Produktdetails
  • Verlag: Haffmans
  • Seitenzahl: 350
  • Deutsch
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 386g
  • ISBN-13: 9783251004317
  • ISBN-10: 325100431X
  • Artikelnr.: 24049957
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.1999

Das Leben einer Kaufhaus-Elfe
Don Quijote im Greyhound-Bus: David Sedaris' Erzählungen

Von Martin Amis stammt die These: "Writers don't drive." Die private Statistik stützt diese Behauptung: Der europäische Autor unserer Tage kommt mit dem Zug oder Flugzeug. Deshalb ist es nur konsequent, wenn David Sedaris keinen Führerschein besitzt, schließlich ist er Schriftsteller. Er hatte aber schon keinen, als er noch nicht Schriftsteller war, und das ist im amerikanischen Lebensplan nicht vorgesehen, denn Mobilität ist im autogerechtesten Land der Erde nur mit dem Automobil darzustellen. Dieser Erkenntnis gehorchend, hatte Sedaris im üblichen Alter eine Fahrlizenz erworben, sie dann aber umgehend zurückgegeben, Vater Louies düstere Warnung im Ohr: "Der Führerschein ist dein Todesurteil!" Und als Warner vor allen Gefahren der Welt, die tückisch schlummern zwischen Bandsägen, Blitzen, Knallfröschen, Rasenmähern, Luftgewehren und Müllschluckern, hatte er seine Kinderschar mit Geschichten aus seinem Leben immer zu beeindrucken verstanden. Daß es sich bei Louies angeblich selbsterlebten Katastrophen in Wahrheit um Wandermärchen handelte, bekam seine zahlreiche Brut erst heraus, als die von ihm gesäte Furcht schon in voller Blüte stand. Die bei David erzeugte Fahr-Phobie sollte der Gefahrenvermeidung dienen, der Erfolg der Strategie ist aber durchaus zweifelhaft, denn zur Befriedigung seiner Wanderlust mußte er sich nun anderen Fahrern anvertrauen: solchen, die ihn als Tramper mitnahmen und deren unterschiedlichen Begehrlichkeiten er sich bisweilen nur durch "Springen und Abrollen" entziehen konnte, oder den Fahrern der Greyhound-Busse, die ihren Dienst zwar untadelig verrichteten, aber eine insgesamt zweifelhafte Ladung beförderten, denn "dieses Amerika war die Idee sowjetischer Propagandachefs, eine brutale Landschaft, von hoffnungslosen Einfaltspinseln mit batteriebetriebenen Mündern bewohnt, von einem schlimmen Ort an einen noch übleren treibend". Diese Welt ist durchaus nicht seine, schließlich entstammt Sedaris einer middle class family, die sich in Raleigh, einer kleineren Großstadt in North Carolina, niedergelassen hat. Und in der reagiert man mit milder Panik, wenn eine Person aus dem Lager, das David später nicht nur im Bus kennenlernen wird, im eigenen Haus auftaucht. Etwa "Dinah, die Weihnachtshure", von seiner Lieblingsschwester Lisa auf Dinahs telefonischen Notruf frisch aus einer alkoholgestützten gewalttätigen Konfrontation mit deren Liebhaber Gene gerettet, einer Gewalt, die Dinah aber nach einem weiteren Getränk im Hause Sedaris schnell zur normalen Härte erklärt und die ihrer Rückkehr zu Gene nicht im Wege stehen soll.

Diese Differenz der Lebenswelten ist eine der Energiequellen, aus denen sich Sedaris' Geschichten - es sind siebzehn in diesem Band - speisen. Dabei gibt es diesen Ich-Erzähler als Person kaum. Er ist immer im falschen Film, aber der richtige ist nicht sichtbar, weil das Leben anderswo ist. Berufe erfindet er für sich - den Gehirnchirurgen kurz vor dem Abschluß, den Yale-Dozenten kurz nach der Berufung -, ohne von der geborgten Aura irgendwie profitieren zu können. Und er fragt sich, erheblich später im Text: "Wie kommt es, daß man dreißig geworden war und immer noch nicht auf eine verifizierbare Karriere zurückblicken konnte?" Die Frage bleibt unbeantwortet, das Buch enthält aber zahlreiche implizite Hinweise: Wer sich für ein Studium an der Kent State University entschließt, nur weil die Nationalgarde "dort Menschen umgebracht" hatte, wer die Zeit dort überwiegend mit mietmindernder Hilfestellung für die schwerbehinderte Kommilitonin Peg verbringt und entdeckt, daß man mit ihr als mitleiderregender Rollstuhlfahrerin im Supermarkt gut klauen kann - der tut schon einiges gegen etwaigen Karrierismusverdacht. Wenn der Exstudent ohne nachvollziehbare Qualifikation dann als Apfelpflücker, Apfelsortierer, Abbeizer und Lackierer sowie als Produzent von äußerst unverkäuflichen Marmoruhren mit dem Umriß von Oregon arbeitet, von idealistischen Vorstellungen oder aktueller Not getrieben und irgendwie immer im dubiosen Umfeld, dann geht es kaum um Lebensplanung, sondern um spontane Bewegungen bei der Suche nach dem besseren Ort.

Die Passion trieb schon den Knaben, bei den Einkäufen der Mutter blieb er auf dem Parkplatz, in der Hoffnung, dort von seinen richtigen Eltern entdeckt zu werden, solchen mit weniger Kindern und einem Privatjet. Es wurde alles nichts, weder aus den richtigen Eltern noch dem richtigen Leben, und das erzeugt beim Leser durchaus große Heiterkeit. Man muß sich dieser Heiterkeit, die ja dem wenig edlen Motiv der Schadenfreude entspringt, nicht sonderlich schämen, schließlich wird man vom Autor dazu eingeladen, ist das Buch doch alles andere als eine Jeremiade. Es gibt zwar melancholische Untertöne, aber Sedaris versteckt sie mit erfreulicher Selbstdistanz hinter Satire und Humor. Der Autor hat inzwischen aus dem Hang zum Mißgeschick und zum Hineinschliddern in skurrile Situationen eine Waffe gemacht, indem er fiktive Menschen in solches Gelände vorschickt oder ihnen selbst mutwillig und für begrenzte Zeit auf abseitiges Terrain nachfolgt und dann darüber berichtet, über seine Erfahrungen als Kaufhaus-Elfe in der Vorweihnacht oder, wie in der titelgebenden Geschichte "Nackt", über eine textilfreie Woche im Nudistencamp. Das ist ein schwächeres Stück - Leben ist wohl doch lebendiger als lebendiger Journalismus. Und von diesem richtigen falschen Leben gibt es in den sechzehn anderen Geschichten, die man wahlweise einzeln oder als Teil eines autobiographischen Flickenteppichs lesen kann, wirklich reichlich. BURKHARD SCHERER

David Sedaris: "Nackt". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Harry Rowohlt. Haffmans Verlag, Zürich 1999. 351 S., geb., 39,- DM.

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"In den siebzehn autobiographischen Geschichten, aus denen "Nackt" besteht, erzählt Sedaris von seiner Kindheit in Raleigh, North Carolina, von seiner Betätigung als halbwüchsiger Tramper, Apfelpflücker, Möchtegern-Schauspieler, Nudist und so weiter und stellt uns jede Menge Nebendarsteller vor, die allesamt einem Albtraum von Flannery O' Connor entsprungen zu sein scheinen - sie sind exzentrisch, kaputt, pervers, faul, neurotisch, lächerlich und schlicht unvergeßlich..." (Raleigh News Observer)