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»Es ist ein singuläres Werk, vor dem man nur stehen kann wie ein gläubiger Muslim vor der Kaaba.« - Elfriede Jelinek über Fritz' Werk im Falter (36/2003)

Produktbeschreibung
»Es ist ein singuläres Werk, vor dem man nur stehen kann wie ein gläubiger Muslim vor der Kaaba.« - Elfriede Jelinek über Fritz' Werk im Falter (36/2003)
Autorenporträt
Marianne Fritz, geboren 1948 in Weiz, Steiermark, gestorben 2007 in Wien, war eine vielfach ausgezeichnete Autorin, die sich zeitlebens radikal jeder Öffentlichkeit entzog. Zu ihren Hauptwerken gehören Dessen Sprache du nicht verstehst und Naturgemäß I-III.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.1998

Disneyland der Dekonstruktion
Lego gespielt: Die große Satzbauruine von Marianne Fritz

In der Naturwissenschaft dient der Versuch der Präzision und Übersichtlichkeit. In der Literatur hat das Experiment, seit Surrealisten und Dadaisten es sich zu eigen machten, eine entgegengesetzte Funktion. Hier wird es zur Verwirrung verwendet, Irritation und Provokation sind die erwünschten Resultate, Ratlosigkeit ist das Optimalziel. In diese von der Wiener Gruppe vor vierzig Jahren wiederbelebte Tradition gehört auch Marianne Fritz' experimenteller Mammutroman. Während der Laborversuch dem Naturforscher langwierige Expeditionen erspart, konfrontiert "Naturgemäß I" den Leser noch einmal mit den weißen Flecken der kartographierten Welt, schickt ihn ins Unterholz der Ahnungen und vagen Vorstöße zurück.

Durch fünf großformatige Taschenbücher folgen wir auf 2030 Seiten den Spuren einer wildgewordenen Schreibmaschine, die einen Endlostext in wechselnden Mustern auf dem Papier verteilt. Durch Unterstreichungen, wechselnde Buchstabendichte, Kursivschrift, Einrückungen, Großschreibung, Fettdruck und Randnotate wird Bedeutung suggeriert. Der beständige Hinweis auf Daten, vor allem des Kriegsjahrs 1914, betont: Es geht um Geschichte. Der Roman "spielt" an der Front. Jedenfalls ist von Märschen die Rede. Untaten finden statt.

Stimmen von Opfern und Tätern bilden ein irres Gerede. Allegorische, mythologische und märchenartige Figuren ("Kobold Schreckstarre") treten in rätselhaften Zusammenhängen auf, kindliche Verbalnomina ("Totmacher", "Sternemann") wechseln mit teils antikisierenden, teils ins Verwaltungssprachliche umschlagenden Gerundivkonstruktionen ("in oftmals ausweglos wirken mögender Lage"). Durch Wortzusammenziehung gebildete Neologismen ("Daisterja", "Satandemstummel") gehören ebenso zu den Leseflußbarrikaden wie ein falscher oder unvollständiger Satzbau ("Es schwer war", "Nicht wagte.").

Überhaupt ist oft unentscheidbar, welche syntaktische Stelle einzelne Elemente haben. Unablässig signalisiert das Buch Geheimnisse, die ihrer Entschlüsselung harren. Lagepläne, alchimistische Symbole, Tabellen und Schemata werden eingeblendet, Zahlen, mathematische Zeichen und Verweisungspfeile unterwandern die Sätze. Anagramme drängen sich auf, Wiederholungen erzeugen ein kultisches Ambiente, scheinbaren Rechtschreibfehlern wird durch Vervielfachung eine höhere Weihe verliehen. Man könnte darüber spekulieren, warum Marianne Fritz den Lesewilligen dieses Sprachgekröse auftischt. Vermutlich brächte sie ehrenwerte, durch Mehrfachreflexion gestützte Gründe vor. Da Adornos Name - rückwärts buchstabiert - eine ihrer Textintarsien bildet, darf man vermuten, daß Fritz die Formel, man könne nach x kein y mehr schreiben, auf eigene Art in Anspruch nimmt. Ihr x bleibt unklar, das sich verbietende y jedenfalls ist ein verständlicher Text.

