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Oktober 1904: Der 22-jährige James Joyce tritt im"gottverlassenen"Pola an der Küste in Istrien seine Stelle als Englischlehrer an. Seine Ankunft wird in der lokalen Zeitung groß annonciert. Und Joyce wird unmittelbar Zeuge einer Reihe von spektakulären Ereignissen: die pathetische Inszenierung einer Gedenkfeier für die ermordete Kaiserin"Sisi", die Aufführungen eines ambulanten Kinos, eine Flut von (Bild-)Nachrichten aus dem Russisch-Japanischen Krieg ... Diese allgegenwärtigen, bisher kaum beachteten"Vermischten Nachrichten","faits divers", fanden Eingang in Tageszeitungen und Kinoprogramme,…mehr

Produktbeschreibung
Oktober 1904: Der 22-jährige James Joyce tritt im"gottverlassenen"Pola an der Küste in Istrien seine Stelle als Englischlehrer an. Seine Ankunft wird in der lokalen Zeitung groß annonciert. Und Joyce wird unmittelbar Zeuge einer Reihe von spektakulären Ereignissen: die pathetische Inszenierung einer Gedenkfeier für die ermordete Kaiserin"Sisi", die Aufführungen eines ambulanten Kinos, eine Flut von (Bild-)Nachrichten aus dem Russisch-Japanischen Krieg ... Diese allgegenwärtigen, bisher kaum beachteten"Vermischten Nachrichten","faits divers", fanden Eingang in Tageszeitungen und Kinoprogramme, und verarbeitet tauchen sie u.a. im"Ulysses"wieder auf, wie Hanns Zischler und Sara Danius nun erstmals zeigen.
Autorenporträt
Hanns Zischler, geboren 1947, ist Schauspieler, Publizist und freischaffender Künstler. Neben zahlreichen Fernsehauftritten ist er in internationalen Filmproduktionen zu sehen, wie z.B. Wim Wenders' "Im Lauf der Zeit" und Steven Spielbergs "München".
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.06.2008

