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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2008

"Amerika - eine interessante Situation"
Als der Ire Joseph O'Neill nach New York kam, wollte er unbedingt viel Cricket spielen. Jetzt hat er den ultimativen 9/11-Roman verfasst

VON KATJA GELINSKY

Das New Yorker Chelsea Hotel verdankt zahllosen Künstlern und Exzentrikern seinen legendären Ruf als Zufluchtsort und Zuhause der Boheme. Und David Lintie sieht aus wie einer, der eigens angestellt wurde, um diesen Ruf zu untermauern: Haar und Bart verstrubbelt, dunkle Sonnenbrille trotz gedämpfter Beleuchtung in der Hotellobby. Um den Hals hat der Schriftsteller einen gemusterten Schal geschlungen. Dabei lastet auf New York einer dieser schwülen Sommertage, an denen man sich das Restaurant nach der Effizienz der Klimaanlage aussucht. Lintie blättert in einer Zeitung, wenn er nicht gerade mit einem anderen (Lebens-)Künstler aus dem Chelsea Hotel plaudert. Man redet über Joseph O'Neill - nein, über "Joe", wie die Dauergäste des Chelsea Hotel ihren Mitbewohner vertraulich nennen.

Joe, der mit seiner Frau und drei Söhnen schon seit Jahren in einem der Hotelapartments wohnt, hat geschafft, wovon Lintie noch träumt: den Durchbruch als gefeierter Schriftsteller. Mit einem Roman, dessen Titel "Netherland" genauso vieldeutig wie das Buch insgesamt ist. Die Rezensenten sind jedenfalls hingerissen. Ein "Meisterwerk", rühmt das Magazin "New Yorker". O'Neill habe "das geistreichste, zornigste, anspruchsvollste und traurigste literarische Werk über das Leben in New York und London nach dem Zusammensturz des World Trade Center" geschaffen, preist die "New York Times".

Mit den ganz Großen der Weltliteratur wird der 44 Jahre alte Autor verglichen: mit F. Scott Fitzgerald, John Updike und dem Nobelpreisträger für Literatur V.S. Naipaul. "O'Neill scheint unfähig zu sein, auch nur einen langweiligen Satz zu schreiben", seufzt der Rezensent der "New York Times" voller Wonne. Selbstverständlich hat auch Lintie "Netherland" gelesen. "Wir alle hier im Hotel sind ganz begeistert", sagt er und winkt einem Mitbewohner zu, der ein rosa Hütchen zu Bermudas im Militärstil trägt. "Joe ist ein feiner Mensch. Neulich hat er im Restaurant nebenan eine Party gegeben, nur für die Mitbewohner des Hotels."

Der Hochgelobte erscheint wenig später im Café "Le pain quotidien", wo Törtchen und Sandwiches gereicht werden. Auffällig an O'Neill ist seine Unauffälligkeit. Schwarzes T-Shirt, schwarze Bermudas, Turnschuhe ohne Schnürsenkel, keine Socken - eine Garderobe, die im Szeneviertel Chelsea so üblich ist wie der Geschäftsanzug im Frankfurter Bankenviertel. Auch Joseph O'Neill hat jahrelang seine Arbeit im Anzug verrichtet. Da war der Jurist mit Abschluss von der berühmten Cambridge-Universität noch Wirtschaftsanwalt in London. Aber dann bekam seine Frau, die für "Vogue" arbeitet, das Angebot, in die Vereinigten Staaten zu gehen. Das war im Mai 1998. O'Neill, der neben seiner juristischen Tätigkeit in London zwei Romane veröffentlicht hatte, konzentrierte sich in New York ganz auf das Schreiben. Und aufs Cricketspielen. "Seit ich zehn Jahre alt bin, habe ich jeden Sommer Cricket gespielt. Ich musste in New York einfach einen Club finden."

