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Die Geschichte einer Kindheit in New York zu Beginn dieses Jahrhunderts, ein eindrucksvolles Bild von der Welt der jüdischen Einwanderer, vor allem aber ein Buch über die Schwierigkeiten des Heranwachsens und die Traumwelt eines kleinen Jungen.

Produktbeschreibung
Die Geschichte einer Kindheit in New York zu Beginn dieses Jahrhunderts, ein eindrucksvolles Bild von der Welt der jüdischen Einwanderer, vor allem aber ein Buch über die Schwierigkeiten des Heranwachsens und die Traumwelt eines kleinen Jungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998

Heulen und Tosen im goldenen Land
Der Klassiker der Einwandererliteratur wird wieder lesbar: Henry Roths "Nenn es Schlaf" / Von Joachim Kalka

Große Literatur wird nicht immer gleich als solche erkannt, und die Literaturgeschichte weiß neben den mahnenden Urvätersagen vom Rezeptionsschicksal Hölderlins oder Melvilles auch von kleineren Tragikomödien. Eines der größten amerikanischen Bücher des Jahrhunderts, der 1934 erschienene Roman "Call it Sleep" des 1906 geborenen Henry Roth, fiel trotz vereinzelter anerkennender Urteile rasch dem völligen Vergessen anheim und wurde erst in den sechziger Jahren von verblüfften Lesern wiederentdeckt.

Hauptsächlich stand dem Erfolg beim Erscheinen wohl ein kategorieller Fehlgriff entgegen. Dieser Roman, der auf so wunderbare Weise den Leser in das Innerste eines Bewußtseins führt, stieß auf ein Mißverständnis - weil er seine Geschichte von Angst und Begehren der Kindheit mit einer präzisen, sozusagen ethnographischen Schilderung des Immigrantenmilieus der Lower East Side in New York verband, hielt man ihn meist für einen nicht mit hinreichender Konsequenz durchgeführten proletarischen Roman. Klassisch bleibt der Kommentar der "New Masses" (ein herrlich unschuldiger Titel für eine sozialistische Publikation übrigens), es sei bedauerlich, "daß so viele junge Autoren aus dem Proletariat mit ihren Erfahrungen aus der Welt der Arbeiterklasse nichts Besseres anzufangen wissen, als sie zum Ausgangsmaterial introspektiver und febriler Romane zu machen".

Die hochnäsigen Adjektive dieser Kritik rühmen den Text, ohne es zu wissen: Introspektion findet hier in der Tat statt, und zwar ins Halbbewußte eines Kindes, mit einer bis dahin in der Literatur kaum geahnten Intensität; und febril ist dieser Text wahrhaftig - in ihm brennt ein Fieber der Anschauung. Er ist ohne Joyces technische Innovationen nicht denkbar, doch indem er das Mittel des inneren Monologs der Figur eines kleinen Jungen zuordnet, stößt er auf neues Terrain vor.

Der Roman ist durchaus auch eine stupende Beschreibung einer scharf begrenzten (aber überwältigend intensiv erfahrenen) Lebenswelt. Er erzählt von zwei Jahren - dem Lebensalter von sechs bis acht - im Leben eines kleinen Jungen, der im Prolog 1907 in den Armen seiner Mutter auf Ellis Island angekommen ist, wo der verbitterte Vater die Nachgereisten empfängt. In vier Teilen mit den geheimnisvoll-gegenständlichen Titeln "Der Keller", "Das Bild", "Die Kohle", "Die Schiene" erlebt der Leser die Existenz einer galizischen Familie in New York, ganz aus der Perspektive des Kindes. Der kleine David findet sich im lärmenden Furor des Slums wieder. Walter Allen hat zu Recht bemerkt, daß "Nenn es Schlaf" zu den geräuschvollsten Romanen der Literatur gehören dürfte - "Geräusch" muß man hier im peinvollen Schopenhauerschen Sinne hören.

In dieser tosenden, tobenden Welt fällt dem Einwanderer zunächst eine große Isolation zu; die Mutter, die noch nach Jahren nur wenige Wörter Amerikanisch beherrscht, sagt einmal, ihre Existenz sei auf wenige Straßenzüge beschränkt, auch dort kenne sie sich nur aus, weil sie sich an bestimmten Wegzeichen - einer weißgestrichenen Fensterscheibe etwa - orientieren könne: "Und wenn man eines Tages dieses Fenster putzt, finde ich nicht mehr heim." So ergibt sich eine große Fremdheit - doch liegt in diesem Buch auf dem Grunde der ärmlichen Außenseiterexistenz in Amerika noch eine andere, radikalere Fremdheit, die an David exemplifiziert wird.

Es gibt nur sehr wenige Texte, welche das die Anomie streifende Staunen vor der Unbegreiflichkeit der Welt, das Erzittern des Kindes vor der bloßen chaotischen Existenz außerhalb des eigenen Mietskasernenstockwerks mit solcher Intensität fixieren. (Wann, beiläufig gefragt, wird es endlich eine deutsche Übersetzung von George Douglas' 1901 erschienenem schottischen Roman "The House with the Green Shutters" geben?) David ist ein Kind, das von den entsetzlich folgerichtigen Verwicklungen seines kleinen Lebens so verwirrt ist, daß es in der lärmenden Bewußtlosigkeit des Spiels mit den (ihm fremden) anderen Kindern bereits das Vergessen sucht: "Ihnen nahe zu sein, das unstete Gesprudel ihrer Stimmen zu hören, ihren flatterhaften Stimmungen nachzugeben, das war wie ein Bad in einem fiebrigen, vertrauten Vergessen. Ihre Kabbeleien, ihr Kreischen ertränkten die Erinnerung; wie sie unermüdlich mit ihren Körpern hin und her zuckten, wie sie wirbelnd gestikulierten, ihre launischen Possen trieben, das alles wob einen wogenden, zähen, sich unablässig erneuernden Schleier zwischen ihm und dem Entsetzen."