Dem statt dessen Gebotenen liegt ein rigoroses Mißtrauen der Sprache gegenüber zugrunde. In "Naturgemäß I" erscheint sie nicht länger als erstes Organ der Humanität, sondern als Herrschaftsinstrument, das sich das Lebendige gefügig macht. Von "Aufklärung" wird daher im Text nur höhnisch, als militärischem Terminus, gesprochen. Je mehr Klarheit, scheint Fritz zu sagen, desto mehr Machtmißbrauch. Gegen die Welt der Raster und binären Codes inszeniert sie die Erfahrung, daß der Gegenstand der Rede den Worten entgleitet.

Gelegentlich streut die Autorin sprachtheoretische Überlegungen in das Erzählen ein. So wird von einer "begonnenen Satzbaustelle" gesprochen. In dieser selbstthematisierenden Maurermetaphorik hält der Text sich eine Weile auf: "Als wären, hinter ihm her die Gepeinigten, nichtfassend die liebevolle Pflege der Folterwerkzeuge, diesen Putzeifer und die lärmenden Stimmen in ihrem Reich. Als könnte hier noch etwas Wort werden, als müßte hier nicht alles augenblicklich versteinern." Auch vom "Gesellen Mensch" ist die Rede: "Wachlagen; zwischen den beiden Gesellen der Lehrling; und irgendwanneinmal wird es so, ähnlich!, gewesen sein, transformierbar war in die Welt der Worte, Sprache wurde, Baustelle, unvollendetes Immerwieder in Worten." "Naturgemäß I" will, traut man der poetologischen Arabeske, als Dokument eines im Vorsprachlichen verstummten Schreis verstanden werden, als Denkmal einer unterbrochenen Äußerung, als jener Sprachbruch, zu dem das Medium menschlicher Verständigung für all die zerfällt, die das Ende der Sätze nicht erleben.

Eine Hypothese zu diesem spröden Roman könnte lauten: "Naturgemäß I" gilt dem unheimlichen Charakter der Gewalt. Denn obwohl die Erzählung beständig um Grausamkeiten kreist, stellt sie sie nicht aus. Von Blutregen, Folterkellern, Hautabziehen, Augenausschlachten, Brustwarzensammeln und sonstigen Amputationen ist dunkel die Rede. Dann sprudelt der Text mit seinem erratischen Geplauder, seinen Schwamm- und Blubberworten wieder darüber hinweg. Das mörderische Geschehen liegt im Schatten der "lärmenden Stimmen".

Hier scheint Marianne Fritz dem von ihr nicht durch Ledersessel verwöhnten Leser immerhin eine unbequeme Falle aufzustellen. Indem sie Kriegssadismen nur andeutet, wird der Leser in die Lage versetzt, das Schlimmste zu befürchten. Er komplettiert die Handlung also durch seine Einbildungskraft, entlarvt seine geheimsten Phantasien, begegnet: dem Täter in sich selbst. Wem sonst? Wissen wir doch seit Freud, daß das Unheimliche sich in der Regel als das allzu Vertraute entpuppt.

Marianne Fritz entthront konsequent den Autoritätsanspruch, der traditionell mit dem gedruckten Wort einhergeht. Hier wird nichts bekanntgemacht, mitgeteilt, zu wissen gegeben und festgesetzt. Der Eintritt in die uns von uns selbst entlastende Welt der Diskurse findet nicht statt. Die Mauer des Gesetzes bröckelt. Aus ihren Fugen steigt der Angstschweiß seiner Opfer. Niemand nimmt uns Buchstabengläubigen die Verantwortung ab.

Aber warum zweitausend Seiten von dieser Satzbauruine? Oder wohlmöglich noch mehr. Die römische Bezifferung deutet an, daß weitere Schuber folgen sollen. Warum mit den Splittern des Entsetzens eifrig Lego spielen? Die Mimesis an die Erschütterung ist emsig und professionell. Marianne Fritz hat die Chinesische Mauer des Minimalismus verfaßt, das Empire State Building versagender Worte, das Eurodisneyland der Dekonstruktion. Besuchsrekorde für dieses Wunder literarischer Selbstverleugnung wurden bisher nicht gemeldet. INGEBORG HARMS

Marianne Fritz: "Naturgemäß I. Entweder Angstschweiß Ohnend Oder Pluralhaft". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 5 Bände, zus. 2030 S., br., 500,- DM.

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