Wenn Bücher rülpsen könnten
Keine Zeit für langatmige Ausführungen: Hanns Zischler und Sara Danius lesen den „Ulysses” als Antwort auf die Tageszeitung
André Gide hat es getan. Marcel Proust hat es getan. Auch James Joyce war eifrig dabei: Sie alle haben leidenschaftlich die Tagespresse verschlungen, Artikel ausgeschnitten und gesammelt. Vor allem liebten sie die Nachrichten aus dem „Vermischten”, jene zufälligen Begebenheiten, die im chaotischen Layout früherer Zeitungen die Berichterstattung unterbrachen, die in den Zwischenräumen der Zeitungsseite auftauchten, weil noch Platz war in einer Spalte, und weil die Sensationen des Alltags gern gelesen wurden. Hier eine Ehetragödie, dort ein Verbrechen – der Irrwitz und das Durcheinander einer Welt ohne Kontur und klare Ordnung zogen Tag für Tag auf den Seiten der Zeitung am Leser vorbei, ohne Ziel, ohne Zweck, und niemand wunderte sich darüber.
In diesen faits divers fanden die Erzählungen der Literatur an der Wende zur klassischen Moderne ihr Vor- und Gegenbild, und so schildern Hanns Zischler und Sara Danius die Geburt des modernen Romans aus dem Geist des „Vermischten”. Sollte es wirklich ein Zufall sein, so fragen sie, dass Félix Fénéon, der journalistische Meister der dreizeiligen Kunstform, Verleger von James Joyce wurde? Was passiert, wenn man „Ulysses”, den Roman eines Tages, dessen Protagonist in der Anzeigenabteilung des Freeman’s Journal arbeitet, einmal als Antwort auf die Tageszeitung liest?
Im locker umspielten Zentrum der „vermischten Nachrichten von James Joyce”, die Zischler und Danius notiert haben, stehen die fünf Monate, die Joyce 1904 als Englischlehrer in dem südlich von Triest gelegenen Pola verbringt. Zischler wollte zunächst – wie in seinem wunderbaren Buch „Kafka geht ins Kino” – den Filmerlebnissen des jungen Autors nachspüren. Denn fast gleichzeitig mit Joyce trifft in Pola auch ein mobiler Filmvorführer ein. Aber diese Fragestellung rückte für Zischler offenbar im Verlauf der Zusammenarbeit mit Danius in den Hintergrund. Es bleibt bei einigen Beobachtungen zur „Ähnlichkeit” zwischen den faits divers der Presse und dem „Kino der Attraktionen”, das sich in der Frühzeit der Cinematographie der „Zauberei” und der „drastischen Überraschung” hingibt.
Kugeln eines kleinlichen Gatten
In beiden Fällen schnurrt die Welt zusammen auf eine lockere Sammlung von Minimalhandlungen, die ihren Lesern spezifische Wahrnehmungskompetenzen abverlangen, etwa die Fähigkeit, das Disparate zu genießen und Absurdität gelassen hinzunehmen.
Nicht weniger als die neuen visuellen Medien provozieren die faits divers der modernen Presse die Literatur, zumal den Roman: Die vermischten Nachrichten neigen zum unverbundenen Nebeneinander von Episoden anstelle großer Geschichten, zur Zerstörung kontinuierlicher Sinngefüge anstelle ganzheitlicher Welt- und Lebensentwürfe, zum Ereignissplitter anstelle durcherzählter Geschichten, zu Kontingenz und Zufall anstelle des Bedeutsamen und Repräsentativen. Und: Sie faszinieren die Leser.
Was früher gern mit der modernen Mobilität oder mit der modernen Urbanität, mit der Unruhe und Nervosität des Großstädters begründet wurde, das leiten Zischler und Danius aus einer spezifischen Form der modernen Massenmedien ab. „Der Lyoner Fuhrunternehmer Marius Pâris beging Selbstmord; zuvor hatte er aber als kleinlicher Gatte seine Frau mit drei Kugeln verletzt” – ist das die Keimzelle einer Novelle, vielleicht sogar eines Romans, oder ersetzen die drei Zeilen die Literatur für den modernen Leser, der keine Zeit mehr für langatmige Ausführungen hat und diese auch gar nicht mehr benötigt?
Joyce, so zeigen Zischler und Danius, hat in zweifacher Weise auf die Medienkonkurrenz von Literatur und Journalismus reagiert: Er überführt im „Ulysses” das Durcheinander der Zeitungsseite und das Nebeneinander der vermischten Nachrichten auf die Buchseite eines Romans. Und zugleich nimmt er den faits divers aus dem Dubliner Alltag den letzten Rest des großen Ereignisses: Wenn es im Vermischten um Mord und Totschlag, um Kapitalverbrechen, Unfälle und Katastrophen geht, dann dreht sich der „Ulysses” eben um Leopold Blooms Verhalten auf der Toilette und seine kulinarische Vorliebe für „Gänsekleinsuppen, leckere Muskelmägen, gespicktes Bratherz, panierte kroß geröstete Leberschnitten, gerösteten Dorschrogen” sowie „gegrillte Hammelniere, die seinem Gaumen den feinen Beigeschmack schwachduftigen Urins vermittelten”. Das ist banal, das soll banal sein, und es bleibt über 1000 Seiten hinweg banal.
„Wenn Bücher rülpsen könnten”, meint Danius, „dann wäre es ‚Ulysses‘. Und wenn Bücher rülpsen könnten, ohne sich zu entschuldigen, dann wäre es ganz bestimmt ‚Ulysses‘”. Der „Ulysses” ist ein Roman des Alltäglichen. Freilich passt der Alltag einer Allerweltsfigur – und das blenden Zischler und Danius absichtlich aus – in die Form einer der größten Epen der Weltliteratur. Und zudem knüpft Joyce an die Skandalmaschinerie der Massenmedien an, indem er seinen Roman mit einer ordentlichen Dosis pornographischer Elemente versorgt. So wurde „Ulysses” zum echten Aufreger für Zensoren und Moralapostel.
Ein Leichnam wird aufgefischt
Solange man die wunderbar geschriebenen, stets reichhaltigen und geistvollen Darstellungen von Zischler und Danius mit dem vagabundierenden Blick des Zeitungslesers hinnimmt, geht alles gut. Aber genau darf man nicht hinschauen, und man sollte auch nicht allzu genau wissen wollen, wie die Dinge zusammenhängen. Zischler sammelt ein, schweift von Fund zu Fund und verdichtet seine Trouvaillen bisweilen zu Aphorismen, die eine bestimmte historische Konstellation schlaglichtartig erhellen. Man schlendert mit großer Lust diesen intellektuellen Flanerien hinterher, die sich von den Archiven einer vergangenen Zeit wie von den Auslagen in den Schaufenstern anziehen lassen.
Danius hingegen liebt einerseits die starken Thesen und harten Schnitte, bleibt aber andererseits sehr vage, wenn es um die historischen Details geht: Da bedeutet dann etwa Flauberts „Madame Bovary” den „Moment”, in dem „die Rhetorik durch den Stil ersetzt” werde; von „nun an” gelte der „Stil” nur noch „im Singular”. Aber spielen einzelne Personen und einzelne Bücher wirklich eine so große Rolle? Hat nicht gerade die Mediengeschichte gezeigt, dass monokausale Ableitungen zwar faszinierend sind, die Wirklichkeit jedoch verfehlen? Bisweilen hätte der „kontrollierte Überschwang”, den Zischler den Lektüren seiner Mitautorin attestiert, rhetorisch ein wenig mehr Kontrolle vertragen, ohne dadurch etwas von der überraschenden Klugheit zu verlieren. Gleichviel: Der moderne Leser, intellektuell abgehärtet durch die tägliche Zeitungslektüre, kommt mit den faits divers zurecht, egal ob sie von einem „aufgefischten Leichnam” berichten, ob sie von einer vergifteten Hochzeitsgesellschaft handeln oder ob sie uns dabei helfen, „das Wesen des modernen Romans besser zu verstehen” STEFFEN MARTUS
HANNS ZISCHLER, SARA DANIUS: Nase für Neuigkeiten. Vermischte Nachrichten von James Joyce. Paul Zsolnay Verlag. Wien 2008, 167 S., 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2008