Das Rätsel der panisch summenden Sexualität, die David, selbst noch ratlos unschuldig, bei anderen Kindern erlebt und als ungeheuerliches ödipales Familiengeheimnis ahnt, verschlingt sich mit einer ebenso rätselhaft unbegriffenen religiösen Leidenschaft, die sich um die Geschichte kristallisiert, wie der Engel des Herrn Jesajas Lippen mit einer glühenden Kohle berührt, damit er vor Gott sprechen möge. Von dieser biblischen Kohlenglut springt schließlich ein greller Blitz über auf die gefährlichen Gleise der elektrischen Straßenbahn - gewiß eine der eigenartigsten und in ihrer Rekonstruktion von kindlichem Mißverstehen der Welt zwingendsten Szenen der erzählenden Literatur. Daß mit der Frage nach Davids verborgener vorehelicher Herkunft ein höchst melodramatisches Moment in die Romankonstruktion tritt, mag man ein wenig bedauern, denn es wäre vielleicht wahrer gewesen (um das so pathetisch zu sagen), das verzweifelte Gefühl der unauflöslichen Gegnerschaft zum Vater nicht aus dessen Ehebruchsverdacht herzuleiten, sondern aus den normalen Schrecknissen eines Familienlebens. Doch setzt dieses lange Zeit verborgene Geheimnis bei seiner Explosion eine großartige orchestrierte Bilderflucht in Gang.

Henry Roth gehört zur eigenartigen Gattung der homines unius libri: Autoren eines einzigen, aber hochbedeutenden Werkes. Zumindest durfte man ihn bis kurz vor seinem Tode im Jahre 1995 in diese Kategorie einordnen - doch haben die beiden in den letzten Lebensjahren erschienenen Titel (Teile eines umfangreich projizierten Romanzyklus), welche man nach dem Schweigen von mehr als einem halben Jahrhundert bewegt, aber enttäuscht las, im Grunde diese Einordnung nicht verändert: Henry Roth hat ein gewaltiges Buch hinterlassen.

Der Roman erschien auf deutsch zuerst 1970 in einer Übersetzung von Curt Meyer-Clason. Hier blieb vieles unbewältigt, was nun in der Neuübersetzung von Eike Schönfeld sehr befriedigend gelöst ist. Die Probleme, die sich bei diesem Buch dem Übersetzer stellen, hängen vor allem mit der verdeckten Zweisprachigkeit des Romans zusammen: David lebt einerseits auf der Straße in einer Welt des Amerikanischen (das defekt, verstümmelt, schrill, hektisch ist - Roth zeichnet alles mit der Präzision eines phonetischen Fieldworkers auf. "Let's get some salt" erscheint etwa als "Led's gid somm sult"). In der Familie befinden sich David (und der Leser) in einer Welt des Jiddischen (das in Roths Text natürlich ebenfalls als Amerikanisch erscheint, aber als ein ungleich reicheres, klingenderes, souveräneres Idiom).

Es wird klar, daß die Welt, welche die Auswanderer verlassen haben, eine kulturell reichere und komplexere war als die ihrer neuen Halb-Heimat ("Ich bitt' dich, keine Fragen - dies ist das goldene Land" steht ironisch über dem ersten Kapitel). Die Religionsschule von Reb Yidel Pankower, wo die mürrisch-unruhigen Schüler heimlich amerikanisch zanken und kichern, während das ferne Echo der Thora über sie hinwegdonnert, führt die beiden Ebenen zusammen. Pankower, eine Figur, in der sich die Dickenssche Karikatur eines brutal-komischen Schulmeisters aufs eigenartigste mit dem Bild des melancholischen Repräsentanten einer erlöschenden, erhabenen Schriftkultur verbindet, bleibt es auch überlassen, resignierend zu sinnieren, was aus dieser Generation von jungen Juden werden soll.

In der produktiven Verflechtung dieser Sprachebenen liegt bei "Call it Sleep" die Hauptschwierigkeit des Übersetzens, und wenn man in der neuen Übertragung vielleicht einige Stellen anmerken könnte, wo das Jiddische allzu hochsprachlich wird (wo an die Stelle des sprachlichen Reichtums die sprachliche Korrektheit tritt, wenn etwa "looking at me blank and befuddled" als "mit diesem ausdruckslosen, verwirrten Blick" - anstatt etwa als "so nichtsnutzig und vernagelt" - wiedergegeben wird oder der galizische Einwanderer von einem "Schäferstündchen" spricht) - so nimmt dies der großen Übersetzungsleistung insgesamt nichts. Nun liegt also für die deutschen Leser wiederum ein Buch vor, das man - selbst wenn man Listen kanonischer Werke für problematisch hielte - zu den großen Büchern des Jahrhunderts zählen muß. Es enthält die an einen bestimmten, historisch penibel fixierten, monströs hör-, riech- und sichtbaren Ort gebannte Erkenntnis (die wir alle aus dem Alter von sechs bis acht Jahren kennen, die wir aber gerne vergessen würden): daß es dort draußen eine riesige Welt gibt und daß sie fürchterlich und rätselhaft ist.

Henry Roth: "Nenn es Schlaf". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eike Schönfeld. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 525 S., geb., 49,80 DM.

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