Zum Glück hatte seine Suche Erfolg. Denn auf dem Spielfeld des "Staten Island Cricket Club" keimte die Idee zu "Netherland". Auf der Suche nach dem vertrauten Sport seiner Jugend lernte O'Neill Amerika aus völlig neuer Perspektive kennen. "Eine potentiell interessante Situation", wie ihm schien. Seine Mitspieler kommen fast alle aus dem Ausland - wie er selbst, aber: "Ich gehöre zu den 0,1 Prozent Spielern mit europäischen Wurzeln. Die meisten sind Einwanderer aus der Karibik, Pakistan und Indien, wo Cricket Volkssport ist." Das Cricketspiel wurde für O'Neill zum multikulturellen Lehrstück - und zur Metapher für amerikanische Ignoranz und Unfähigkeit. "Die Amerikaner nehmen Cricket nicht wahr, und wenn sie es wahrnehmen, dann verstehen sie es nicht."

Genauso spricht O'Neills Romanfigur Chuck, ein großspurig-geheimnisvoller Geschäftemacher aus Trinidad. Sein größter Traum ist es, in Brooklyn ein Cricketstadion von Weltklasse zu bauen, um dem Sport und den Immigranten, die ihn ausüben, den angemessenen Platz in der amerikanischen Geschichte zuzuweisen. Chuck strotzt nur so vor Unternehmergeist und Zuversicht und zieht damit Hans, einen jungen, beruflich erfolgreichen Finanzanalysten, in seinen Bann. Hans van den Broek, der Protagonist des Romans, stammt aus den Niederlanden und wird wenige Monate vor dem 11. September 2001, "9/11", von seiner Londoner Bank nach New York geschickt. Doch als das World Trade Center zusammenstürzt, gerät auch Hans' persönliche Welt aus den Fugen. Seine Frau kehrt mit dem Sohn nach London zurück. "Ich war es, nicht Terror, vor dem sie geflohen ist", stellt er beschämt fest. Depressiv und vereinsamt sucht der Banker Trost beim Cricketspiel, wo er Chuck trifft. Die ungewöhnliche Beziehung der Männer gipfelt darin, dass Hans nach gescheiterter Führerscheinprüfung Chucks Fahrschüler wird. Auf obskuren Touren chauffiert der Banker den windigen Geschäftsmann durch New York. Doch da ist man schon mitten drin in "Netherland". Macht nichts. Denn einen Spannungsbogen und eine zeitliche Chronologie gibt es ohnehin nicht.

Als Hans, zurück in London und wieder vereint mit seiner Familie, von Chucks Tod erfährt, mäandern seine Gedanken zurück nach New York: zum Cricketspiel und zu den Begegnungen mit seinem damaligen Freund. Weitere Station der Erinnerungsreise ist Den Haag, wo der Finanzanalyst seine Kinder- und Jugendzeit verbracht hat. Zwischendurch ruft er sich Szenen seiner krisengeschüttelten Ehe ins Gedächtnis und sinniert über den psychologischen Ausnahmezustand, in den er geriet, als er nach "9/11" sein Apartment in der Nähe von Ground Zero verlassen musste. Dabei lernt der Leser das bizarre Exilleben kennen, das der Banker im Chelsea Hotel führt. Bevölkert ist sein neues Zuhause mit Gestalten, die wie Karikaturen der tatsächlichen Bewohner wirken.

Die Terroranschläge selbst werden in "Netherland" nur am Rande erwähnt. "Aber meine Idee für das Buch änderte sich mit den Angriffen grundlegend", sagt O'Neill. "Die Metapher des Cricketspiels bekam eine ganz neue Dimension. Denn die Frage, wie Amerika die Welt um sich herum wahrnimmt, gewann durch die Reaktionen der Bush-Regierung auf die Terroranschläge eine völlig neue Bedeutung, vor allem, als der Irak-Krieg losging."