Joyce im Meldungsfieber
Porträt des Künstlers als produktiver Zeitungsleser

Was tun wir eigentlich, wenn wir die Tageszeitung lesen? Gewiss, wir erweitern unseren Horizont, erlangen Hintergrundwissen, lassen uns von harten Reportagen packen, von klugen Kommentaren aufrütteln oder auch von Rezensionen anregen. Zeitungslektüre verläuft selten linear und noch seltener vollständig, vielmehr sprunghaft, diskontinuierlich und zufällig: Wir lassen den Blick über die Zeitungsseiten schweifen, lesen hier einen Text an, registrieren dort eine Bildunterschrift, goutieren vielleicht gerne einen längeren Artikel bis zum Spaltenumbruch, dann aber gleiten wir unversehens in die Nebenspalte ab, weil etwas unsere Aufmerksamkeit ablenkt. Häufig stoßen wir auf kleine Meldungen, die ohne jeden sonstigen Zusammenhang erscheinen und auf wenigen Zeilen etwas mitteilen, was nur unter der Kategorie "Vermischtes" zu fassen ist. Seit es Zeitungen gibt, gibt es solche "faits divers". Sie dienen, wie man unumwunden sagen muss, vor allem auch als Füllsel. Denn weiße Flecken sind auf Zeitungsseiten ebenso verpönt wie auf den Weltkarten nach Ende des Entdeckungszeitalters.

Das Pressephänomen des "fait divers" erzählt eine Miniatur-Geschichte und setzt sie dennoch der Beliebigkeit aus, dem Unvorhersehbaren, Kontingenten, Anonymen und damit dem Geschichtslosen, das ein Ereignis ohne jegliche erzählerische Bindung überkommt. Von Schriftstellern wie André Gide und Marcel Proust mit Leidenschaft gesammelt, von Journalisten wie Félix Fénéon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts als Hohe Schule der Moderne kultiviert und von kritischen Geistern wie Roland Barthes später rhetorisch analysiert, bildet es sowohl das Schmieröl wie den Sand für das Erzählgetriebe unserer Welt, hält es doch durch Ablenkung der Konsumenten die Medienmaschinerie geschmeidig und widersetzt sich zugleich jeder Großerzählung. Jetzt widmen Sara Danius und Hanns Zischler sich einem der größten Monumente der Moderne, um sein Fundament im "fait divers" freizulegen.

