massenfreibad Jones Beach auf Long Island ist in New York ein Meisterwerk der Technik.
Doch dies ist nur einer der vielen Fäden, die sich durch Ric Burns’ opulent ausgestattete Stadtgeschichte ziehen, die jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Es gibt noch etliche andere: Das New York der Katastrophen, der Einwanderer, das New York der Börsenkräche.
Das Buch, schwergewichtig wie es das Sujet verlangt, basiert auf der gefeierten zwölfstündigen Dokumentarserie, die der öffentliche amerikanische Fernsehsender PBS vor zwei Jahren ausstrahlte. Jahrelang hatte Burns, einer der bekanntesten amerikanischen TV-Dokumentaristen, gemeinsam mit dem Architekten James Sanders und einem großen Stab von Wissenschaftlern die Archive durchsucht. Tausende von unbekannten Zeichnungen, Stichen, Fotos und Stadtplänen brachte er ans Licht. Nun kommen sie auch der gedruckten Version seines Werks zugute, nein, sie kommen hier erst voll zur Geltung.
Ric Burns ist bekannt für seine Methode, stummes und unbewegtes Archivmaterial fernsehgerecht zu dramatisieren. Mit „ethnischen” Sprechern erzeugt er aus Zitaten nachträglich O-Töne; Bilder von Bränden unterlegt er mit Feuerprasseln, Hafenansichten mit Möwengeschrei; dichte Kamerafahrten über alte Stiche sollen den Eindruck lebendiger Szenen erzeugen; Streichorchester wärmen das ganze schließlich emotional an. Je länger man die Serie verfolgte, desto ärgerlicher wurde einem der Hang zu Pathos, desto mehr fühlte man sich von dem hastig abgespulten Bilderreigen gegängelt.
Große Bühne, leere Kassen
Für das Buch hat sich Burns dieser populistischen Kunstgriffe entledigt. Nicht nur hat man nun endlich ausgiebig Gelegenheit, die über 500 Illustrationen in Ruhe zu betrachten. Auch die packende Erzählung kommt jetzt erst zu ihrem Recht. Unangestrengt hat Burns die Historie immer wieder zu Sub- Plots gerafft, die das verbreitete Manko chronologisch aufgebauter Geschichtswerke verhindern helfen: das Gefühl des Lesers, bei seiner steten Wanderung auf dem Zeitstrahl die Konturen bedeutsamer Entwicklungen zu übersehen. Die Korruptionsskandale im 19. Jahrhundert, William Wordsworth als Chronist der Straße, der Bau des Central Park oder die Karrieren des Bürgermeisters La Guardia und des Stadtbau-Titanen Robert Moses erhalten auf diese Weise das Gewicht, das ihnen zukommt. Dass Burns dafür auf anderes verzichtet – New York als amerikanische Hauptstadt der Literatur und Kunst etwa –, lässt sich nicht vermeiden.
Burns’ Werk dreht sich um um zwei argumentative Hauptachsen: zum einen die optimistische These, New York sei die Stadt Amerikas, in der „Demokratie und Kapitalismus Frieden geschlossen” hätten; zum anderen seine Begeisterung für die technologische Innovationskraft, mit der die Stadt sich bis in die siebziger Jahre hinein immer wieder architektonisch und infrastrukturell gehäutet und neu erfunden hat. Bei all der Begeisterung, die Burns durch seine Erzählung trägt, klingt nur darüber ein wenig Trauer an, dass die Stadt, nachdem sie die große Krise der siebziger und achtziger Jahre durchschritten hatte, nie wieder Bühne für das Spektakel des Neuen und Unvorstellbaren wurde. In Zeiten von Konsensgesellschaft und leeren Staatskassen wohnt New York seit Jahrzehnten seine einstigen Pionierleistungen herunter. Die Straßen verkommen, die Flughäfen sind veraltet, und spektakuläre Hochhäuser werden heute in Asien gebaut. Seit dem World Trade Center, auf das Burns im Epilog für die deutsche Ausgabe eine Hommage schrieb, wurde nichts mehr gebaut, das noch einmal jene Faszination hervorrief, die einen noch im Rückblick, beim Lesen, so ansteckt.
JÖRG HÄNTZSCHEL
RIC BURNS, JAMES SANDERS: New York. Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute. Deutsch von Marion Pausch, Dagmar Ahrens-Thiele u.a. Frederking & Thaler Verlag, München 2002. 599 Seiten, 50 Euro.
In der U-Bahn von New York, 1967.
Foto: Lehnartz / Aus
d. bespr. Band
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