Mit der literarischen Bewältigung der veränderten Situation hat O'Neill jahrelang gekämpft. "Ich steckte in diesem schrecklichen Nebel", schildert er und verzieht schmerzlich das Gesicht. "Jedes Mal, wenn ich etwas zu Papier bringen wollte, geriet ich ins Straucheln. Vielleicht hing das mit der allgemeinen Orientierungslosigkeit und Verlorenheit zusammen." Da drängt sich natürlich die Frage nach autobiographischen Zügen des Protagonisten Hans auf. Aber O'Neill winkt ab. "Ich schreibe nicht über mein Leben, ich versuche nur über Dinge zu schreiben, die mir bekannt sind." Er sieht sich denn auch nicht als Schöpfer seiner Romanfiguren, sondern allenfalls als ihr Entdecker. "Ich versuche sie zu verstehen. Es ist so, als ob sie immer schon da waren, als ob man sie finden müsste."

Ganz ist seine Suche offenbar noch nicht abgeschlossen. Als das Gespräch auf die Szene kommt, in der Hans das phantastische Gefühl hat, durch das Cricketspiel "endlich eingebürgert zu sein", wundert sich O'Neill über seine eigene Wortwahl. "Warum sagt er ,eingebürgert'?" Der Schriftsteller lacht erstaunt. "Ich bin mir nicht sicher." Wieder dieses erstaunte Lachen. "Eingebürgert - ein schönes Wort."

Zu seiner eigenen Identität äußert sich O'Neill "sehr verwirrt". Kein Wunder, bei den multikulturellen Einflüssen, die von Kindesbeinen auf ihn eingewirkt haben. O'Neills Vater stammt aus einer armen kinderreichen irischen Familie. "Alles Anhänger der IRA." Die Familie seiner Mutter lebt in der Türkei. "Wohlhabende Angehörige einer kleinen christlichen Gemeinschaft, die Französisch spricht." Bedingt durch den Beruf des Vaters, der im Ausland Fabriken baute, lebte die Familie bis zu O'Neills sechstem Lebensjahr in Ländern Europas, Afrikas, Asiens und Südamerikas, bevor sich die Mutter mit den Kindern in Den Haag niederließ. O'Neill selbst ist Ire - "seit neuestem mit amerikanischem Pass", fügt er grinsend hinzu. "Damit ich Barack Obama wählen kann."

Dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten traut der Schriftsteller gewaltige Dinge zu: "Die Wolke, die sich über New York legte, erst wegen der Terroranschläge und dann, weil Bush 9/11 für seine idiotische Politik missbrauchte, wird erst vollständig verschwinden, wenn Obama Präsident wird." Als politischen Schriftsteller sieht O'Neill sich jedoch nicht. "Eher als literarischen Autor, der sich neben vielen anderen Dingen für Politik interessiert." Dass er selbst aus dem "Schreibnebel", der ihn umfing, als hochgelobter Autor aufgestiegen ist, registriert O'Neill mit einer Mischung aus Freude und Erleichterung. Denn es war nicht so, dass Amerika "Netherland" entgegenfieberte. Zwar hatte O'Neill zuvor schon drei Bücher veröffentlicht. Auch schreibt er regelmäßig Beiträge für die renommierte Zeitschrift "Atlantic Monthly". "Aber eine Leserschaft hatte ich nicht." Deshalb wuchs der Druck. "Mit 44 Jahren wird es höchste Zeit, wenn man als Schriftsteller etwas erreichen will." Doch alle Verlage außer einem wiesen "Netherland" ab. Unerfreulich, gewiss. "Aber über einen Kerl zu schreiben, dessen größter Traum es ist, in New York ein Cricketstadion zu bauen, klingt ja auch ziemlich verschroben", gesteht der Schriftsteller zu.

Als Bürde empfindet er die Erwartungen, die nun in seine künftigen Bücher gesetzt werden, nicht. "Um Himmels willen, nein!" Der Erfolg sei ihm allemal lieber, als noch länger auf den Durchbruch zu warten. "Wer schreibt schon, um erst zu sterben und dann erfolgreich zu sein?"

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