James Joyce' Epochalroman "Ulysses" (1922), das wird sehr schnell klar, ist durchweg vom Geist des Pressewesens inspiriert. Er spielt an einem einzigen, genau datierten Tag und bietet vom Wetter bis zum Pferderennen umfassende Berichte über so ziemlich alles, was man je darüber wissen mag; sein Titelheld ist Anzeigenakquisiteur, dem ständig Werbesprüche aus der Zeitung durch den Kopf gehen; eine Episode zeigt ihn in der Redaktion und stellt sich durch ihr Druckbild auch noch selbst so dar, als wäre sie dem Tageblatt entnommen. Zischler und Danius allerdings radikalisieren diesen Befund, wenn sie den Nachweis antreten, dass die gesamte Konzeption des "Ulysses" und damit die Modernisierung des Erzählens aus der Nutzbarmachung des Vermischten abgeleitet werden kann. In der Fülle des Folgenlosen, das massenweise aufgeboten wird, sehen sie "Romansporen", die Joyce aus den Massenmedien übernommen habe, um Füllsel zum Hauptmaterial zu machen. In seiner Feier des Alltäglichen platzt die Dramaturgie des Ereignishaften auf wie eine überreife Kapsel und zerstreut sich in moderne Kontingenzprosa.

Dazu nutzen Danius und Zischler eine kleine biographische Episode. Am 30. Oktober 1904, viereinhalb Monate nach dem "Ulysses"-Tag, erschien in der italienischsprachigen Provinzzeitung von Pola eine kurze Meldung, welche die Ankunft von "James A. Joyce, B.A." als neuem Englischlehrer der lokalen Berlitz-School anzeigte. In Pola, einem Städtchen südlich von Triest, blieb Joyce nur ein paar Monate - der Forschung sonst kaum mehr als eine Fußnote wert. Zischler und Danius aber finden just im Randständigen und Belanglosen dieser Zwischenzeit den Schlüssel für ihre Lektüre des Romans. Denn der Aufenthalt in Pola fällt zufällig mit dem von Carl Lifka zusammen, einem der letzten großen Schausteller des "ambulanten Kinos". Sein Kino der Attraktionen, das in anarchischer Kurzweiligkeit eine buntgemischte Fülle darbietet, sehen sie im selben Maße von einer Ästhetik der Überraschung und Zerstreuung geprägt wie das "fait divers". Joyce, so ihr zentraler Punkt, habe dies in einer "cut & paste"Technik kopiert und als Karneval der Stile im "Ulysses" umgesetzt.

Das Grundsympathische an diesem Essay, der überdies in schöner Aufmachung mit vielen zeitgenössischen Fotografien und Zeitungsausschnitten erscheint, ist die spielerische Lockerheit, mit der er einen triftigen kulturhistorischen Zugang zu Joyce' Werk erkundet, dabei durchweg auf große Thesen zu den "druckgeschichtlichen Ursprüngen der Moderne" zielt und doch nie in den grimmen Ton der Medientheorie verfällt. Bei aller sorgsamen Fußnotenarbeit atmet die Argumentation vielmehr den Geist der Sache, die verhandelt wird, und zeigt sich selbst - mit schönen Pointierungen und ständigen Abschweifungen, verschlungenen Bögen und unvermittelten Übergängen - vom Prinzip des Vermischten, dem sie nachgeht, nachhaltig geprägt. "Ein Schriftsteller sollte nie über das Außergewöhnliche schreiben", hat Joyce einst gegenüber Djurna Barnes bemerkt: "Das ist recht für einen Journalisten." Nach Lektüre dieses außergewöhnlichen Buches über das poetologische Mischwerk eines großen Schriftstellers lernen wir nicht nur seine Texte anders lesen. Auch die Tageszeitung nehmen wir mit anderen Augen - oder ist es die Nase? - wahr.

TOBIAS DÖRING

Hanns Zischler/Sara Danius: "Nase für Neuigkeiten. Vermischte Nachrichten von James Joyce". Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008. 165 S., br., 17,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Auf "wundersame Weise kohärent" findet Rezensent Adam Soboczynsk die Lektüre dieses Büchleins, das der Schauspieler Hanns Zischler zusammen mit der schwedischen Literaturwissenschaftlerin Sara Danius verfasst hat. Es geht, wie er schreibt, um die berühmten "faits divers" auf der Vermischtes-Seite, aus denen der These dieses Buchs zufolge der moderne Roman entstanden sei. James Joyces "Ulysses" zum Beispiel. Allerdings scheint das kleine Werk, dessen Lektüre für den Rezensenten mitunter etwas von gehobener Zeitungslektüre hat, auch deutliche Grenzen zu haben. Nicht nur, dass er die visuelle Garnierung des Essays mit Fotos und Zeitungsausschnitten optisch recht behäbig findet. Auch scheint ihm eine Spur digitaler Zeitbezug abzugehen.

© Perlentaucher Medien GmbH